Jüdisches Leben in der DDR - Der Schächter kam jede Woche aus Ungarn
Koscheres Fleisch und die Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Alten Synagoge in Potsdam, aber auch Hetze gegen Israel: Jüdische Menschen erlebten in der DDR ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Religion. Von Wolfgang Heidelk
Wie war eigentlich das Wetter in jenem November 1938? Was wurde im Kino gespielt, was gab es in der Oper? Als Irene Runge, Publizistin und Soziologin in der DDR, 1988 ihren Text "Pogromnacht 1938" verfasst, nähert sie sich dem Thema auf sehr persönliche Weise. In der Einleitung schreibt sie: "Ich will aus dem Abstand der Zeit und der Generation wissen, wie es in jenem November 1938 war. Ich lebe seit meiner Kindheit mit den Erinnerungen derer, die überlebt haben. Was in dieser Zeit in Deutschland alltäglich gewesen ist, wissen sie nicht. Sie waren schon weg: inhaftiert oder emigriert."
Irene Runge wurde 1942 in New York geboren als Tochter deutsch-jüdischer sozialistischer Emigranten. 1949 kommt die Familie zurück nach Deutschland – in die DDR. Runge wird Soziologin und macht sich einen Namen als Publizistin, unter anderem schreibt sie für die DDR-Wochenzeitung "Sonntag".
Man wollte das Image des Landes aufpolieren
Schon ein paar Jahre, bevor Runges Text über die Pogromnacht erschien, hatte sich die DDR bemüht, ihre Beziehungen zum Judentum und zu Israel auszubauen. Man wollte das Image des Landes aufpolieren und hoffte auf wirtschaftliche Hilfe aus den USA.
Auch deswegen wurde wohl im November 1988, genau einen Jahr vor dem Fall der Mauer, der 50. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 in Ostberlin auf besondere Weise begangen: mit Ausstellungen und Konzerten. Jüdische Gäste kamen aus den USA und aus Israel. Das war neu und ungewöhnlich damals. Am 10. November schließlich legte SED-Chef Erich Honecker den Grundstein für den Wiederaufbau der Synagoge in der Oranienburger Straße.
Die jüdischen Gemeinden in der DDR selbst litten damals unter einem Mitgliederschwund: Es waren nur noch knapp 400 Menschen, die meisten lebten in Ost-Berlin. Dennoch fanden in Berlin am Sabbat und an Feiertagen regelmäßige Gottesdienste statt. Zudem gab es staatliche Zuschüsse, etwa zur Instandhaltung der Synagoge oder zur Pflege des Friedhofs.
Juden in Ostberlin konnten zudem einmal wöchentlich in einem Spezialgeschäft koscheres Fleisch kaufen, zum Beispiel von Rindern, die nach den traditionellen jüdischen Speisegesetzen geschlachtet worden waren. Das sei angesichts der Versorgungslage in der DDR praktisch gewesen, erinnert sich Irene Runge. Der Schächter kam aus Ungarn, fuhr über Warschau, Berlin wieder zurück.
Antisemitische Schauprozesse fanden statt
Irene Runge berichtet, sie sei Ende der Sechzigerjahre erstmals in die Synagoge in Ostberlin gegangen. Heimisch fühlte sie sich dort nicht. Sie war aufgewachsen unter jüdischen Intellektuellen, Künstlern, Kulturschaffenden, politischen Denkern. In der Synagoge habe sie eher den kleinbürgerlichen Mittelstand getroffen.
Viele andere Juden aus der DDR waren allerdings bereits viel früher in den Westen geflüchtet, zu einer Zeit, als Irene Runge noch ein Kind war. Denn Anfang der Fünfzigerjahre hatte es in der Sowjetunion eine neue antisemitische Welle gegeben. Juden wurden als 'zionistische Verschwörer' beschimpft, antisemitische Schauprozesse fanden statt. Auch in der DDR galten jüdische Gemeinden pauschal als potenzielle Agentenzentralen westlicher Geheimdienste. Das änderte sich nach Stalins Tod 1953.
Karikaturen wie in der NS-Zeit
Was aber blieb: In der offiziellen Erinnerungskultur spielte der Holocaust keine große Rolle, weil sich die DDR vor allem auf den antifaschistischen Kampf berief. Etwas anders sah es im künstlerischen Bereich aus: der Film "Jakob der Lügner" (Regie: Frank Beyer) von 1974 über das Leben in einem polnischen Ghetto war der einzige für einen Auslands-Oscar nominierte DDR-Film.
Eine weitere jahrzehntelange Konstante in der DDR-Politik war ihre feindliche Haltung gegenüber Israel. Manchmal erschienen sogar in der Presse Karikaturen, die an die Darstellung von Juden während der Nazi-Zeit erinnerten, berichtet Irene Runge. Dies habe in den jüdischen Gemeinden für Empörung und Proteste gesorgt.
Irene Runge gründet Verein "Juden für Juden"
Weil sie sich selbst in einer jüdischen Gemeinde nicht wohl fühlt, gründet Irene Runge 1986 den Verein "Wir für uns – Juden für Juden". Mitglieder waren vor allem Intellektuelle, ehemalige Emigranten oder deren erwachsene Kinder – Menschen, die wie Runge selbst zumeist nicht religiös waren und nicht der jüdischen Gemeinde angehörten. Jüdisches Leben bewahren, jüdische Geschichte und Kultur der Öffentlichkeit vermitteln, das gehörte zu den Zielen. Aus diesem Verein entstand 1990 der "Jüdische Kulturverein Berlin e.V.". Er gibt wichtige Impulse für die Migration von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Für Irene Runge selbst wird der Verein zwei Jahrzehnte lang zur Lebensaufgabe.
Ein schöner Nachklang der Öffnungsbemühungen der DDR Honeckers: An der Oranienburger Straße in Berlin wird 1995 die wiederaufgebaute Synagoge eingeweiht, als Sitz des Centrum Judaicum. Schlusspunkt für das Projekt, das 1988 im Rahmen der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Pogromnacht gestartet war.