Rechte Übergriffe nach der Wende - Wie Ostdeutsche die #baseballschlägerjahre jetzt aufarbeiten
Aufarbeitung der Nachwendezeit im Osten: Im Netz erzählen derzeit Hunderte User von Prügelattacken und einer Atmosphäre der Angst vor Rechtsextremen nach dem Mauerfall. Ausgangspunkt der Debatte - ein kleiner Tweet. Von Anke Fink
30 Jahre ist es her, dass der SED-Funktionär Günter Schabowski sagte: "Das tritt nach meiner Kenntnis... ab sofort, unverzüglich." Am gleichen Abend öffnete sich die Grenze zu West-Berlin an der Bornholmer Straße. Der Rest ist Geschichte. In diesen Tagen wird sich wieder erinnert an jene Zeit, die so unglaublich war. Politiker würdigen den Mut der Menschen, die auf die Straße gingen und den Staat in die Knie zwangen. Sie werden sagen, welch außergewöhnliche Leistung das war und wie enorm die Anstrengungen danach, die häufig mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und sozialen Strukturen einhergingen. Heute nennt man das "Anerkennung von Lebensleistungen".
Was jedoch kaum auf öffentlichen Jubiläumsveranstaltungen gesagt wird, ist wie der Alltag nach der Wende aussah - ohne funktionierende Polizei und Justiz, ohne Lehrer, die ihren Schülern nicht nur Unterrichtsstoff beibringen, sondern auch Begleiter sind auf dem Weg zum Erwachsenwerden. In den 90ern herrschte in weiten Teilen Ostdeutschlands das Recht des Stärkeren – vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen - und die Starken waren brutale stramme Neonazis. Davon liest man jetzt vor allem im Internet.
Hunderte ähnliche Geschichten
Christian Bangel, Autor der Wochenzeitung "Die Zeit", ist in Frankfurt (Oder) aufgewachsen und nennt die Zeit nach dem Mauerfall schon länger Baseballschlägerjahre. Ende Oktober 2019 ruft er bei Twitter dazu auf, über Erfahrungen dieser Jahre zu berichten. "Ihr Zeugen der Baseballschlägerjahre. Redet und schreibt von den Neunzigern und Nullern. It's about time."
Was dann passiert, damit hat Bangel nicht gerechnet. Hunderte Twitter-User schreiben von ihren schlimmsten Erfahrungen, ihrem Alltag voller Angst vor Demütigung, Prügel und dem Tod. Viele schreiben vom Leben in Kleinstädten und Dörfern auch in Brandenburg.
Twitter-User Robert Claus aus Bad Freienwalde etwa, wie ihm bei einer Technoparty als 15-Jähriger auf der Toilette eines Jugendclubs eine Waffe an den Kopf gehalten wurde: Er sollte sich entschuldigen, einen von den Angreifern als Nazi bezeichnet zu haben. Laut Claus sind die Neonazis überall gewesen: im Fußballclub, im Schulbus, in der Klasse, beim Sportunterricht. Regelmäßig sei er in der Umkleidekabine angegriffen worden. Neidisch blickte er auf andere Städte in Brandenburg, wie er weiter schreibt, etwa Strausberg und Frankfurt (Oder), die alternative Jugendzentren hatten - ohne Nazis. In Bad Freienwalde sei der Alternativclub nach kurzer Zeit "abgefackelt" worden.
Tommy aus Frankfurt (Oder) berichtet von Verhaltensregeln, die er sich in den 90ern selbst auferlegte, wenn er alleine unterwegs war. Unauffällig verhalten, mit dem Fahrrad fahren, aber nur in Seitenstraßen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln vorn sitzen und beschäftigt tun, wissen, wo Schutzräume sind. "Und wenn sie kommen, lauf oder freeze. Dann beten."
Marc Brandenburg berichtet bei Twitter, dass Eberswalde ein hartes Pflaster für ihn gewesen sei als halber Ausländer und bekennender Antifaschist. Vivian Bergmann schreibt von einem Ausflug nach Brandenburg in eine Jugendherberge. In ihrer Jugendgruppe sind demnach auch Punks und Dunkelhäutige dabei. Sie seien mit den Leuten im Dorf ins Gespräch gekommen und hätten gehört: "Entweder du bist hier rechts, oder du hältst deine Klappe. So ist das hier".
Am Abend hätte dann eine Gruppe Rechter vor der Unterkunft Lagerfeuer gemacht, Sprüche gebrüllt und Flaschen geworfen. Von der herbeigerufenen Polizei hieß es laut Vivian Bergmann: "Ach, das sind doch nur ein paar Jugendliche, die machen doch nichts."
Hilfe zur Selbsthilfe
Unter #baseballschlägerjahre liest man immer wieder, dass man jeden Tag zum Opfer rechter Gewalt werden konnte, weil die Neonazis überall waren. Ein Twitter-User, der sich freier Journalist nennt, hat im Archiv der Märkischen Allgemeinen Zeitung einen Artikel aus dem Jahr 1991 entdeckt, der den Titel hat: "Skins verunsichern Rathenow". Darin ist die Rede davon, dass Neonazis wieder einmal den Bahnhofswartesaal stürmten, um sich zu prügeln. Da die Bevölkerung von der Polizei keine Hilfe erwarten könne, überlege sie nun eine Bürgerwehr zu gründen.
Natürlich lassen sich nicht alle Geschichte unter #baseballschlägerjahre auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, aber allein die pure Masse an ähnlichen Tweets zeichnet ein erschreckendes Bild der Nachwendezeit. Wer anders aussah, mit längeren, bunten oder toupierten Haaren musste vor allem schnell rennen können, um unverletzt nach Hause zu kommen.
Seit 1990 starben nach Angaben der Amadeu Antonio Stiftung etwa 180 Menschen durch rechtsextreme Übergriffe. Wie viele Verletzungen es gab, die die Menschen verängstigt zurückließen, ist nicht zählbar.
Eltern hatten mit sich zu tun
Hilfe gab es für viele kaum. Wie Twitter-User erzählen, kamen Polizisten selten und wenn, dann verwiesen sie darauf, dass man sich nicht wundern müsse, wenn man mit solch‘ einem Aussehen provoziere. Manche Eltern taten demnach die Prügel als Rangeleien unter Jugendlichen ab und zogen lieber die Vorhänge zu, wenn vor dem Fenster Nazi-Lieder gesungen wurden.
Die Brandenburger Landtagsabgeordnete der Linken, Andrea Johlige, schreibt, dass viele Eltern gar nicht wissen wollten, wie "gefährlich ihre Kinder - sofern sie nicht rechts waren - eigentlich lebten". Es habe niemanden interessiert, weil die Eltern mit sich zu tun hatten: mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit
Den Heranwachsenden blieb oft nichts anderes übrig als nicht aufzufallen oder mitzulaufen. Oft waren es Bekannte aus der Schule oder der Nachbarschaft, die sich als die größten Nazis aufführten. "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß", heißt das Buch von Manja Präkels, aufgewachsen in Zehdenick, das diese Zeit beschreibt.
Auch Daniel Schulz, Redakteur der "taz", erzählt in seinem preisgekrönten Essay "Wir waren wie Brüder" [taz.de] über seine Jugend in Ostdeutschland und verschweigt darin nicht, dass Neonazis oft sogar gute Freunde waren. Diese Autoren haben ihre Heimatorte recht bald verlassen, etwa Richtung Berlin oder Leipzig, um woanders zu studieren und den Baseballschlägern zu entkommen. Das heißt aber keineswegs, dass die Neonazis dort nicht ebenfalls versuchten, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Rüdiger Haas schreibt bei Twitter über Berlin 1990. "Wohnblock mit 3 Eingängen und 6 Etagen. Voll mit Vietnamesen. Ich wohne gegenüber und werde wach durch Schreie. Nazis überfallen die Blöcke. Vietnamesen, die entkommen wollen, werden gejagt. Keiner hilft!!!"
Wer sind die Schläger von gestern heute?
Es wird von Jugendclubs berichtet, die auch in Berlin von Rechtsextremen dominiert wurden. Neonazis sind den Usern zufolge auch im Westen der Stadt unterwegs gewesen und haben ihre Opfer ins Koma geprügelt und in den "Beton beißen" lassen.
Berlin oder auch Leipzig waren keineswegs angstfreie Schutzräume, allerdings, schreibt taz-Autor Daniel Schulz in seinem Essay, ließ sich der ostdeutsche Alltag dort ausblenden. "Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Männer mit Glatzen."
Im Internet findet gerade eine Massen-Traumatherapie statt, für die es anscheinend höchste Zeit ist. Denn die Schläger und Schlägerinnen aus den 90ern sind jetzt Erwachsene zwischen 40 und 50 Jahren - und nicht selten die Polizisten und Erzieher von heute.