Theaterkritik | "Gittersee" am Berliner Ensemble - Lust auf ein Abenteuer?
Charlotte Gneuß befeuerte mit ihrem Coming-of-Age-Roman "Gittersee" die Debatte, wer über die DDR schreiben darf. Die Regisseurin Leonie Rebentisch hat für ihre Bühnenadaption die richtige Hauptdarstellerin gefunden. Von Barbara Behrendt
"Lust auf ein Abenteuer?" "Vergiss nicht, dass du meine kleine Komma bist und ich dich über alle liebe!" Es sind diese beiden Sätze, die Karin nicht aus dem Kopf bekommt. "Lust auf ein Abenteuer?" hatte Paul sie gefragt, als er sie übers Wochenende mit zu einem Fest nach Tschechien nehmen wollte, auf seiner Schwalbe. Dann war er nicht zurückgekommen. Warum, nach dieser Liebeserklärung? Welchen Menschen und Worten kann man trauen?
Wie im Traum wabern die beiden Sätze auf die Bühne. Gesprochen von Figuren hinter einer milchfarbigen Gummiwand, ihre Hände und Körper gegen das Gummi gedrückt. Doch sie dringen nicht durch, bleiben ungreifbar in Karins Welt, in der jetzt ein Stasi-Offizier vor der Tür steht: "Republikflucht".
Man sieht der Schauspielerin Amelie Willberg an, wie der Schock über diese Nachricht in Karins Knochen fährt, wie lange sie braucht, um die ersten Puzzleteile in ihrem Kopf zusammenzufügen. "Lust auf ein Abenteuer?"
Anerkennung vom Stasi-Offizier
Karin ist 16 und in Charlotte Gneuß' hoch gelobtem und prämiertem Debütroman "Gittersee" eine kantige, in sich gekehrte junge Frau mit hohem Verantwortungsgefühl und großer emotionaler Verunsicherung im eiskalten DDR-Staat von 1976. Ihr Vater säuft. Ihre rabiate Großmutter schwärmt vom Krieg. Ihre depressive und überforderte Mutter verlässt die Familie. Also kümmert sich Karin wie eine Mutter um ihre Schwester, ein Kleinkind. Ihre beste Freundin geht andere Wege. Und Paul haut ab. Der Einzige, der ihr nun Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zeit schenkt, ist der Stasi-Offizier Wickwalz.
Charlotte Gneuß hat einen atmosphärisch dichten Roman über das schale Lebensgefühl der DDR geschrieben, der kein Wort zu viel erzählt. Und genauso handhabt es die Bühnenfassung, die die junge Regisseurin Leonie Rebentisch fürs Berliner Ensemble verfasst und inszeniert hat. Der Abend stellt Dialoge und Handlungssplitter luftig nebeneinander, streift sowohl die Coming-of-Age-Story, die Liebesgeschichte, den Kriminalfall als auch das historische DDR-Panorama – mit Spannung und Psychologie, ohne dem Publikum das Denken abzunehmen.
Blätterwald in Weiß
Und ohne den Stoff klar zu verorten. Weiße Papierstreifen hängen dafür ziemlich abstrakt und uninspiriert als Blätterwald von der Bühnendecke herab und spielen halbherzig Verstecken mit den Figuren. Der Hauptdarstellerin kann das allerdings nichts anhaben. Amelie Willberg schaut man in ihrer Rolle der Karin förmlich beim Denken zu. In einem psychologisch versierten Spiel und in Dutzenden Nuancen: mal mehr vernachlässigte, dann verletzte, dann bockige Tochter; mal ausgelassene Freundin, dann wortkarge Beobachterin, später Verräterin. Und dann natürlich: einsamer Teenager, der mit dem älteren Stasi-Mann flirten möchte. Willberg taut auf bei jedem netten Wort – und gefriert bei jeder verbalen Brutalität ihrer Mutter und Großmutter.
Das Problem: die harmlose Figurenzeichnung
Dass der Abend letztlich doch nicht so tief schürft wie der Roman, liegt an den weiteren Figurenzeichnungen. Der verwegene, schillernde Wickwalz, dem Karin gefallen möchte, ist bei Paul Herwig ein schmieriger Apparatschik in Anzug und Aktentasche. Die brutale Nazi-Großmutter ist bei Rahel Ohm in Kittelschürze eine nette Version von "harte Schale, weicher Kern". Kathleen Morgeneyer gibt Karins Mutter weniger als erhärtete Tochter ihrer stählernen Mutter, denn als psychotisches Nervenbündel. Und Irina Sulaver ist zwar eine wunderbar warmherzige beste Freundin – aber keine, die Karin zwischenzeitlich im Stich lässt. Mit einem derart klischierten, aalglatten Stasi-Mann, einer im besten Sinne zupackenden Oma und einer liebevollen Freundin ist die Verführbarkeit Karins zur Stasi-IM weniger nachvollziehbar. Ihre Rache an Wickwalz am Ende dafür allerdings umso mehr.
Dass auch eine westdeutsche junge Frau mit Recherche und Einfühlungsvermögen einen Roman über die DDR schreiben kann, hat Charlotte Gneuß mit ihrem Roman bewiesen – dass eine westdeutsche junge Regisseurin einen solchen Stoff jedenfalls solide inszenieren kann, zeigt Leonie Rebentisch an diesem Abend.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.11.2024, 7:55 Uhr