Kommentar| Europawahl - Was Berlin (nicht) mit Europa zu tun hat
Die Berliner Grünen profitieren vom Bundestrend und der Klimadebatte – sie saugen die Stimmen der nur noch locker gebundenen Wähler fast mühelos ein. Doch die nächsten Abgeordnetenhaus-Wahlen sind erst in zwei Jahren. Von Christoph Reinhardt
Berlin ist nicht Deutschland – und schon gar nicht Europa. Und bei allem Respekt vor dem gewaltigen grünen Erfolg in den Berliner Wahllokalen: 27,8 Prozent der Stimmen, praktisch doppelt so viele wie die SPD (14 Prozent) – er lässt sich durch die Arbeit der Grünen in der Berliner rot-rot-grünen Koalition genauso wenig erklären wie mit dem Wirken der Berliner Sozialdemokraten.
Die gute Nachricht für die Grünen ist offensichtlich, dass sie sich in Berlin zur Volkspartei gemausert haben. Attraktiv für Jung und Alt, wählbar für Menschen von links bis bürgerlich. Die Berliner Grünen profitieren vom Bundestrend und der Klimadebatte – sie saugen die Stimmen der nur noch locker gebundenen Wähler fast mühelos ein. Fast alles fliegt ihnen zu: Von der Mietenpolitik enttäuschte Linke und Sozialdemokraten wahrscheinlich genauso wie frustrierte Wertkonservative, die sich bei der Merkel-CDU noch wohlfühlten, nun aber nicht mehr mitgehen wollen.
SPD im nicht stoppbaren Sinkflug
Dem Hype der Grünen entspricht der Sinkflug der SPD: Der Bedeutungsverlust der Traditionspartei lässt sich nicht stoppen, die Sozialdemokratie als Bindemittel einer sich digitalisierenden Gesellschaft hat ihre Wirkung verloren. In Berlin schon länger als anderswo. Das mag man dem Berliner Regierenden Bürgermeister anlasten. Aber auch wenn Müllers persönlicher Mangel an Anziehungskraft wohl kaum dazu beiträgt, Vertrauen zu wecken, ist seine Gereiztheit doch eher ein Symptom als die Ursache des Bedeutungsverlustes.
Dass Müller nach den herben Verlusten 2016 überhaupt noch einmal Regierender wurde, kam nur in Frage, weil die CDU-Konkurrenz damals genauso eingebrochen war. Und weil die SPD damals in der rot-rot-grünen Koalition der Seniorpartner war - mit den meisten Stimmen und mit der längsten Regierungserfahrung.
Grüne sind jetzt Lokalmatadoren im Ring
Weil auch die Linken mit 11,9 Prozent in Berlin deutlich schlechter abgeschnitten haben als zuletzt, stehen die Grünen zwar jetzt als unangefochtene Lokalmatadoren im Ring. Aber sie wissen selbst, wie volatil die öffentliche Meinung ist. Umfragen haben die Grünen schon oft dominiert. Allerdings nur, um dann bei den Wahlen auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Bis zu den Berliner Abgeordnetenhaus-Wahlen sind es noch zwei Jahre, da kann viel passieren. Die Grünen tun gut daran, ihre starke Position als Hoffnungsträger mit guter landespolitischer Politik zu unterfüttern. Und einstweilen schonend mit den beiden angezählten roten Koalitionspartnern umzugehen, denn ohne Bündnispartner können auch die Grünen nichts erreichen.
Die SPD wird alles daran setzen, Neuwahlen zu vermeiden - und auch die Linken müssen sich neu sortieren. Mietenpolitik und Enteignungsforderungen ziehen bei Europawahlen nicht. Berlin ist nicht Europa.
Berlin ist nicht Brandenburg
Die AfD hat es in der Metropole Berlin immer schwerer gehabt als fast überall sonst, und nach dem Einstieg ins Berliner Abgeordnetenhaus nach der Flüchtlingskrise 2016 mit 14,2 Prozent ist es bis einschließlich Sonntag (9,9 Prozent) wieder deutlich heruntergegangen. Aber auf immer noch hohem Niveau. Als Protestpartei taugt die AfD in Berlin aber nicht. Berlin ist nicht Deutschland - und schon gar nicht Brandenburg.