Bilanz | Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus - Operation gelungen, Patient tot
Als die 15 Abgeordneten der Piraten 2011 völlig überraschend ins Berliner Landesparlament gewählt wurden, wollten sie vor allem eines: nicht so werden wie die Etablierten. Das wurden sie auch nicht. Aber gerade darum ist die Partei heute am Ende. Von Christoph Reinhardt
Als die 15 Piraten am Tag nach der Wahl vor die Presse treten, strahlt ein glücklicher Christopher Lauer. Alles, was die Piraten künftig im Parlament täten, werde öffentlich sein, verspricht er. Um den Bürgern einen Blick hinter die Kulissen des Parlamentarismus zu ermöglichen und den eigenen Lernprozess zu dokumentieren.
Schon in der ersten Fraktionssitzung fällt den Piraten ihre eigene Transparenz auf die Füße. Vor einem Dutzend Kameras streitet die Fraktion, ob man über die Doppel-Bewerbung von Christopher Lauer und Andreas Baum als Fraktionsvorsitzende überhaupt abstimmen soll. Die Wahl wird vertagt – und die Piraten haben ihren Ruf weg: offen und ehrlich, aber zerstritten bis zur Handlungsunfähigkeit.
Es dauert Monate, bis die Fraktion doch noch arbeitsfähig wird. Martin Delius nimmt unauffällig als parlamentarischer Geschäftsführer die Zügel in die Hand und baut eine professionelle Geschäftsstelle auf. Auch inhaltlich kommen die Piraten aus den Startlöchern. Der Hacker Alexander Morlang prangert im Parlament den so genannten Schultrojaner an – der Senat lässt daraufhin die Pläne fallen, auf jedem zehnten Schulrechner Schnüffelsoftware gegen Raubkopien zu installieren.
Christopher Lauer schießt sich auf die Überwachungsmethoden "Funkzellenabfrage" und "Stille SMS" ein. Und der zurückhaltende Mathematiker Simon Weiß spezialisiert sich auf Anfragen nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz. Auch weil die Piraten bundesweit in den Meinungsumfragen immer weiter nach oben gehen, können die Altparteien ihre Themen nicht einfach aussitzen. Den Ausschuss für Digitale Verwaltung und Datenschutz darf ein Pirat leiten, und die Sitzungen werden live ins Internet gestreamt.
Die meisten Fraktions-Projekte kommen nicht voran
Im Jahr 2012 läuft es im Parlament zwar von Monat zu Monat besser, dafür geht es in der Landespartei immer schlechter. Der mediale Boom um die erste Piratenfraktion hat der Partei einen enormen Mitgliederzuwachs verschafft, für die es keine Strukturen gibt. Der langjährige Vorsitzende Anger gibt frustriert auf. Sein Nachfolger verheddert sich in unglücklichen Äußerungen zum Umgang der Piraten mit Nazis und muss nach nur drei Monaten abtreten. Fraktion und Partei entwickeln sich auseinander. "Berufspolitiker", das ist für weite Teile der Basis ein Schimpfwort. Vor allem die Leistungsträger der Fraktion finden ihre Arbeit nicht angemessen gewürdigt. Und die Basis motzt regelmäßig via Twitter über die Auftritte ihrer prominenten Funktionäre in Talkshows und im Parlament.
Als 2013 der Bundestagswahlkampf verloren geht, ist auch die Berliner Fraktion in der Krise. Christopher Lauer tritt nach einem Jahr als Fraktionsvorsitzender nicht mehr an, weil er sich von Fraktionsmitgliedern gemobbt fühlt. Martin Delius hat sich zwar inzwischen als Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschuss' überparteiliche Anerkennung verschafft und steht glänzend da, aber andere Fraktions-Projekte kommen nicht voran.
Fast die Hälfte der Fraktion tritt aus der Partei aus
Das lange versprochene Konzept für einen fahrscheinlosen Nahverkehr kommt nicht rechtzeitig in die Spur - Linke und Grüne greifen das Thema ebenfalls auf, als exklusiver Inhalt geht es den Piraten verloren. Beim bedingungslosen Grundeinkommen, ebenfalls ein Alleinstellungsmerkmal im Erfolgsjahr 2011, tut sich nichts. Und die Meinungsbildungssoftware "Liquid Feedback", mit der die Piraten die Probleme der Basisdemokratie technisch lösen wollten, wird zum Zankapfel. Statt die Demokratie auf ein neues Niveau zu heben, wird "Liquid Feedback" in Berlin sogar einfach abgeschaltet.
"Themen statt Köpfe" wollten die Piraten – und beweisen ausgerechnet mit ihren Erfolgsprojekten, dass das Gegenteil richtig ist. Respekt bekommt die Fraktion, wenn einzelne die Sache in die Hand nehmen. Fabio Reinhardt als Flüchtlingspolitiker, Martin Delius und der BER, Christopher Lauer als innenpolitischer Lautsprecher – so lange sie ihre Sache gut machen, ist alles schön. Wenn sich niemand persönlich kümmert, bleibt die Sache liegen. Oder scheitert an individuellen Fehlern.
Ein Bild sagt alles über den Zustand der @15piraten aus. Ist ja zum Glück bald vorbei. pic.twitter.com/D250HOS86b
— [[[Heiko Herberg]]] (@heikoherberg) 15. Juni 2016
2014 versucht Christopher Lauer noch einmal, den inzwischen im Sinkflug befindlichen Landesverband als Vorsitzender an den pragmatischen Kurs der Fraktionsmehrheit heranzuführen – und scheitert nach einem halben Jahr, weil er im Vorstand dafür keinen Rückhalt hat. Nach einem Eklat auf dem Bundesparteitag tritt er als Landesvorsitzender zurück und aus der Partei aus, ebenso wie sein Fraktionskollege Oliver Höfinghoff. Beide dürfen als Parteilose in der Fraktion bleiben, aber der Zerfallsprozess der 15-köpfigen Piratenfraktion geht weiter.
Fast die Hälfte der Fraktion tritt nach und nach aus der Partei aus. Besonders kurios: selbst als Martin Delius öffentlich erklärt, ab sofort die konkurrierende Linkspartei zu unterstützen, darf er als Fraktionsvorsitzender weiter die Piraten anführen.