Interview | Leiter der städtischen Sammlungen Cottbus - "Museen sind keine Vergnügungsorte - sie sind in erster Linie Bildungsorte"
Fast 30 Jahre lang war Steffen Krestin Leiter des Cottbuser Stadtmuseums, nun geht er in den Ruhestand. Im Interview spricht er über besondere Ausstellungen und die Wirkung der Geschichte auf die Gegenwart. Von Josefine Jahn
rbb|24: Herr Krestin, wenn man für seine Arbeit brennt fällt einem der Abschied oft nicht leicht. Jetzt gehen Sie in den Ruhestand, wie geht es Ihnen damit?
Steffen Krestin: Ich lasse die Arbeit eigentlich nicht ruhen, sondern ich kann mich jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Grundsätzlich ist mir der Abschied aber nicht so leicht gefallen, wie ich noch vor einem halben oder viertel Jahr gedacht habe. Als der Termin immer näher rückte und dann immer mehr Gespräche darüber geführt wurden, war es dann doch ein wenig anders.
Diese Arbeit war kein einfacher Job, sondern das war eine Arbeit, die ich wirklich sehr gern gemacht habe. Ich bin davon überzeugt, dass das was ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen und vielen Partnern auf den Weg bringe, dazu beiträgt, das Wissen um die Geschichte, um die Naturgeschichte unserer Stadt, unserer Region zu vermitteln. Es trägt vielleicht auch ein Stück dazu bei, Demokratiebildung zu befördern. Lehren aus der Geschichte klingt immer sehr groß, aber genau darum geht es: dass wir, wenn wir zurückschauen, auch überlegen, wie wir mit dem Hier und Heute umgehen. Das war etwas, das mich im Museum immer wieder beschäftigt hat. Im Museum nutzen wir zwar die Dinge, die uns überliefert sind, aber wir erklären damit auch heutige Fragen der Gesellschaft, wir bieten Erklärungen an oder laden einfach dazu ein, sich damit zu beschäftigen.
Im Zentrum steht dabei für mich: wir müssen dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft demokratisch, offen, ehrlich, kritisch, auch streitbar - aber eben miteinander umgeht und nicht gegeneinander. Diese Probleme miteinander haben sich in den letzten zehn Jahren, auch in Cottbus, stark potenziert. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir daran aktiv arbeiten. Insofern kann ich einen Teil meiner Arbeit ganz gut loslassen: diesen Auftrag als Leiter, also Verwaltung, Organisation, Finanzmittel, Förderanträge. Auf der anderen Seite kann ich mich jetzt wirklich auf Inhalte konzentrieren, Projekte angehen, die ich vielleicht schon lange machen wollte und nicht geschafft habe. Ich kann mich aber auch ganz neuen Themen widmen.
Können Sie uns einen Einblick in mögliche neue Projekte geben?
Zunächst mal möchte ich meinen eigenen Schreibtisch zu Hause gewissermaßen aufräumen, alles das, was liegen geblieben ist. Dazu gehört auch ein Stückweit, angesammeltes Wissen öffentlich zu machen. Ich habe jetzt zum beispiel Zeit auf der Webseite des Stadtmuseums Informationen zu veröffentlichen, die irgendwo in der Schublade liegen und warten.
Ganz wichtig ist mir, dass ich mich intensiv mit der Stolperstein-Seite beschäftige [www.stolpersteine-cottbus.de]. Wir haben diese Seite vor zwei Jahren online gestellt, haben alle 99 Stolpersteine in Cottbus auf einer Karte verzeichnet. Wir haben ungefähr 25 Steine mit kurzen Biographien gefüllt - aber es fehlen eben über 70. Die müssen aber unbedingt rein, damit die Menschen, die sich damit beschäftigen einen Blick dafür kriegen, dass die Verfolgung in der Zeit des Nationalssozialismus sehr vielgestaltig war, sehr viele Gesellschaftsgruppen betroffen hat. Das ist so ein Punkt, bei dem ich denke, dass wir mit dem Wissen um diese Geschichte unsere eigene Gegenwart gemeinsam besser gestalten können.
Außerdem möchte ich gern im nächsten Jahr zwei Ausstellungen angehen, eine schwebt mir schon seit Jahrzehnten vor. Ich bin in der DDR groß geworden. Unser Comic war das Mosaik, von Hannes Hegen. Da gibt es eine wunderbare Sammlung in Leipzig, es gab auch eine Ausstellung dazu. Da ich die Comics als Jugendlicher eigentlich auswendig konnte, ist eine Ausstellung dazu ein Traum von mir. Zumal, diese Geschichte dieses Comics ein typisches Beispiel für das DDR-Geschichtsbild ist - weil es voller Widersprüche steckt. Auf der einen Seite die Reise in die Welt, auf der anderen Seite die Organisation in einer privatwirtschaftlichen Struktur bei Hannes Hegen - und am Ende sind die Digedags ins Nirvana geritten, weil der Staat diese privatwirtschaftliche Struktur nicht mehr unterstützt hat. Letztlich wurden die Mosaiks und auch die Macher, außer Hannes Hegen, vom Verlag "Neues Leben" abgeworben, sodass daraus die Abrafaxe entwickelt wurden. Da steckt also auch noch ein Stückchen Ideologiegeschichte der DDR drin. Das ist auch wichtig für das Verständnis von verschiedenen Formen und Strukturen, mit denen nicht-demokratische Gesellschaften funktionieren.
Als Leiter des Stadtmuseums haben Sie sich mit der Geschichte in einem abgegrenzten Raum, mit der Geschichte einer Region befasst. Ist diese Geschichte irgendwann auserzählt oder wird es immer wieder neue Perspektiven auf die Vergangenheit geben?
Natürlich bin ich stark fokussiert auf Cottbus und die Niederlausitz. Das hängt einfach damit zusammen, dass ich mehr als 30 Jahre hier gelebt und gearbeitet habe. Aber natürlich funktioniert Stadtgeschichte oder Regionalgeschichte nicht ohne nationale oder internationale Geschichte.
Allein der Blick auf den Dreißigjährigen Krieg zeigt, dass wir uns zwar gerne mit den Chroniken von Cottbus beschäftigen können, aber das erklärt nicht die Strukturen, die im Ergebnis des Krieges entstanden sind. Da kommen dann internationale Verflechtungen dazu, da kommt Reliogionsgeschichte dazu oder auch Machtpolitik der Herrschenden. Am Ende, wenn wir uns die Visitationsprotokolle von 1652 anschauen, erleben wir, dass die Stadt einen enormen Zuwachs erfahren hat, weil ganz viele Menschen in dieser Stadt diese Zeit nicht überlebt haben. Dann ist es spannend, wo diese Menschen alle herkamen. Die kamen nicht nur aus Burg oder Straupitz (Spree-Neiße), die kamen oft auch von weiter weg. Die Stadt- oder Regionalgeschichte ist immer der Ausgangspunkt, aber Sie sind ganz schnell in der überregionalen Geschichte.
Auch mein Beispiel mit den Mosaik-Heften ist eine zeitgeschichtliche Projektion, der ich mich gerne zuwenden möchte, die aber nichts konkret mit der Stadtgeschichte zu tun hat. Ich glaube, wenn wir uns zu stark auf so einen kleinen Punkt fokussieren, ist das auch unangebracht. Die Globalisierung ist in den letzten 20 bis 30 Jahren für jeden spürbar geworden. Die internationalen Verflechtungen in Wirtschaft, Kultur und Politik sind so stark, dass sie bis nach Cottbus reichen. Insofern ist die Stadt- und Regionalgeschichte eine kleine Welt, die aber nur in der großen funktioniert. Der Fokus auf die Niederlausitz ist klar, aber es geht oft auch darüber hinaus.
Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen? Haben Sie sich schon als Kind oder Jugendlicher für Geschichte interessiert?
Lesen und Geschichte haben mich schon von klein auf interessiert. Wir wurden damals schon in der zweiten Klasse, also als wir das ABC gerade durch hatten, als gesamte Klasse in die Bibliothek geschickt - ich hoffe, dass das heute auch noch so ist. Wir bekamen alle einen Kinderbibliotheksausweis und dann bin ich ziemlich oft dorthin gegangen. Mit den Jahren kam immer mehr der Blick auf die Geschichte, auf die Gegenwart, auf die Entwicklungen. In der fünften Klasse war dann die Entwicklung des Menschen dran. Das faszinierte mich einfach.
Da habe ich angefangen Bücher zu lesen, die natürlich nicht in der Kinderbibliothek standen. Ich habe immer wieder rumdiskutiert mit den Bibliothekaren und habe mir solche Bücher, beisipelsweise von Charles Darwin geholt. Ich vermute mal, dass ich das meiste damals nicht so richtig verstanden habe. Zu dieser Zeit hat das Museum für Vor- und Frühgeschichte in Halle (Saale) in Bilzingsleben einen großen Vormenschlichen Fund gemacht - den Homo Erectus von Bilzingsleben. Das hat mich ein bisschen gefangen genommen. Ich bin dann nicht bei der Archäologie hängengeblieben, sondern habe mich für Geschichte beworben. So bin ich zum Studium nach Berlin gegangen.
Den Hauptteil Ihrer Arbeit haben Sie aber in Cottbus geleistet. Gibt es hier Projekte, Ausstellungen, Geschichten, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Im Rückblick ist das nicht so einfach, ich weiß gar nicht wie viele Ausstellungen wir gemacht haben, seit ich ab 1989 auch dafür zuständig war. Für mich war es ganz wichtig, dass ich relativ schnell im Stadtmuseum oder auch im Wendischen Museum, für das ich auch zuständig war, Ausstellungen entwickelt habe, die eine Spur in die Gegenwart ziehen. Dazu gehören politisch motivierte Ausstellungen über die jüdische Geschichte, über die Geschichte der NS-Diktatur.
Die erste Ausstellung im Stadtmuseum thematisierte den Bombenangriff vom 15. Februar. Das war natürlich Mitte der 90-er Jahre ein heißes Eisen. Da hatten wir in dieser Region eine starke nationalsozialistische Tendenz. Manch einer erinnert sich noch, wie wir ab den 90-er Jahren immer am 15. Februar auf die Straße gegangen sind, weil rechte Parteien, ähnlich wie in Dresden am 13. Februar, diesen Tag für sich instrumentalisieren wollten. Die haben gesagt, der Luftangriff war das eigentliche Verbrechen. Nein, das ist er nicht. Es war natürlich ein Verbrechen, aber die Geschichte davor, die zwölf Jahre NS-Diktatur, führten zu diesem Luftangriff und haben auch Cottbuser das Leben gekostet. Das war die erste Ausstellung, die ich mit den Kollegen gemacht habe und es ging darum, nicht diesen Luftangriff in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch das Davor und das Danach zu erzählen. Dass dieser Tag, der sich tief in unser städtisches Gedächtnis eingebrannt hat, eine lange Vorgeschichte hat und eine Geschichte hat, die mit Menschenvernichtung, mit Ermordung und Vertreibung von Menschen, mit Diktatur und Ausgrenzung zu tun hat.
Auch die Ausstellung, die wir der Verfolgungsgeschichte unserer jüdischen Mitbürger gewidmet haben, ist mir im Gedächtnis geblieben. Das haben wir später, auch in Publikationen, immer wieder aufgegriffen.
Ein anderes wichtiges Thema war sicherlich Jugendkultur in der DDR. Da haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie die DDR Jugendkultur und Bildung organisiert hat. Manches davon mag nicht verkehrt gewesen sein, aber manches war auch sehr eigenwillig indoktriniert und vom System gelenkt. Das hat sich tief ins Gedächtnis meiner Generation eingeprägt, unbewusst. Das ist natürlich das Ziel solcher undemokratischer Strukturen. Selbst wenn es Möglichkeiten gab, Einfluss zu nehmen, waren die sehr begrenzt und viele Menschen, die mehr Einfluss nehmen wollten, haben dafür auch gelitten, sind verfolgt und inhaftiert worden.
Diese Themen lassen mich immer wieder damit auseinandersetzen, was wir heute diskutieren. Wenn jemand auf der Straße ruft, er darf nichts sagen, ist das schon ein bisschen eigenwillig. Oder wenn sich bestimmte politische Gruppierungen auf den Herbst 1989 berufen, dann muss ich die Frage stellen, was bitte meinen Sie mit "Wir sind das Volk"? Worum geht es, wenn wir diese Losung rufen? Ob alles so geworden ist, wie es sich viele Menschen erhofft haben, ist ein ganz anderes Thema.
Natürlich gab es auch ganz andere Ausstellungen. Wir haben dem einen oder anderen Künstler aus Cottbus ein Podium geboten: Thomas Kleber, Hans-Georg Wagner, Günther Rechn. Wir hatten über viele Jahre die Chancen, das zu tun. Das gehört dazu, weil das unsere reiche Kultur ausmacht. Worauf ich stolz bin ist, dass wir Partner gefunden haben, mit denen wir seit 1997 in zwei Schriftenreihen ganz viele Publikationen auf den Weg bringen konnten. Darin konnten wir über diese Geschichte, diese Landschaft, diese Kunst etwas erzählen. Wenn man heute in den Bücherschrank schaut, steht da noch etwas. Ausstellungen werden immer wieder abgebaut, aber manche Ausstellung ist eben auch zwischen zwei Pappdeckel gewandert und das kann man nachlesen.
Sie bleiben dem Museum zwar weiterhin erhalten, aber nicht mehr als Leiter. Was wünschen Sie denjenigen, die weiterhin an ihrem alten Arbeitsplatz arbeiten?
Ich bleibe den städtischen Sammlungen der Stadt Cottbus verbunden, ich bleibe auch in den historischen Vereinen tätig, aber nicht mehr in verantwortlichen Funktionen. Ich werde inhaltlich arbeiten, werde Vorträge halten, die eine oder andere Publikation angehen.
Was ich mir wünsche ist, dass diese Stadt sich ihres Reichtums in den Museen und Sammlungen bewusst wird und dass sie nicht nur darauf achtet, diesen einfach zu sichern, also trocken zu lagern, sondern ihn nutzbar zu machen. Dafür bedarf es einer finanziellen und einer personellen Ausstattung. Glücklicherweise können wir am 1. Januar eine neue Mitarbeiterin begrüßen, die sich um die naturwissenschaftliche Sammlung kümmern wird. Aber eigentlich reicht das nicht.
Wir brauchen noch mehr Verstärkung, sowohl im Archiv, als auch im Wendischen und im Stadtmuseum. Das ist wichtig um diese Aufgabe, die eigentlich im Mittelpunkt steht, die Vermittlung, den Bildungsauftrag weiter zu fördern. Sie können aber nur das Vermitteln, was Sie erforscht haben. Sie müssen die Sammlungen kennen, die Objekte kennen, welche Geschichten sie erzählen und Sie müssen die historischen und naturkundlichen Rahmenbedingungen für diese Objekte erkunden, erforschen. Wir sind sicher nicht die große Forschungsinstitution, aber wir sind ein Ort, an dem das aufgesaugt und vermittelt wird.
Deshalb brauchen wir diese Verstärkung, um aktiv arbeiten zu können, um das Wissen in die Gesellschaft tragen zu können und um an diesem globalen Wissensprozess teilnehmen zu können. Museen sind keine Vergnügungsorte in dem Sinne. Sie sind sicher Kulturorte, aber sie sind in erster Linie Bildungsorte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Josefine Jahn für Antenne Brandenburg. Für die Online-Fassung ist es gekürzt und redigiert, inhaltlich aber nicht verändert worden.
Sendung: Antenne Brandenburg, 28.12.2023, 15:10 Uhr