Vor einem Jahr getöteter Jugendfußballer - Ein paar Schweigeminuten - dann wieder Gewalt
Im Mai 2023 endet ein Fußballspiel unter Jugendlichen tödlich. Ein Berliner stirbt nach einer Schlägerei im Alter von 15 Jahren. Was seitdem passiert ist und warum die Aggressivität im Jugendfußball nicht nachgelassen hat. Von Lynn Kraemer
Im Mai 2023 fährt ein 15-jähriger Berliner mit seiner Fußballmannschaft zum internationalen "Germany Cup" nach Frankfurt am Main. Nach dem Spiel gegen den FC Metz entsteht eine Rangelei, die darin endet, dass dem Jugendlichen von einem 16-jährigen Gegenspieler hinterrücks gegen den Kopf geschlagen wird. Der Berliner bricht zusammen und muss reanimiert werden.
Später wird festgestellt, dass durch den Schlag eine Arterie am Hals verletzt wurde und eine Blutung im Schädelinneren einsetzte. Im Krankenhaus wird er für hirntot erklärt. Am 31.05.2023 werden die Maschinen, die ihn versorgen, nach der Entnahme von Spenderorganen, abgestellt.
Der Fall vor Gericht
Der Vorfall sorgt damals international für Aufmerksamkeit und Bestürzung. Beim DFB-Pokalfinale 2023 wird mit einer Schweigeminute an den 15-Jährigen erinnert. Der 16-Jährige kommt in Untersuchungshaft. Ende Januar 2024 beginnt der Prozess in Frankfurt am Main. Anwalt Rene Lau nimmt an den Verhandlungstagen als Nebenklagevertreter teil. Besonders den ehemaligen Mitspielern, die teilweise als Zeugen vernommen wurden, seien die Tage sehr nah gegangen: "Man erlebt nicht oft, dass Jugendliche, die groß und stark wie ein Baum sind, dann dort sitzen und nach ein paar Sätzen in Tränen ausbrechen."
Anfang März wird nach acht Verhandlungstagen das Urteil verkündet: Die 3. Große Jugendkammer spricht den inzwischen 17-Jährigen wegen vorsätzlicher Körperverletzung sowie Körperverletzung mit Todesfolge schuldig. Gegen ihn wird eine Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Rene Lau sagt: "Ich weiß nicht, ob dieses Urteil eine abschreckende Wirkung hat." Aber: "Ich hoffe ganz stark, dass das dieses Urteil eine Mahnung für viele ist, dass man sich vielleicht mit verbalen Dingen oder mit emotionalen Wutausbrüchen auf und neben dem Platz zurückhält."
Keine merkliche Veränderung auf den Fußballplätzen
Theresa Hoffmann, die als Referentin für Gewaltprävention beim Berliner Fußballverband arbeitet, telefonierte eine Woche nach dem Vorfall mit Berliner Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern, um die Geschehnisse des Spieltags zu erfassen. So wie sie es immer macht. Und auch am anderen Ende der Leitung war alles wie immer: "Jetzt hatten wir den schlimmstmöglichen Fall, dass hier ein Kind im Rahmen des Fußballs durch Gewalt gestorben ist, und auf den Plätzen haben wir heute gar keine Veränderung gemerkt", habe sie von den Unparteiischen gehört. Unsportliches Verhalten, Beleidigungen und Tätlichkeiten traten nach dem Vorfall weiter auf [Präventionsbericht zu Gewaltauftreten im Berliner Amateurfußball für die Saison 2022/23: berliner-fussball.de]. Das habe sie in ihrer Arbeit fast mehr mitgenommen als der Fall selbst.
Während es für die Angehörigen ein Davor und ein Danach gibt, ging es auf den Plätzen nach den mahnenden Schweigeminuten einfach weiter. Mit dem JFC Berlin, dem Verein des Verstorbenen, war der Verband in Kontakt. Doch bei Hoffmann meldete sich im direkten Kontext des Vorfalls kein anderer Verein, um sich in der Präventionsarbeit besser aufzustellen. So bietet der Verband unter anderem einen Anti-Gewalt-Kurs und ein Fairplay-Paket, mit Westen für Ordnerinnen und Ordner an.
DFB-Lagebild zeigt Gewaltzunahme
Der DFB erfasst Spielabbrüche, Gewalt- und Diskriminierungsvorfälle für den Amateurfußball seit 2014 in einem jährlichen Lagebild [www.dfb.de]. Innerhalb dieser Zeitspanne hat sich der prozentuale Anteil von Spielabbrüchen fast verdoppelt. Nachdem pandemiebedingt deutlich weniger Spiele ausgetragen wurden, stiegen die Spielabbrüche vom Vorpandemiewert von 0,05 Prozent auf 0,075 Prozent in der Saison 2021/22.
In der Saison 2022/23 wurde bei 6.224 von 1.234.154 Spielen mit Spielberichtsbogen mindestens ein Gewalt- oder Diskriminierungsvorfall gemeldet. 961 Spiele wurden deswegen abgebrochen. Fast alle Vorfälle ereigneten sich bei den Herren und Junioren. Bei den Frauen und Juniorinnen wurden nur vereinzelt Vorfälle gemeldet. Die körperliche Gewalt oder Diskriminierung ging zu 54,2 Prozent von Spielenden und 29 Prozent von Zuschauenden aus. Betroffen waren vor allem Spielende (48,2 Prozent) und Unparteiische (36,9 Prozent).
Von den F- bis zu den A-Junioren nahmen die Vorfälle schrittweise zu und veränderten sich in ihrer Form. Während bei den E- und D-Junioren, also Spielern bis 12 Jahre, eher zu verbaler Gewalt kam, kippte es von den C-Junioren aufwärts immer mehr zu körperlicher Gewalt. "Meine erste Erklärung dafür ist die Pubertät", sagt Theresa Hoffmann vom Berliner Fußballverband. "Wir haben wachsende Jugendliche, die Grenzen und ihren Körper austesten, und auch erstmal lernen müssen, mit gewachsenen Extremitäten mit mehr Kraft, mehr Muskelmasse umzugehen."
Jugend unter höherem Druck
Auch Jens Kleinert, Leiter des Psychologischen Instituts der Deutschen Sporthochschule Köln, erklärt so den Anstieg und Umschwung der Gewaltform in den Altersklassen. "Die Jugendlichen sind vulnerabel. Sie sind also verletzlich im Sinne der psychologischen Entwicklungsbedingungen", so Kleinert. Die älteren Juniorenspieler seien also sehr empfänglich für negative, aber auch positive Reize. "Da wir zurzeit leider in einer Gesellschaft leben, in der negative Reize sehr stark über soziale Medien, Peergroups, Freunde, leider teils auch Familien transportiert werden, werden sie in dieser Entwicklungsphase stärker davon beeinflusst."
Die seit 2020 regelmäßig durchgeführte Trendstudie "Jugend in Deutschland" stützt die von Kleinert beschriebene negative Reizüberflutung. Bei den unter 30-Jährigen zeichnet sich ein erheblich höheres Niveau von psychischen Belastungen als bei den älteren Altersgruppen ab. Die persönliche Zufriedenheit der Jugend in Deutschland sank 2024 im Vergleich zu den letzten beiden Erhebungen in fast allen Bereichen.
Anders als erwartet, nahm das Stresslevel nach Ende der pandemiebedingten Einschränkungen nicht ab. Die befragten Jugendlichen gaben für 2024 noch häufiger an, Stress, Einsamkeit und Angstzustände zu verspüren als in den beiden Vorjahren. Und der Fußball spiegelt – wie andere Sportarten – vor allem den aktuellen Zustand der Gesellschaft. "Wir können eine Verrohung beobachten. Und zwar beginnend in der Sprache und dann fließend leider auch eine körperliche Verrohung. Und das nehmen die Jugendlichen natürlich mit in den Sport, der nicht von der Gesellschaft losgelöst ist", erklärt Jens Kleinert.
Ist der Fußball das Problem?
Obwohl der Fußball deutlich öfter als andere Sportarten in Deutschland wegen Gewaltvorkommnissen in der Öffentlichkeit steht, ist er laut Jens Kleinert nicht die Ursache. "Es ist nicht belegbar, dass der Fußball eine besondere Stellung hat, die besonders gewaltfördernd ist." So sei der Fußball vor allem einem besonderen Medieninteresse ausgesetzt. Wenn etwas passiert, wird eher berichtet. "Wenn man sich die absoluten Zahlen anschaut, sind Gewalt und Spielabbrüche bei weitem nicht der Regelfall. Trotzdem sind die Spielabbrüche alarmierend und man muss sich dem widmen, aber wir sind zum Glück ganz, ganz weit davon entfernt, dass es die Regel ist", so Kleinert.
Noch mehr Posterkampagnen an den Türen der Vereinsheime sind weder für Jens Kleinert noch Theresa Hoffmann die Lösung, um die Jugendlichen zu erreichen. "Wir müssen an die Wissensvermittlung ran und besser fortbilden. Letztendlich müssen aber auch die Vereine selbst Verantwortung übernehmen und Fehlverhalten offen ansprechen", sagt Hoffmann. Positivbeispiele von Vereinen, die Fair Play leben, müssten stärker verbreitet werden.
Obwohl der Tod des 15-Jährigen vor einem Jahr nicht so einschneidend war, dass er sämtliche anderen äußeren Faktoren verdrängte und zu einem Umdenken auf den Fußballplätzen führte, blieb er im Kleinen nicht ohne Folgen. Den JFC Berlin, den Fußballverein des 15-Jährigen, beschäftigt der Tod ihres Spielers noch immer. Aus Respekt vor der Familie wollte sich der Verein für diesen Beitrag nicht äußern.