Interview | Asylrechtsexperte Daniel Thym - Abschiebungen nach Afghanistan: "Bei gut vorbereiteten Einzelfällen gibt es Spielraum"
Seit dem Polizistenmord von Mannheim diskutiert die Politik über die Abschiebung von Schwerstkriminellen auch nach Syrien und Afghanistan. Der Asylrechtsexperte Professor Daniel Thym von der Universität Konstanz ordnet ein, was rechtlich möglich ist.
rbb|24: Herr Thym, wir hören gerade von Politikern oft das Argument, das Sicherheitsinteresse Deutschlands wiege schwerer als das Schutzinteresse von straffällig gewordenen Geflüchteten. Ist das rechtlich haltbar?
Daniel Thym: Bei der Frage, ob jemand abgeschoben werden darf oder nicht, kommt es gar nicht darauf an, was die Person in Deutschland gemacht hat. Entscheidend ist, wie die Person im Herkunftsland behandelt wird. Das entscheidet darüber, ob eine Abschiebung stattfinden darf oder nicht.
Was ist rechtlich überhaupt möglich und was nicht?
Nicht möglich ist, Leute abzuschieben, bei denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellt hat, dass sie verfolgt werden und die einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus haben. Da reden wir etwa über Frauen, die von den Taliban drangsaliert werden oder auch kritische Journalisten, die in Afghanistan gefoltert würden. Diese Menschen kann man unter keinen Umständen abschieben, das sagen die Gerichte seit Jahrzehnten. Und die Politik würde sich die Zähne ausbeißen, wenn sie versuchte, das zu ändern.
Allerdings hat nur ein Teil der Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien nach Deutschland gekommen sind, diesen Flüchtlingsstatus. Heißt das, bei anderen wäre eine Abschiebung möglich?
Da ist es unter Umständen möglich. Bei Afghanen zum Beispiel ist die Verteilung ungefähr 50:50. Die Hälfte gilt als verfolgt, da scheidet eine Abschiebung aus. Für die andere Hälfte gibt es ein Abschiebeverbot, weil die Gerichte bisher davon ausgehen, dass die Lebensbedingungen in ihrem Heimatland so schlecht sind, dass man auch Menschen, die keine Oppositionellen sind oder alleinstehende junge Männer nicht dorthin abschieben darf, weil sie im Heimatland mit Hunger und katastrophalen humanitären Verhältnissen konfrontiert wären. Und bei dieser Gruppe besteht Spielraum.
Wie genau würde dieser Spielraum aussehen?
Die Situation in Afghanistan und Syrien hat sich verbessert, und da kann die Politik versuchen, gut vorbereitete Einzelfälle vor den Gerichten auszufechten. Man müsste die Gerichte davon überzeugen, dass die Lebensbedingungen vor allem für junge, alleinstehende, gesunde Männer so sind, dass sie dort keinen Hunger leiden müssen. Man müsste dann noch gewisse Leistungen hinbekommen, dass die Menschen vor Ort unterstützt werden. Dann hat man die Chance, dass die Gerichte die Abschiebung akzeptieren - immer vorausgesetzt, diese konkrete Person wird von den Taliban nicht verfolgt.
Sie sprechen von Unterstützungsleistungen. Heißt das, Deutschland müsste beispielsweise dem mutmaßlichen Täter von Mannheim noch Geld in die Hand geben, wenn er nach Afghanistan abgeschoben wird?
So verrückt das ist, das müsste man wahrscheinlich machen. Denn die Gerichte - ob es einem gefällt oder nicht - sagen, dass die Lebensbedingungen in Afghanistan so schlecht sind, dass man es Menschen nicht zumuten kann, ohne Weiteres dahin zurückzugehen. Das heißt, man müsste ihm dann ein bisschen Startkapital geben, gegebenenfalls über Internet-Zahldienste.
Aktuell schätzt das Auswärtige Amt die Lage in Afghanistan und Syrien allerdings nicht als sicher ein. Aus der Politik kommt nun der Ruf, dies neu zu bewerten. Darüber hinaus: Welche Gesetze müssten geändert werden, um Straftäter abschieben zu können?
An Gesetze muss man gar nicht ran. Man muss einfach die bestehenden Gesetze in der Auslegung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg und auch durch die Gerichte in eine Richtung drängen, die man gerne hätte. Zum Beispiel müsste man konkret auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einwirken, gut vorbereitete Einzelfälle vor die Gerichte zu bringen. Jetzt kann vor allem die Landespolitik dem Bundesamt keine Anweisungen geben, aber eine öffentliche Debatte führt natürlich dazu, dass dort bei Einzelfällen mit einem neuen Blick hingeschaut wird.
In der Vorlage zum Thema Abschiebungen für die Innenministerkonferenz werden aber doch Gesetzesänderungen gefordert?
Hier geht es um die Frage, welche Aufenthaltserlaubnis die Menschen in Deutschland haben. Daran will die Innenministerkonferenz drehen. Das heißt aber noch nicht, dass man die Menschen dann automatisch abschieben darf. Das ist Symbolgesetzgebung, das macht die Politik immer. Sie wollen Aktivität zeigen und dann ändern sie die Gesetze. Aber es ist nicht der entscheidende Punkt.
Was ist Ihre Prognose: Wird sich an der Abschiebepraxis nach Afghanistan und Syrien schnell etwas ändern?
Es würde mich nicht wundern, wenn die Politik jetzt gezielt Ressourcen einsetzt, um vor Gericht Einzelfälle, bei denen es um die Abschiebung von Straftätern geht, bis zum Ende durchzufechten. Wenn diese Einzelfälle gut vorbereitet sind, besteht die Chance, dass man die Gerichte überzeugen kann.
Ihre Betonung liegt auf "Einzelfälle"?
Ja, denn die rechtlichen Anforderungen sind kompliziert. Wir reden nicht über Massenabschiebungen.
Herr Thym, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Müller, rbb-Landespolitik Berlin.
Sendung: rbb24 Abendschau, 19.06.2024, 19:30 Uhr