Interview | Rechtsruck nach Europawahlen - "Macron hofft, dass die Franzosen vor diesem Schritt zurückschrecken"
In Frankreich hat der rechte "Rassemblement National" die Europawahl gewonnen. Präsident Macron hat deshalb Neuwahlen angesetzt. Auch in Deutschland zeigt sich ein Rechtsruck im Wahlergebnis. Mit feinen Unterschieden, wie Politologe Dominik Grillmayer erklärt.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat nach einer klaren Niederlage seiner liberalen Partei "Renaissance" bei der Europawahl (14,6 Prozent der Stimmen) verkündet, dass es am 30. Juni Neuwahlen in Frankreich geben wird. Der Grund: Der Sieg der französischen Rechtspopulisten des "Rassemblement National" (RN) von Marine Le Pen, die 31,36 Prozent der Stimmen gewonnen haben.
Was die Konsequenzen dieser Neuwahlen sein könnten, ist einen Tag nach den Europawahlen noch unklar – die Bildung einer rechtsextremistischen Regierung scheint im Nachbarland allerdings ein mögliches Szenario zu sein. In Ostdeutschland ist mit der AfD ebenfalls eine rechtspopulistische Partei als Gewinnerin aus den Europawahlen hervorgegangen. Der Politologe Dominik Grillmayer spricht im Interview mit rbb|24 über die Gemeinsamkeiten der rechtsnationalen Strömungen in Deutschland und Frankreich – und was beide voneinander trennt.
rbb|24: Herr Grillmayer, auf der Frankreichkarte sind die Farben des RN überall verteilt, in fast allen Gemeinden Frankreichs liegt er vorn. Wie kann man das erklären?
Dominik Grillmayer: In Frankreich hat man einen unaufhaltsamen Aufstieg von Marine Le Pen beobachtet, wie es auch bei anderen populistischen Strömungen in Europa und überall auf der Welt der Fall ist. Die Lösungen, die diese Parteien anbieten, sind nicht immer realistisch und plausibel, aber die Unzufriedenheit mit den politischen Eliten in Frankreich, aber auch in Deutschland, ist so groß, dass man bereit ist, diesen Parteien eine Chance zu geben.
Die "Dédiabolisation" - wortwörtlich "Entteufelung" - wie man im Deutschen sagt, hat beim RN funktioniert, indem man sich diffus äußert, man von radikalen Thesen ein Stück weit Abstand nimmt. Die Entwicklung des "Rassemblement National" ist nicht zu trennen von einer Weiterentwicklung der Einstellung zu Europa. Ein Austritt aus der EU oder aus dem Euro ist kein Thema mehr. Der RN bleibt aber bis zu einem gewissen Grad der Wolf im Schafspelz.
Und der Vergleich mit der AfD?
Die AfD hat durchaus schon radikalere Thesen. Marine Le Pen selbst hat auch angekündigt, die Zusammenarbeit mit der AfD auf europäischer Ebene zu beenden.
Was halten Sie von Macrons Schachzug der Neuwahlen: Kamikaze oder Respekt vor dem demokratischen Spiel?
Das ist fraglos ein extrem gewagtes Unternehmen, das er da losgetreten hat. Er hat damit auch im eigenen Lager sehr viele überrascht. Als Option war die Auflösung der Nationalversammlung schon länger im Raum, aber niemand konnte sich wirklich vorstellen, wann und wie. Dass sie jetzt unmittelbar, noch am Wahlsonntag, erfolgt, das hat viele verwundert.
Die Wähler haben die Europawahl als "Protestwahl" benutzt, um ihre Unzufriedenheit mit der innenpolitischen Situation in Frankreich zum Ausdruck zu bringen. Wenn es allerdings darum geht, zu wissen, wer in Frankreich zukünftig die Mehrheit im Parlament stellt und die Regierung bildet, dann muss man sich wirklich bekennen, ob man den RN auch unmittelbar in Verantwortung sehen möchte. Macron hofft mit seinem Schachzug, dass die Französinnen und Franzosen letztlich vor diesem Schritt zurückschrecken. Ob das Kalkül aufgeht, ist fraglich.
Wie wird Macrons Entscheidung in Deutschland aufgenommen, vor allem so kurz nach einem ziemlich erfolgreichen Staatsbesuch?
Der Staatsbesuch hat die Möglichkeit geboten, die deutsch-französische Freundschaft zu feiern, auch wenn bei der Zusammenarbeit wahrlich nicht immer eitel Sonnenschein herrscht.
Wir wissen, dass es in vielen Politikbereichen auch Probleme gibt, aber es besteht seit Jahrzehnten eine solide Basis für die Kooperation der beiden Länder. Der Schock der Entscheidung Macrons ist in Deutschland auch relativ groß, denn über längere Zeit sorgt man sich schon, wie es wohl in Frankreich weitergehen wird. Bislang galt, dass 2027, wenn Macron nicht mehr antreten darf, Marine Le Pen möglicherweise im vierten Anlauf das Präsidentenamt erobert. Und jetzt steht plötzlich die Option im Raum, dass der "Rassemblement National" schon in einigen Wochen oder Monaten Regierungsverantwortung übernimmt.
Wenn man die Karte von Frankreich und die Karte der sechs ostdeutschen Bundesländer vergleicht, sieht man Ähnlichkeiten. Wie kann man diese Ergebnisse in diesen beiden Gebieten vergleichen, die doch kulturell und geografisch so weit voneinander entfernt sind?
Wir haben es hier in Deutschland im Vergleich Ost/ West mit einem sehr spezifischen Ausgang zu tun, und es ist frappierend zu sehen, wie die Karte momentan aussieht.
Ich würde sagen, dass Veränderungen im Wahlverhalten in Ostdeutschland vielleicht auch damit zu erklären sind, dass die Bindungen an die etablierten Parteien weniger präsent sind. Und die Bereitschaft, mal anders zu wählen, größer. In Ostdeutschland und in Frankreich ist die Unzufriedenheit mit dem politischen Personal momentan besonders und vergleichbar groß. Man denkt dort, dass alle bisherigen Regierungen enttäuscht haben, und jetzt sind da zwei Parteien, RN und AfD, die, wie es für populistische Strömungen üblich ist, relativ einfache Antworten auf extrem komplexe Fragen liefern.
Mehr als ein Drittel der französischen Jugend hat sich dem RN zugewandt, ein Fünftel der deutschen Jugend der AfD. Wie kann man das erklären? Welche Rolle spielten die sozialen Netzwerke beim Aufstieg der AfD und des RN?
Wahrscheinlich gelingt es ihnen tatsächlich, die Sprache der Jugend zu sprechen. Ansonsten ist eines der Hauptargumente, warum junge Menschen sich für diese Parteien entschieden haben, dass sie vielleicht weniger einen Blick in die Vergangenheit haben.
Der RN hat für die Jugend in Frankreich nicht mehr das Gesicht dieser rassistischen Partei "Front national", sondern ist halt eine rechtskonservative und populistische Partei mit anderen Prioritäten als die übrigen Parteien. Der Umgang ist weniger komplex als für die ältere Generation, die Jean-Marie Le Pen noch kennt [den Vater von Marine Le Pen, Anm. d. Red.], und weiß, für welche steile Thesen er sich in seiner Zeit hinreißen hat lassen.
Und vielleicht ist das auch ein Teil der Erklärung in Deutschland, dass man mit dem Phänomen AfD umgeht, als handle es sich um eine ganz normale Alternative, dass man weniger die Parallelen zur Vergangenheit zieht.
Wie kann man den Deutschen erklären, dass Macron, der jüngste Präsident der fünften Republik Frankreichs, bei jungen Leuten nicht gut ankommt?
Es ist nicht so, dass er von Anfang an seine Wählerschaft unter älteren Französinnen und Franzosen hatte. Er hatte 2017 eine Jugendbewegung hinter sich.
Er ist aber ein klassisches Gewächs der französischen Elite und wird von vielen als weit weg von den Realitäten wahrgenommen. Seine sehr liberalen Thesen kamen bei den jungen Leuten einfach schlechter an. Es wird ihm auch eine gewisse Arroganz, eine Abgehobenheit, attestiert, was ihm nicht nur in den jungen Bevölkerung geschadet hat. Macron erklärt sich und seine Politik gerne und ausführlich. Aber die Omnipräsenz in der Öffentlichkeit kommt wahrlich nicht nur gut an.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Dominik Grillmayer führte Salomé Hénon-Cohin für rbb|24 Online.
Sendung: rbb24 radio3, 11.06.2024, 7:20 Uhr