Interview | Strukturwandel in der Lausitz - "Forschung allein reicht nicht – wir brauchen neue Industrie"

Die Lausitz will Europas erstes "Net Zero Valley" werden – ein Pionierprojekt für klimafreundliche Industrie. Markus Niggemann (CDU), Kämmerer der Stadt Cottbus, erklärt, warum die Region dafür beste Voraussetzungen hat.
- Die Lausitz will Modellregion für klimaneutrale Industrien werden
- Status als erstes Net Zero Valley Europas soll Strukturwandel langfristig absichern
- Im Mittelpunkt stehen Schlüsseltechnologien: Energiespeicherung, Wasserstoff, Sektorenkopplung
- Als erste Antragstellerin erzeugt die Lausitz europaweit Aufmerksamkeit und hofft auf schnelle Investitionen
rbb|24: Herr Niggemann, die Europäische Union hat im vergangenen Sommer das sogenannte Netto-Null-Industriegesetz beschlossen. Ziel ist es, saubere Technologien künftig verstärkt in Europa zu produzieren, um unabhängiger vom Weltmarkt zu werden. Die Lausitz will nun als erste Modellregion in Europa zeigen, wie das geht. Ist das nicht eine Nummer zu groß?
Markus Niggemann: Nein, überhaupt nicht. Wir befinden uns mitten im Strukturwandel. Wir waren und sind eine klassische Energieregion und wollen auch nach dem Kohleausstieg eine Industrieregion bleiben. Dafür brauchen wir neue Industrie. Und das passt perfekt zu uns: Wir haben freie Industrieflächen, Stromnetze, einen erneuerbare Energien-Überschuss und eine Bevölkerung mit einer positiven Einstellung zur Industrie. Vor allen Dingen sind im Rahmen des Strukturwandels von Zittau bis Cottbus viele spannende Forschungseinrichtungen in der Lausitz entstanden, rund um Dekarbonisierung und Energiewende. Das muss ausstrahlen auf die Wirtschaft.
Die EU nennt 19 Kriterien für Net Zero Valleys, die Lausitz konzentriert sich auf einige. Welche?
Im Fokus stehen Technologien, die wir für Klimaneutralität brauchen, also Batteriefabriken, Fabriken für die Produktion von Photovoltaik, Windrädern sowie Power-to-X-Technologien [Technologie um Stromüberschüsse in andere Energieträger umzuwandeln, Anm.d.Red.], um etwa Wasserstoff herzustellen. Unsere Stärken liegen bei der Energiespeicherung, der Umwandlung von Stromüberschüssen und der Sektorenkopplung. Wir haben dafür sowohl Unternehmen als auch Forschungseinrichtungen vor Ort.
Seit fünf Jahren läuft der Strukturwandel mit über zehn Milliarden Euro für die brandenburgische Lausitz. Warum braucht es trotzdem noch das Net Zero Valley?
Die Strukturwandelgelder sind doch irgendwann aufgebraucht, sie sind für einen Übergang gedacht. Danach muss die Region auf eigenen Beinen stehen. Die Forschungseinrichtungen etwa, die ich benannt habe, werden jetzt finanziert aus Strukturgeldern. Forschung allein reicht aber nicht, wir brauchen industrielle Anwendungen. Wenn diese nicht kommen, droht das Wegbrechen von Investitionen und Wissen. Und: In Asien und den USA geht es oft schneller, eine Fabrik zu bauen. Die EU will deshalb mit schnellen Genehmigungsverfahren gegensteuern. Das allein ist es aber nicht. Es geht auch um die Net Zero Academy: Es braucht Aus- und Weiterbildung, um die Fachkräfte für diese neuen Technologien zu qualifizieren.
Sie waren in Brüssel und haben den Antrag für das Net Zero Valley übergeben - wie geht es jetzt weiter?
Formal müssen nun die Bundesländer den Beschluss fassen. Wir können nicht genau sagen, wie lange das dauert, es kann Rückfragen geben, vielleicht noch Änderungen. Wir hoffen, dass das im Sommer gelingt. Parallel arbeiten wir an Strukturen vor Ort, um das Net Zero Valley auch mit Leben zu füllen. Wir müssen schnellere Genehmigungsprozesse und Bürokratieabbau auf kommunaler Ebene implementieren und diskutieren gerade ein Modellprojekt für eine KI in der Verwaltung. Wir kämpfen uns durch den Dschungel der Verantwortlichkeiten - durch Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Ministerien, zwischen Landes-, Bundes- und EU-Ebene. Aber wir erfahren auf allen Ebenen auch sehr viel Wohlwollen und Interesse über Bürokratieabbau nicht nur zu sprechen, sondern ihn auch tatsächlich mal umzusetzen.
Die Lausitz war von Anfang an vorne mit dabei. Ist das eher Abenteuer oder Belastung für Sie? Denn Sie sind im Hauptberuf Kämmerer und schultern jetzt auch noch dieses Riesen-EU-Pilotprojekt.
Beides. Es ist sehr spannend, aber auch zusätzliche Arbeit, die wir mit vorhandenem Personal stemmen. Aber alle sind hochmotiviert. Als die EU die Verordnung erarbeitet hat, haben wir uns entschieden, nicht zu warten, bis alles ausdetailliert ist, sondern eigene Vorschläge und Wünsche auf allen Ebenen in den Prozess einzubringen. Und wir werden gehört und können mithelfen, dass ein Net Zero Valley am Ende das auch ist, was wir uns davon erhoffen.
Nun ist Europa groß, und die Lausitz ist nicht die einzige interessierte Region. Spüren Sie, dass andere schon auf Sie schauen?
Ja, sowohl aus Deutschland als auch aus dem europäischen Ausland werden wir gefragt: Wie habt ihr das gemacht? Was habt ihr vor? Es gibt es auch unterschiedliche Ansätze: In manchen Ländern muss kein Antrag einer Region gestellt werden, sondern die Mitgliedstaaten erarbeiten selbst die Vorschläge für Valleys. Wir sind im Austausch. Wir freuen uns darauf, dass Andere auch Net Zero Valleys werden wollen, weil man gemeinsam mehr durchsetzen kann, etwa beim Bürokratieabbau., Aber wir sind glücklich darüber, die Ersten zu sein, wir haben dadurch den Vorteil, dass wir Einfluss nehmen können auf die Ausgestaltung eines Valleys. Wir erzeugen zudem unglaublich viel Aufmerksamkeit - überregional, innereuropäisch sogar außereuropäisch, weil mit dem Net Zero Valley überall die Lausitz verbunden wird.
Die EU-Ziele gelten bis 2030. Was erwarten Sie konkret in den nächsten Jahren für die Lausitz?
Unsere Hoffnung ist, dass wir durch diesen Prozess – die Aufmerksamkeit, die wir bekommen haben plus den Vorteilen, die wir durch das Net Zero Valley bieten können - einige große Investoren anziehen, die in der Lausitz Netto-Null-Technologien produzieren. Eigentlich müssen die Bagger, um die Fabrik dafür zu bauen, schon relativ bald anrücken. Erste Erfolge müssen schon in den nächsten ein bis zwei Jahren sichtbar sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mit Markus Niggemann sprach Andreas Rausch.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.04.2025, 14:05 Uhr