Zum Ende des Sportevents in Berlin - Was die Special Olympics bewirkt haben – und was nicht
Die am Sonntag zu Ende gehenden Special Olympics World Games sollten etwas in Bewegung setzen beim Thema Inklusion. Über die Frage, was die abgelaufenen neun Tage in den Köpfen verändert haben. Und was man von einer Sportveranstaltung erwarten darf. Von Shea Westhoff
So plötzlich, wie das riesige Raumschiff vergangene Woche in Berlin landete, so plötzlich entschwebt es der Hauptstadt wieder. Ein Megaevent war es: Über einen Zeitraum von neun Tagen traten verteilt über acht Sportstätten 6.500 Athleten aus aller Welt zu Wettbewerben an. Unterstützt wurden sie von 18.000 freiwilligen Helfern bei einer Veranstaltung, die von einer beispiellosen Medienallianz bestehend aus zahlreichen TV-Sendern abgebildet wurde, darunter der rbb.
"Die Medien müssen am Ball bleiben"
Dieses Raumschiff, das waren die Special Olympics World Games, eine Sport-Großveranstaltung mit und für geistig beeinträchtigte Athleten, denen in diesen Tagen endlich mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte.
Was wird bleiben, wenn das Raumschiff fortgeflogen ist?
"Es kommt jetzt darauf an, dass das Ganze nicht im Nirwana verschwindet", sagt Norma Rettich am anderen Ende der Leitung. "Dass die Medien am Ball bleiben, dass seitens der Politik Veränderungen auf den Weg gebracht werden, damit zum Beispiel ein breiteres Spektrum an Sport- und Fitnessangeboten bereitgestellt werden kann."
Die 59 Jahre alte Potsdamerin trainierte die deutsche Hockey-Auswahl bei den Special Olympics, darunter ihren Sohn Kevin Waskowsky. Rettich war es, die vor fünf Jahren gemeinsam mit Gleichgesinnten so etwas wie eine Hockeyvereins-Infrastruktur für Menschen mit geistiger Behinderung in der Region überhaupt erst zu etablieren begann, angefangen mit dem "Specialhockey Team Berlin-Brandenburg". Vorher gab es außer vereinzelten Initiativen in Schulen in ganz Berlin-Brandenburg keinen einzigen Hockeyklub für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.
Die Eröffnungszeremonie war ein Volltreffer
Der Mangel an Sportangeboten dürfte einer der Gründe dafür sein, warum in Deutschland nur einer von zehn Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen Mitglied in einem Sportverein ist.
Auch darum ging es bei den Special Olympics: eine Werbeplattform für den inklusiven Sport zu sein, damit noch mehr Beeinträchtigte auf Angebote aufmerksam werden und andererseits Sportvereine für diese sensibilisiert werden.
Bei der Eröffnungsveranstaltung schien diese Rechnung perfekt aufzugehen. Vor den Augen von 50.000 Zuschauern im Olympiastadion sowie einem beachtlichen Marktanteil von 14 Prozent vor den TV-Geräten gelang den Veranstaltern eine gleichsam schillernde wie grundsympathische Startzeremonie.
Ergreifende Geschichten
Auch ein vermeintlicher Störfall erwies sich dort als rührender Moment: Als ein syrischer Athlet während einer Ansprache auf Special-Olympics-Chef Timothy Shriver zustürmte, um diesen zu umarmen und auf die Wange zu küssen, ließen er und die Securities es zu – was dem Weltpublikum ein weiterer Beweis dafür war, dass es sich bei diesem Event um ein herzliches, erwärmendes, inklusives Zusammentreffen unterschiedlichster Menschen handelte, im Gegensatz zu den meisten anderen antiseptischen Glamour-Sportevents.
In den nächsten Tagen reihten sich an diese besondere Szene zahlreiche weitere ergreifende Geschichten einzelner Athleten, denen der Sport hilft, Anerkennung und mehr Teilhabe zu erlangen.
Bekannte ehemalige Profisportler, dazu hohe politische Würdenträger wie Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz und Spitzenpolitiker aus dem Berliner Senat hoben in Interviews, Reden und Pressekonferenzen die Bedeutung der Spiele hervor. Feierlich wurden Begriffe wie "Inklusion", "Teilhabe" und "Voneinander lernen" wie bunte Feuerwerkskörper in den Himmel geschossen.
Weiterhin Berührungsängste
Norma Rettich bezeichnet sich als "jemanden, der macht, anstatt zu reden". Entsprechend organisiert die Trainerin mittlerweile auch gemeinsame Trainingseinheiten ihres Special-Teams mit gewöhnlichen Hockeymannschaften in Brandenburg und Berlin. "Das baue ich gerade auf. Das finde ich viel inklusiver als alles andere", sagt sie.
Die Atmosphäre bei den Special Olympics habe auch sie als einzigartig, als "überwältigend" erlebt. Ein Kontrastprogramm zu den Berührungsängsten, die Rettich beim Thema Behinderung nach wie vor im Alltag beobachte, so auch am Rande der Spiele: etwa, als Leute in der Bahn ihre Sitzplätze für die Athleten räumten. Vielleicht, weil diese nach dem Sport tatsächlich ausgelaugt wirkten. Aber wahrscheinlich auch, so vermutet Rettich, weil die Bahnreisenden nicht neben ihnen sitzen wollten. "Bei Menschen mit geistiger Behinderung kommt es schnell vor, dass sie sehr emotional sind, egal in welche Richtung. Vor dieser direkten Konfrontation haben viele Menschen Angst."
Ob die zur Neige gehenden Sportspiele dazu beitragen konnten, dass solche Berührungsängste abgebaut werden und stattdessen eine neue Selbstverständlichkeit in den Begegnungen aufkeimt?
Was darf man alles von einem Sportevent erwarten?
Etwas verkrampft
Teilweise wirkte die Veranstaltung überfrachtet vom guten Willen, sodass ihr etwas Verkrampftes anhaftete, auch das gehört zur Wahrheit. So herrschte bei den sportlichen Meetings die Sprachregel, es handele sich um "Wettbewerbe" statt um "Wettkämpfe" – obwohl den meisten Zuschauern natürlich genau das letztere Wort auf der Zunge gelegen haben dürfte.
Grund für die sprachliche "Umwattung" war der Gedanke, dass hier niemand als Verlierer vom Platz gehen soll, und dass Sport mehr ist als Competition. Daraus resultierend wurde auch kein Medaillenspiegel veröffentlicht, obwohl so eine Tabelle einer Sportveranstaltung immer auch zusätzlichen Gesprächswert verleihen kann.
Dass ein Sportevent aber tatsächlich auch ohne das Zählen von Medaillen funktionieren kann, bewies die gute Laune auf den Rängen bei vielen Sportstätten. Im Hanns-Braun-Stadion, wo die Leichtathleten antraten, wurde bei den Rennen der erste Zieleinläufer genauso bejubelt wie der letzte.
Die einzelnen Ergebnisse würden ihn weniger interessieren, sagte etwa Zuschauer Guntram Niederste-Hollenberg. Im Fernsehen habe der Rentner die Special Olympics verfolgt und die Stimmung habe ihm so gefallen, dass er sie live miterleben wollte: "Ich bin hier fürs Gefühl."
Was kann ein Event anschieben?
Welche Sportevents hatten die Kraft, über sich selbst hinauszuweisen und einen Unterschied in der Gesellschaft zu bewirken? Woodstock, das Sommermärchen - und jetzt die Special Olympics?
Eine zufällige Begegnung mit Sebastian Stuart in der Ringbahn. Für den Ruderer war der Traum von einer Teilnahme an den Special Olympics im Vorfeld geplatzt, doch der Berliner hat es trotzdem zur Veranstaltung geschafft: als Reporter für die ARD.
Seine Vereinslaufbahn steht auch dafür, wie viel der deutsche Sport beim Thema Inklusion aufzuholen hat: Stuart musste lange nach einem Ruderverein suchen, der auch Sportler mit Handicap unterstützt. Bei seinem ursprünglichen Verein im Süden Berlins habe er sich "nicht mehr willkommen gefühlt", wie er sagt. Fündig wurde er in Grünau – von seiner Heimat Zehlendorf eine ganz schöne Strecke. Stuart hofft auch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen auf noch mehr Willen zur Inklusion bei Sportklubs.
Frage an Stuart: Was wird bleiben von den Special Olympics in Berlin? Seine Antwort klingt mehr wie ein Auftrag, einfach und logisch: "Jeder einzelne, der daran teilgenommen hat oder damit zu hatte, soll den Gedanken der Inklusion weitertragen."
Sendung: rbb24, 25.06.2023, 20:15 Uhr