Studie zu Wahlverhalten queerer Menschen in Berlin - Jede dritte Stimme für die Grünen, die CDU weit abgeschlagen
Welche politischen Themen bewegen Lesben, Schwule und Transgender in Berlin? Wen würden sie am Sonntag wählen? Zum queeren Wahlverhalten in Berlin haben Wissenschaftler sechs Wochen lang eine Online-Umfrage durchgeführt. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Von Klaas-Wilhelm Brandenburg
Ginge es nach vielen queeren Berlinern – also Lesben, Schwulen, Bisexuellen, transgeschlechtlichen und intersexuellen Menschen, auch LGBTIQ genannt –, gäbe es bei der Abgeordnetenhauswahl am Sonntag einen klaren Wahlsieger: Jede dritte Stimme würde an die Grünen gehen.
Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Studie der Wiener und Gießener Universität zur Berlin-Wahl, die am Montag vorgestellt wurde. Zwar ist die Studie nach Aussage der Wissenschaftler nicht repräsentativ, aber aufgrund der hohen Teilnehmerzahl könne man solide Aussagen zu den politischen Präferenzen und Einstellungen der Community machen.
Die Grünen kommen der Umfrage zufolge auf fast doppelt so viele Stimmen wie die derzeit regierende SPD: Nur 17 Prozent würden ihr Kreuz bei den Sozialdemokraten machen, die dadurch noch hinter der Linkspartei auf Platz drei landen würde. 24 Prozent und damit knapp jeder vierte würde die Linke wählen, neun Prozent die FDP, sieben Prozent die AfD und nur vier Prozent die CDU, die sich damit gemeinsam mit den Piraten den letzten Platz teilt.
Aussagekräftig, aber nicht repräsentativ
Es ist die erste Umfrage dieser Größenordnung: Mehr als 2.200 Menschen haben bundesweit den Online-Fragebogen ausgefüllt, 1.058 davon waren wahlberechtigte Berliner. "Die LGBTIQ-Community verortet sich im gesamten politischen Spektrum", so Dorothée de Nève von der Universität Gießen. "Die Zahl von 1058 Befragten ist übrigens sehr hoch. Auch kommerzielle Umfrageinstitute befragen für Länderstudien zu Berlin höchstens 1.000 Personen."
Da die Studie nicht repräsentativ sei, handele es sich auch nicht um eine Wahlprognose, betonen die Politikwissenschaftler. Zum einen, weil die Umfrage ein sogenanntes "selbstselektives Sample" war – das heißt jeder konnte mitmachen. Zum anderen können für die LGBTIQ-Community grundsätzlich keine repräsentativen Studien erhoben werden, da in Deutschland nicht offiziell erfasst wird, ob ein Mensch beispielsweise homosexuell ist. Dadurch weiß man nicht, wie sich diese Gruppen insgesamt zusammensetzen, weshalb auch eine Stichprobe, die diese Gruppen repräsentieren soll, nicht möglich ist.
Viele Männer, hohe Bildung, wenig Arme
So waren fast drei Viertel der Berliner Wahlstudien-Teilnehmer schwule Männer, während in ganz Berlin Männer und Frauen jeweils etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Außerdem war der Bildungsgrad der Umfrage-Teilnehmer verhältnismäßig hoch, die Einkommensverhältnisse zumeist gut bis sehr gut und die religiöse Bindung gering. "Ob dies der selbstselektiven Selektion dieser Umfrage zuzuschreiben ist oder für die LGBTIQ-Community an sich steht, kann man aufgrund dieser Umfrage nicht feststellen", so de Nève.
Homo- und Transphobie sind immer noch wichtige Themen in der Stadt
"Man sieht, dass die Parteien, die sich sehr stark für die Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen einsetzen, die sich gegen Homophobie und Transphobie engagieren, einen großen Zuspruch haben – und andere Parteien eben weniger", erklärt Jörg Steinert, Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) Berlin.
Diese Schlussfolgerung kommt nicht von ungefähr: Als generell wichtige Themen nannten die Befragten in der Wahlstudie am häufigsten Homophobie, Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. An siebenter Stelle wurde Transphobie, also die Ablehnung transsexueller Menschen genannt, und erst an zwölfter Stelle das in der Öffentlichkeit stark diskutierte Thema "Ehe für Alle" – noch hinter Gesundheitspolitik und Umweltschutz. "Was uns erschreckt hat, ist die Thematik von Homophobie, Diskriminierung und auch Transphobie. In der Wahrnehmung der Befragten dieser Studie sind dies auch im vermeintlich aufgeschlossenen Berlin dringende Probleme. Hier besteht also offensichtlich Handlungsbedarf", schlussfolgert Dorothée de Nève.
Das Abschneiden der AfD überraschte die Wissenschaftler
Weniger überrascht ist sie über den zweiten Platz der Migrations-, Asyl- und Flüchtlingspolitik: "Natürlich ist das Thema Flüchtende und Asyl jetzt weit oben auf der Agenda – dies gilt auch für die LGBTIQ-Community." Doch auch diese Community sei gespalten: So würden von der einen Seite besondere (Schutz-)Maßnahmen für queere Flüchtlingen gefordert, während auf der anderen Seite der Islam für Hass und Gewalt gegen Schwule verantwortlich gemacht wird. "Die Einstellungen, die von der LGBTIQ-Community vertreten werden, decken also das gesamte politische Spektrum ab."
Die AfD bekommt zwar im generellen landesweiten Vergleich zum aktuellen BerlinTrend von queeren Menschen deutlich weniger Stimmen, trotzdem ist sie stärker als die CDU. "Es ist erstaunlich, dass die AfD mit ihrem erzkonservativen Familienbild, ihrer verklemmten Sexualpolitik und ihrer Propaganda gegen den sogenannten Genderwahn in der LGBTIQ-Community überhaupt Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann", findet Dorothée de Nève. "Die Erklärung dafür dürfte sein, dass die AfD islamophobe Vorurteile bedient, die auch in der LGBTIQ-Community eine gewisse Resonanz haben." So würden viele AfD-Wähler unterstellen, dass "die Gewalt gegen Schwule insbesondere von muslimischen Männern ausgeht".
Extrem wenige empirische Studien zur queeren Community in Europa
Die AfD-Anhänger in dieser Studie seien zwar überwiegend schwule und bisexuelle Männer, aber: "Die AfD rekrutiert ihre Wählerinnen und Wähler aus allen politischen Lagern." Vor allem frühere queere Wähler der CDU, SPD, Grünen und Linken machten jetzt bei der AfD ihr Kreuz. Ebenfalls auffällig seien der hohe Beamtenanteil und die vergleichsweise hohe Bildung. "Wir müssen uns auch in den eigenen Reihen mit der AfD auseinandersetzen", meint Jörg Steinert vom LSVD. "Aber im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung ist sie ein erheblich geringeres Problem bei uns."
Generell gebe es in Europa "extrem wenig empirische Studien zur queeren Community" erklärt Tina Olteanu, die mit Dorothée de Nève das Forschungsprojekt leitet. Die Universitäten Wien und Gießen haben bereits zur Gemeinderats-Wahl in Wien im letzten Jahr eine ähnliche Studie durchgeführt, allerdings mit deutlich weniger Teilnehmern. Die Berliner Umfrage ist nun die Fortsetzung des dazugehörigen Forschungsprojektes zum Wahlverhalten der LGBTIQ-Community: "Wir haben in den klassischen Wahlstudien nie eine Frage zur sexuellen Identität", erklärt Olteanu. "Uns beschäftigt die Frage, ob es für LGBTIQ-Interessen eine 'natürliche' Nähe zu linken Politiken gibt oder ob die LGBTIQ-Community eben politisch genauso divers ist wie die übrige Bevölkerung", ergänzt Dorothée de Nève. Dass dies nun in Berlin erforscht wurde, war kein Zufall: "Die Hauptstädte sind – so dürfte man wohl annehmen – relevante Siedlungsgebiete für die LGBTIQ-Community."