Museen und ihr koloniales Erbe - Die Überwindung der Berlinisation

In einigen Ländern Afrikas nennt man die Aufteilung des Kontinents in Kolonien schlicht Berlinisation. Könnten heute von Berlin Impulse für einen neuen Umgang miteinander ausgehen? Zwei Meinungen aus Daressalam und dem Bezirk Mitte. Von Oliver Noffke
Um all seine Bilder zu transportieren, braucht Douglas Kahabuka einen Rucksack und zwei große Sporttaschen. Mehrere schwere Mappen sind darin. Hunderte Bilder hat er mit in ein schickes Hotel in Daressalam gebracht. Nun verteilt er sie auf dem Boden des Speisesaals. Eine Kellnerin hebt die Augenbrauen, ihre Kollegen beginnen umgehend Platz zu schaffen, schieben Stühle und Tische zur Seite. Kahabuka breitet seine ganze Karriere aus. Lange malte er Landschaften, den Kilimandscharo oder die Weiten der Serengeti, dann die Wildtiere Tansanias, eine Zeit lang malte er abstrakt. Immer wieder hält er inne und freut sich wie ein Vater, der Fotos seiner Kinder dabei hat. Seine Augen leuchten, dann blättert er weiter.
Als er eine recht schmale Mappe öffnet, ändert sich seine Laune. Es sind die Motive, mit denen sich Kahabuka derzeit beschäftigt. Ihre Themen wühlen ihn auf. Seine Stimme wird lauter, manchmal bebt Wut in ihr. Sie zeigen das Leben der Afrikaner während der Kolonialzeit in Deutsch-Ostafrika. "Dieses hier war besonders schmerzhaft zu malen", sagt er über ein Bild, das Arbeiter auf einer Plantage für Sisal-Agaven zeigt. Aus ihren Fasern wurden Seile und Taue gearbeitet.
Als Anfang des 20. Jahrhunderts in der Kolonie Deutsch-Ostafrika Steuern eingeführt worden waren, waren große Teile der Bevölkerung plötzlich auf Lohnarbeit angewiesen. "Unsere Großmütter, unsere Großväter haben hart gearbeitet, damit sie die Steuern zahlen konnten", sagt Kahabuka. Die Zeiten in denen sich Dörfer oder Nomaden selbst versorgen konnten, waren vorbei. Für viele Traditionen blieb keine Zeit mehr. "Von früh bis spät haben sie gearbeitet. Frauen haben ihre Neugeborenen bei der Arbeit gestillt", sagt er. "Das alles, damit ein Produkt hergestellt werden konnte, mit dem anderswo unsere Chiefs erhängt wurden."
Die Perspektive der Nachfahren auf den Maji-Maji-Krieg
In anderen seiner Bilder ist der Horror, den die afrikanische Bevölkerung während der deutschen Kolonialzeit erlebt hat, offensichtlicher. In einem hängen Männer an einem Baum, am Boden liegen ihre Besitztümer in blutverschmierten Säcken, bereit zum Abtransport. Ein weiteres zeigt eine Schlacht im Maji-Maji-Krieg, der von 1905 bis 1907 im Süden der Kolonie tobte. Weitere Steuererhöhungen und Repressionen hatten den Unmut der Bevölkerung so weit geschürt, dass es zum Aufstand kam.
Eines der berühmtesten Bilder dieses Kriegs stammt vom deutschen Landschaftsmaler Friedrich Wilhelm Kuhnert. Er befand sich zu Beginn der Kämpfe auf einer deutschen Station im Zentrum des Landes. Von seinen Erlebnissen erzählt das Gemälde "Schlacht bei Mahenge". Darauf sind mehrere Dutzend Askari-Krieger zu sehen, afrikanische Söldner, die in anderen Ländern rekrutiert wurden. Schutzsuchend knien sie hinter Steinen oder liegen im gelben Gras. In ihrer Mitte steht ein deutscher Offizier als einziger aufrecht. Mutig zeigt er in die Richtung der Maji-Maji-Krieger, deren Speere ihn nicht einmal annähernd erreichen. Die Angreifer selbst sind kaum als Menschen auszumachen. Sie sind nicht mehr als dunkle Punkte in der Ferne.
Das Bild von Douglas Kahabuka kehrt die Perspektive um. Bei ihm treffen beide Seiten direkt aufeinander. "Es waren Kämpfe des Widerstands", sagt er. Die Deutschen reiten auf Pferden neben ihren Söldnern her. Gewehrkugel durchschlagen Holzschilde, Tote liegen auf beiden Seiten im Gras. "Die Deutschen waren davon ausgegangen, den Krieg innerhalb eines Jahres zu beenden", sagt er. "Als die Kämpfe jedoch zweieinhalb Jahre andauerten, sagten sie: Schluss jetzt, wir beenden das."
1907 begannen die Kolonialtruppen Felder und Dörfer in Brand zu setzen. Zehntausende Afrikaner starben auf den Schlachtfeldern des Maji-Maji-Kriegs, Hunderttausende verhungerten in der Zeit darauf. Schätzungen gehen davon aus, dass 300.000 Afrikaner ums Leben kamen, während auf Seiten der Kolonialherren etwas mehr als 400 starben, darunter viele Askari-Krieger.

"Wir wollen eine Bühne haben"
Ähnlich wie Douglas Kahabuka versucht auch Oumar Diallo eine andere Perspektive zu eröffnen. Die der Afrodeutschen. Von Menschen, die als Migranten hierher gekommen sind, den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, oder derer, die hier geboren sind. Der 64-Jährige kam in Conakry zur Welt, der Hauptstadt des westafrikanischen Staats Guinea. Doch die Stadt, die sein Leben auf mehr als eine Weise geprägt hat, ist Berlin. Das erste Mal hörte er von ihr als Schulkind. Im Unterricht war von der Berlinisation die Rede – der Aufteilung des afrikanischen Kontinents, deren Regeln während der Berliner Kongo-Konferenz festgelegt wurden.
Seit einigen Jahrzehnten lebt Diallo selbst in Berlin. Hier hat er erst eine Familie gegründet und später das Afrika-Haus Berlin mit anderen Afrikanern und deutschen Freunden. 27 Jahre ist das her. "Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir immer wieder gehört: 'Deutschland hat nichts mit Kolonialismus zu tun'; oder: 'Das war doch nur eine kurze Zeit, andere waren da viel schlimmer als die Deutschen'." Nichts davon ist wahr, sagt Diallo. Andererseits zeige es, dass das Thema lange verdrängt wurde. Mit einer Begegnungsstätte wollten sie an alten Vorurteilen rütteln.
Zwar habe es immer Einrichtungen gegeben, die gute Aufklärungsarbeit geleistet haben, sagt Diallo und nennt etwa das Haus der Kulturen der Welt. "Aber wir waren unzufrieden, denn es gibt nicht nur Wissenschaftler, es gibt auch Aktivisten, auch die afrikanische Diaspora muss vertreten sein", wenn es um das Thema Kolonialismus geht. Außerdem sei es wichtig, dass jeder das Thema versteht. Die Wissenschaft sei oft zu verkopft. "Wir wollten eine Bühne haben. Eine Bühne, die für die deutsch-afrikanische Freundschaft und Begegnung ist." In der Bochumer Straße in Mitte haben sie einen Platz für ihre Bühne aufgebaut.
Berlins vergessene Afrikaner
Diallo betont immer wieder, dass es im Afrika-Haus Berlin nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern um Spurensuche. Viele Orte, die in der Stadt etwas von der deutschen Kolonialvergangenheit erzählen könnten, sind verschwunden. Das Reichskanzlerpalais, in dem die Kongo-Konferenz stattfand, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ebenso wie das Gebäude, in dem sich bis 1919 das Reichskolonialamt befand. Überlebt haben lediglich Straßennamen, die einen kolonialen oder sogar rassistischen Hintergrund haben, den viele allerdings vergessen hätten, sagt Diallo.
In Vergessenheit ist auch das Leben der ersten Afrikaner in der Region geraten. Das Afrika-Haus Berlin widmet ihnen eine kleine Ausstellung. Da wäre etwa Gustav Sabec el Cher, der am 10. März 1868 in Berlin geboren wurde. Er war 22 Jahre beim preußischen Militär und schaffte es bis in den Rang eines Offiziers. Es gibt ein Porträt von ihm mit stattlichem Bart à la Bismarck. Oder Martin Dibobe, ein Kameruner der 1896 als Jugendlicher für die erste Afrikaschau nach Berlin kam. Der rassistischen Menschenschau kehrte er bald den Rücken zu. In Strausberg machte er eine Lehre zum Schlosser. Schließlich wurde er Zugführer bei der Berliner Hochbahn, der Vorgängerin der BVG. 1919 ging Dibobe zurück nach Kamerun, nachdem klar geworden war, dass Menschen aus den ehemaligen Kolonien in der Weimarer Republik nicht die gleichen Rechte erwarten konnten wie die Deutschen.

Seit der Gründung des Hauses habe sich bereits vieles getan, sagt Diallo. 1993 hätte er sich nicht erträumen können, dass die Aufarbeitung der Kolonialzeit mal in Koalitionsverträgen stehen könnte, so wie es die derzeitigen Regierungen im Bund und in Berlin vereinbart haben. "Es hat sich politisch schon was bewegt, aber es muss noch viel getan werden", sagt er. "Die Herausforderung für die moderne Gesellschaft ist, dass man endlich mal einen Weg finden muss, damit wir gemeinsam friedlich zusammenleben."
Der Adler mit dem Sack voll Menschenknochen
Für den tansanischen Maler Douglas Kahabuka hat dieser Weg auch etwas mit dem Umgang mit Raubgütern zu tun, die in deutschen Museen lagern. So sieht er etwa das Humboldt-Forum kritisch. Einerseits sagt er: "Ich glaube, es ist gut, dass Generationen junger Deutscher so von der Vergangenheit ihres Landes als Kolonialmacht erfahren." Andererseits befürchtet er, "dass wir diese Objekte nicht zu unseren Bürgern bringen können. Sollen die etwa für immer im Humboldt-Forum bleiben?"
Für das Projekt Humboldt-Lab Tanzania war Kahabuka einer von vier afrikanischen Künstlern, die sich mit Objekten auseinandersetzen sollte, die während der Kolonialzeit aus Deutsch-Ostafrika nach Berlin gebracht wurden. Möglicherweise werden seine Arbeiten auch Teil der Tansania-Ausstellung. Vielleicht wird sein Bild mit dem Adler zu sehen sein.
Das Wappentier des Deutschen Reichs schwebt darauf hoch über dem Kilimandscharo und bringt die Reichskriegsflagge zu dem Vulkankegel. Mit einem Sack voller Menschenknochen fliegt er zurück nach Berlin. "Ich habe es in der Hoffnung gemalt, dass ich irgendwann ein zweites dazustellen kann. Eines das zeigt, wie der Adler zurück zum Kilimandscharo kommt." Der Adler soll dann eine schwarz, rot, goldene Flagge tragen und Dinge mitbringen, die aus der ehemaligen Kolonie gestohlen wurden, sagt Douglas Kahabuka. "Ich warte darauf, dass ich dieses Bild malen kann."
Museen und ihr koloniales Erbe
Lesen Sie außerdem aus dieser Reihe:
Das Verbrechen, erschienen am 2. Februar 2020
"Wir müssen anfangen über Rückgabe zu sprechen", erschienen am 9. Februar 2020
Der Knochenberg, erschienen am 16. Februar 2020
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