Interview zum Zustand der Bahn - "Wir sitzen in der Tinte und da wird auch keine Strukturreform kurzfristig helfen"
Nach einem Bericht der Monopolkommission wird erneut eine Zerschlagung des Bahn-Konzerns diskutiert. Ein Berliner Experte für Verkehrswesen erklärt, wieso das alleine die Probleme der Bahn nicht lösen würde.
rbb|24: Herr Böttger, die Monopolkommission, ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung, schlägt vor, den Bahn-Konzern radikal umzubauen: Er soll zerlegt werden [tagesschau.de], in ein Unternehmen für die Infrastruktur und eines für den Bahnverkehr. Was halten Sie davon?
Christian Böttger: Ich halte das für richtig. Das war ja in der ursprünglichen Bahnreform von 1994 schon mal angelegt und wurde dann nicht umgesetzt. Sie wird nicht alle Probleme lösen, schon gar nicht die, die sich jetzt über Jahre angestaut haben, aber grundsätzlich halte ich es für das richtige.
Da könnte man jetzt aber zu der süffisanten Einschätzung kommen, die Politik hätte 30 Jahre verloren, wenn der gleiche Plan schon 1994 auf dem Tisch lag.
Naja, also die Trennung ist auch kein Zaubermittel. Es ist nicht so, dass man eine Bahn nur getrennt organisieren kann und es immer schlecht wäre, wenn man den integrierten Konzern erhält. Ja, man hat meiner Überzeugung nach 30 Jahre schlechte Bahnpolitik gemacht in Deutschland, aber das Thema Organisation ist nur eines davon. Man hat auch bei der Steuerung des Konzerns als ganzem versagt, die Politik hat beim Thema Infrastruktur weggeschaut oder nicht hinhören wollen, das DB-Management hat es sich gefallen lassen und sich auf andere Sachen konzentriert. Das sind ganz viele Gründe und ich warne davor, es nur auf die Frage dieser Trennung zu fokussieren. Die Trennung ist ein Punkt, der dazu beitragen könnte, die Bahn besser zu machen. Es ist in der aktuellen Lage aber nicht die oberste Priorität und das hat die Monopolkommission so ja auch geschrieben.
Was sie auch geschrieben hat, ist, dass durch eine unabhängige Infrastruktursparte endlich notwendige Veränderungen am Schienennetz vorgenommen werden könnten. Ist das Netz das Hauptproblem?
Ja. Das kann man sicherlich sagen und das würde jeder, egal ob Befürworter oder Gegner einer Trennung, auch sagen. Das Problem ist das Netz. Man hat die Infrastruktur seit 25 Jahren schlecht gemanagt, man hat zugelassen, dass sie verfallen ist, man hat sie überlastet, wir fahren heute auf dem bestehenden Netz zu viele Züge. Das Netz kann das eigentlich nicht mehr und darunter leidet die Qualität.
Das, was noch da ist vom Schienennetz, hat sogar die Bahn selbst in einem Netzzustandsbericht vor kurzem als "alt" und "störanfällig" bezeichnet. Wie konnte das denn soweit kommen, immerhin hat sie es in Person der DB Netz doch selbst verwaltet?
Dieser Netzzustandsbericht, der war eigentlich ein Skandal. Es gibt seit 15 Jahren einen Infrastrukturzustandsbericht, der vertraglich zwischen der Deutschen Bahn und dem Bund vereinbart ist. Die Deutsche Bahn legt ihn jährlich vor, das Eisenbahnbundesamt prüft ihn und veröffentlicht einen Prüfbericht. 15 Jahre lang hat die Bahn dabei behauptet, der Netzzustand sei großartig und 15 Jahre lang hat das Eisenbahnbundesamt, das dem Bundesverkehrsministerium untersteht, das bestätigt. Und jetzt auf einmal sagen alle: Da haben wir wohl doch nicht so genau hin geguckt, der Zustand des Netzes ist ganz furchtbar. Politik und Medien nehmen das jetzt einfach so hin, dass offenbar die ganze Zeit lang dieser Zustand verschleiert wurde. Es hat nicht an Warnungen gefehlt, beispielsweise durch den Bundesrechnungshof. Die Bahn hat den Zustand vertuscht und die Politik hat weggeguckt.
Aber wie soll das jetzt ein unabhängiges Infrastrukturunternehmen schnell besser hinkriegen – ist das überhaupt noch realistisch?
Der schlimme Zustand des Netzes wird auf Jahre belasten, unabhängig von der rechtlichen Struktur. Der Bund hat aber - das muss man der neuen Bundesregierung zugestehen, angekündigt, dass mehr Geld bereitgestellt werden soll. Jetzt müssen wir mal schauen, wie viel Geld am Ende ankommt, aber die Ankündigung ist zumindest da. Das bedeutet aber auch erstmal: Bauarbeiten, egal in welcher Struktur. Es gibt Klagen, dass das heutige DB-Management nicht besonders schnell baut, ich bin da etwas vorsichtig, das lässt sich von außen schwer beurteilen. An dem Punkt müssen wir jetzt erstmal sagen: Da sitzen wir in der Tinte und es wird auch keine Strukturreform kurzfristig helfen.
Die Bahn hat im vergangenen Jahr einen Verspätungsrekord im Fernverkehr aufgestellt: Nur 65 Prozent der Züge kamen pünktlich an. Können Sie abschätzen, wie oft an solchen Verspätungen das Netz und wie oft andere Faktoren Schuld sind?
Es gibt Daten, die sagen: Es ist ungefähr 50:50. Wir haben neben dem Netz auch noch den Zustand der Fahrzeuge, wir haben Personalmangel - in den Werkstätten, bei den Lokführern, in den Stellwerken und in anderen Berufen. Aber das Netz ist eben ungefähr für die Hälfte der Verspätungen verantwortlich.
Dann schauen wir mal auf die anderen fünfzig Prozent: Wie groß ist da Ihre Hoffnung, dass durch eine Zerschlagung des Bahn-Konzerns und den daraus entstehenden Wettbewerbsdruck Verbesserungen herbeigeführt würden?
Also, ich will das nochmal etwas überspitzt formulieren: Heute haben wir eine Marktstruktur, die so ist, als würde die Autobahn Volkswagen oder einem anderen Automobilkonzern gehören und die könnten dann bestimmen, wer darauf fahren dürfte. Der Vergleich hinkt zwar etwas, aber stellen Sie sich das mal vor.
Zudem gibt es noch die Regel, dass das Netz Gewinne erwirtschaften muss. Das Netz hat einen Anspruch auf relativ üppige Gewinne und darf entsprechend hohe Nutzungsgebühren verlangen. Diese Regel stammt noch aus der Zeit, als man von einem Börsengang träumte und sie ist immer noch in der Eisenbahnregulierung festgelegt. Daran könnte sich etwas ändern.
Eine Trennung könnte außerdem einen Einfluss auf das Vertrauensverhältnis mit neuen Anbietern haben, die in den Markt kommen. Da ist das Vertrauen momentan nicht besonders ausgeprägt, dass sie fair behandelt werden. Die Bundesnetzagentur soll zwar eigentlich überwachen, dass alle einen fairen Netzzugang bekommen, aber es geht nicht nur darum, wie es ist, sondern auch darum, ob jemand daran glaubt, dass die Regeln fair umgesetzt werden. Beispielsweise haftet die DB Netz bisher nicht für die von ihr verursachten Verspätungen. Die Betreiber von Zügen, die das Netz nutzen, müssen an den Staat Strafen zahlen, wenn sie nicht pünktlich fahren. Solche Dinge müssten geändert werden.
Ist denn ein diverser Markt, mit vielen verschiedenen Anbietern, überhaupt noch denkbar? Oder ist die Marktmacht der Bahn auch mit einer Zerspaltung schon zu groß? Schließlich wäre die Bahn ja trotzdem noch ein riesiger Anbieter mit vielen Zügen und viel Personal …
Da könnte man sich alles mögliche vorstellen. Im Güterverkehr hat beispielsweise DB Cargo nur noch einen Marktanteil von 40 Prozent. Sie sind damit zwar immer noch der größte Anbieter, aber mit weniger als 50 Prozent Marktmacht. Man könnte den Wettbewerb auch nach dem Beispiel anderer Länder beschleunigen. Man könnte regeln, dass die DB ihre Fahrzeuge über eine Leasing-Gesellschaft auch Dritten zur Verfügung stellen muss. So hat man in England quasi über Nacht 100 Prozent Wettbewerb geschaffen. Es gibt da viele Möglichkeiten, die Frage ist nur, wie radikal man das machen will.
Hat das denn dann vor allem Vor- oder auch viele Nachteile für die Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer?
Gerade über das Beispiel Großbritannien wird ja auch immer intensiv diskutiert. Natürlich hat so etwas auch Nachteile, im Großen und Ganzen muss man aber sagen, dass Großbritannien ein Erfolg war, auch wenn wir da jetzt hundert Fußnoten dazu machen könnten. Die Fahrgastzahlen sind massiv gestiegen nach der Privatisierung und nachdem ein Wettbewerb im Fernverkehr eingeführt wurde. Natürlich muss man diesen Wettbewerb managen und zum Beispiel für Umsteigeverbindungen sorgen. Da geht es nicht nur um eine Entscheidung, sondern man muss einen Kranz an Regeln drum herum bauen. Es ist etwas komplizierter, aber ich denke, dass man damit eine deutlich effizientere Struktur hinbekommen kann. Und man sieht, dass überall dort, wo es einen Wettbewerb gibt, die Fahrgastzahlen steigen.
Könnten sich Bundesländer wie Brandenburg, in denen besonders viel am Netz gespart und kleinere Streckenabschnitte eingestellt wurden, Hoffnungen machen, dass das Netz dort wieder verstärkt aufgebaut wird?
Also das glaube ich jetzt nicht. Ich sehe das auch nicht als ein Kernproblem. Man muss fairerweise sagen, dass die Strecken die stillgelegt wurden, welche sind, wo einfach fast keiner mehr gefahren ist. Wir haben eben Bahnstrecken, die einen ungünstigen Routenverlauf haben oder ungünstig zu den Ortskernen liegen. Eine Bahnstrecke, die nicht genutzt wird, ergibt weder ökologisch noch ökonomisch einen Sinn. An der Stelle würde ich also wenig Hoffnung machen, dass eine neue Struktur hilft. Da geht es dann eher darum, ob wir als Staat, als Gesellschaft mehr Geld investieren wollen, um neue Strecken zu bauen und damit neue Angebote zu schaffen. Der Wettbewerb kann das nicht regeln.
Gestatten Sie abschließend noch zwei persönliche Fragen: Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit der Bahn. Ist es nicht frustrierend dabei die gleichen Probleme wie seit den 1990er Jahren zu analysieren und zu sehen, dass sich trotzdem so wenig tut?
Ja, das ist es manchmal, aber so ist es eben. Der stete Tropfen höhlt den Stein.
Haben Sie denn noch Hoffnung, dass sich das zeitnah verbessert?
Ich bin Optimist und hoffe immer darauf. Momentan haben wir immerhin mal ein bisschen mehr Erkenntnis, deshalb bin ich mal wieder optimistisch, dass sich etwas verändern könnte.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Simon Wenzel
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.07.2023, 18 Uhr