Interview | Strukturwandel in der Lausitz - "Forschung allein reicht nicht – wir brauchen neue Industrie"

Mi 09.04.25 | 08:10 Uhr
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Symbolbild: Energiepark Schipkau am 16.03.2023. (Quelle: picture alliance/imageBROKER/Sylvio Dittrich)
Audio: rbb24 Inforadio | 08.04.2025 | Gespräch mit Markus Niggemann | Bild: picture alliance/imageBROKER/Sylvio Dittrich

Die Lausitz will Europas erstes "Net Zero Valley" werden – ein Pionierprojekt für klimafreundliche Industrie. Markus Niggemann (CDU), Kämmerer der Stadt Cottbus, erklärt, warum die Region dafür beste Voraussetzungen hat.

  • Die Lausitz will Modellregion für klimaneutrale Industrien werden
  • Status als erstes Net Zero Valley Europas soll Strukturwandel langfristig absichern
  • Im Mittelpunkt stehen Schlüsseltechnologien: Energiespeicherung, Wasserstoff, Sektorenkopplung
  • Als erste Antragstellerin erzeugt die Lausitz europaweit Aufmerksamkeit und hofft auf schnelle Investitionen

rbb|24: Herr Niggemann, die Europäische Union hat im vergangenen Sommer das sogenannte Netto-Null-Industriegesetz beschlossen. Ziel ist es, saubere Technologien künftig verstärkt in Europa zu produzieren, um unabhängiger vom Weltmarkt zu werden. Die Lausitz will nun als erste Modellregion in Europa zeigen, wie das geht. Ist das nicht eine Nummer zu groß?

Markus Niggemann: Nein, überhaupt nicht. Wir befinden uns mitten im Strukturwandel. Wir waren und sind eine klassische Energieregion und wollen auch nach dem Kohleausstieg eine Industrieregion bleiben. Dafür brauchen wir neue Industrie. Und das passt perfekt zu uns: Wir haben freie Industrieflächen, Stromnetze, einen erneuerbare Energien-Überschuss und eine Bevölkerung mit einer positiven Einstellung zur Industrie. Vor allen Dingen sind im Rahmen des Strukturwandels von Zittau bis Cottbus viele spannende Forschungseinrichtungen in der Lausitz entstanden, rund um Dekarbonisierung und Energiewende. Das muss ausstrahlen auf die Wirtschaft.

net zero valley

Der Begriff "Net Zero Valley" bezeichnet eine Region, die sich zum Ziel gesetzt hat, klimaneutral zu werden, also Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Die Lausitz hat sich offiziell als erstes Net Zero Valley Europas beworben, um eine Modellregion für klimaneutrale Industrien zu werden. Am 18. März 2025 übergaben Vertreter der Region gemeinsam mit den Staatssekretären der Länder Sachsen und Brandenburg die Bewerbungsunterlagen in Brüssel.

Die EU nennt 19 Kriterien für Net Zero Valleys, die Lausitz konzentriert sich auf einige. Welche?

Im Fokus stehen Technologien, die wir für Klimaneutralität brauchen, also Batteriefabriken, Fabriken für die Produktion von Photovoltaik, Windrädern sowie Power-to-X-Technologien [Technologie um Stromüberschüsse in andere Energieträger umzuwandeln, Anm.d.Red.], um etwa Wasserstoff herzustellen. Unsere Stärken liegen bei der Energiespeicherung, der Umwandlung von Stromüberschüssen und der Sektorenkopplung. Wir haben dafür sowohl Unternehmen als auch Forschungseinrichtungen vor Ort.

Seit fünf Jahren läuft der Strukturwandel mit über zehn Milliarden Euro für die brandenburgische Lausitz. Warum braucht es trotzdem noch das Net Zero Valley?

Die Strukturwandelgelder sind doch irgendwann aufgebraucht, sie sind für einen Übergang gedacht. Danach muss die Region auf eigenen Beinen stehen. Die Forschungseinrichtungen etwa, die ich benannt habe, werden jetzt finanziert aus Strukturgeldern. Forschung allein reicht aber nicht, wir brauchen industrielle Anwendungen. Wenn diese nicht kommen, droht das Wegbrechen von Investitionen und Wissen. Und: In Asien und den USA geht es oft schneller, eine Fabrik zu bauen. Die EU will deshalb mit schnellen Genehmigungsverfahren gegensteuern. Das allein ist es aber nicht. Es geht auch um die Net Zero Academy: Es braucht Aus- und Weiterbildung, um die Fachkräfte für diese neuen Technologien zu qualifizieren.

zur person

Markus Niggemann.(Quelle:Maximilian Beyers)
Maximilian Beyers

Markus Niggemann

ist Betriebswirt und seit 2015 Beigeordneter und Kämmerer der Stadt Cottbus. Er ist Beisitzer im Kreisvorstand der CDU Cottbus und Mitglied im Landesfachausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten der CDU Brandenburg.

Sie waren in Brüssel und haben den Antrag für das Net Zero Valley übergeben - wie geht es jetzt weiter?

Formal müssen nun die Bundesländer den Beschluss fassen. Wir können nicht genau sagen, wie lange das dauert, es kann Rückfragen geben, vielleicht noch Änderungen. Wir hoffen, dass das im Sommer gelingt. Parallel arbeiten wir an Strukturen vor Ort, um das Net Zero Valley auch mit Leben zu füllen. Wir müssen schnellere Genehmigungsprozesse und Bürokratieabbau auf kommunaler Ebene implementieren und diskutieren gerade ein Modellprojekt für eine KI in der Verwaltung. Wir kämpfen uns durch den Dschungel der Verantwortlichkeiten - durch Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Ministerien, zwischen Landes-, Bundes- und EU-Ebene. Aber wir erfahren auf allen Ebenen auch sehr viel Wohlwollen und Interesse über Bürokratieabbau nicht nur zu sprechen, sondern ihn auch tatsächlich mal umzusetzen.

Die Lausitz war von Anfang an vorne mit dabei. Ist das eher Abenteuer oder Belastung für Sie? Denn Sie sind im Hauptberuf Kämmerer und schultern jetzt auch noch dieses Riesen-EU-Pilotprojekt.

Beides. Es ist sehr spannend, aber auch zusätzliche Arbeit, die wir mit vorhandenem Personal stemmen. Aber alle sind hochmotiviert. Als die EU die Verordnung erarbeitet hat, haben wir uns entschieden, nicht zu warten, bis alles ausdetailliert ist, sondern eigene Vorschläge und Wünsche auf allen Ebenen in den Prozess einzubringen. Und wir werden gehört und können mithelfen, dass ein Net Zero Valley am Ende das auch ist, was wir uns davon erhoffen.

Nun ist Europa groß, und die Lausitz ist nicht die einzige interessierte Region. Spüren Sie, dass andere schon auf Sie schauen?

Ja, sowohl aus Deutschland als auch aus dem europäischen Ausland werden wir gefragt: Wie habt ihr das gemacht? Was habt ihr vor? Es gibt es auch unterschiedliche Ansätze: In manchen Ländern muss kein Antrag einer Region gestellt werden, sondern die Mitgliedstaaten erarbeiten selbst die Vorschläge für Valleys. Wir sind im Austausch. Wir freuen uns darauf, dass Andere auch Net Zero Valleys werden wollen, weil man gemeinsam mehr durchsetzen kann, etwa beim Bürokratieabbau., Aber wir sind glücklich darüber, die Ersten zu sein, wir haben dadurch den Vorteil, dass wir Einfluss nehmen können auf die Ausgestaltung eines Valleys. Wir erzeugen zudem unglaublich viel Aufmerksamkeit - überregional, innereuropäisch sogar außereuropäisch, weil mit dem Net Zero Valley überall die Lausitz verbunden wird.

Die EU-Ziele gelten bis 2030. Was erwarten Sie konkret in den nächsten Jahren für die Lausitz?

Unsere Hoffnung ist, dass wir durch diesen Prozess – die Aufmerksamkeit, die wir bekommen haben plus den Vorteilen, die wir durch das Net Zero Valley bieten können - einige große Investoren anziehen, die in der Lausitz Netto-Null-Technologien produzieren. Eigentlich müssen die Bagger, um die Fabrik dafür zu bauen, schon relativ bald anrücken. Erste Erfolge müssen schon in den nächsten ein bis zwei Jahren sichtbar sein.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mit Markus Niggemann sprach Andreas Rausch.

Sendung: rbb24 Inforadio, 08.04.2025, 14:05 Uhr

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36 Kommentare

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  1. 36.

    Wo sind die Netzwerke des MP? Ähnlich wie andere MP das machen...
    Monatelang wurde vor den Landtagswahlen so berichtet, als wenn man „nur aus der Schlange auswählen und wer kommen darf“. Die Anzahl der Anrufe in der Wirtschaftsförderung galt als wichtige Kennzahl...

    P.S. „Wir haben bereits... jetzt ist mal der Bund dran“ könnte die anderen Bundesländer über die Jahre nerven.

  2. 33.

    Was mich immer wundert, es ist Wochenende, und egal wo man in Brandenburg hin fährt, man trifft immer reichlich Autos mit dem B auf dem Nummernschild.

  3. 32.

    Auch hier gilt - je lebensfeindlicher das Umfeld, desto weniger Unternehmen siedeln sich an. Es sei denn, das blaune Personal möchte wieder Schubkarren produzieren. Wer erwartet Mitgefühl von Leuten, die die Akt. Gesellschaft zerstören wollen und gleichzeitig ihre Angebote ablehnen? Schüsse ins eigene Knie sind vermeidbar, werden aber auch in Brandenburg 'gern" in Kauf genommen. So what...

  4. 31.

    War es nicht eine tolle Zeit, als man sich den Hintern am mit Lausitzer Kohle beheizten Ofen wärmen konnte und Mutti am Abend beim Schein der Glühlampen, die mit Lausitzer Strom versorgt wurden, Märchen vorgelesen hat. Ihr Gedächtnis ist wahrlich nicht das Beste oder Sie sind einfach zu jung.

  5. 30.

    Gebildete Frauen sind uns hier in Brandenburg schon willkommen, vor allem bei den 60% die nicht die AfD gewählt haben. Die weniger gebildeten Männer können gern dort bleiben wo sie sind. Sie tun immer aus, als wenn es in Brandenburg nur AfD Wähler gäbe, machen Sie endlich mal die Augen auf.

  6. 29.

    "Die Strukturwandelgelder sind doch irgendwann aufgebraucht...werden jetzt finanziert aus Strukturgeldern." Das nenne ich doch mal Fortschritt: die Töpfe aus denen man subventioniert werden wechseln einfach! Von "wir finanzieren uns selber" ist keine Spur, sondern es wird klar, dass hier ein totes Pferd geritten wird. Die Leute wollen Industrie- und Energieregion bleiben - ja, das wollen sie, aber mit Braunkohle, weil sie das kennen. Erneuerbare Energie trifft auf eine Bevölkerung die damit nichts anfangen kann und das alles nicht wollen.
    Woanders in Deutschland würde man einen wesentlich größeren Wirkungsgrad erzielen als dort und es ist schlimm, dass Steuergeld nicht unter solch pragmatischen und für die meisten richtigen Aspekten eingesetzt wird.

  7. 28.

    Also mit der Heimattreue kann es in der Lausitz nicht weit her sein. Da würde immer noch ein großer Teil der Bevölkerung den Braukohletagebau behalten wollen und dafür weitere Siedlungen wegbaggern lassen.

  8. 27.

    "Welche gebildete junge Frau möchte in dieses AfD Land ziehen, wenn es woanders gleiche Jobs gibt? Es ist leider so."
    Soll diese junge Frau nach ihrem Feierabend die S-Bahn in Berlin nehmen? Wohl eher nicht.

  9. 26.

    "... wer will schon noch in Berlin leben ". Richtig! Diese Stadt raubt einem soviel Energie....Dreck, Lärm, Gewalt, Drogensüchtige an jeder Ecke, Menschen liegen in den U-Bahnhöfen rum usw. Ich bin froh, demnächst hier wieder wegzukommen.

  10. 25.

    Könnte dem Dortmunder Niggemann mal jemand sagen, daß es die Wind- und Solarindustire schon alles mal gab im Osten und die einfach untergegengen ist?

  11. 24.

    "Die Forschungseinrichtungen etwa, die ich benannt habe, werden jetzt finanziert aus Strukturgeldern." Die werden auch später weiterhin Zuschußgelder brauchen und nicht aus eingenen Einnahmen leben können.

  12. 23.

    "Fabriken für die Produktion von Photovoltaik, Windrädern" Das gab es alles schon in Deutschland (Solar valley & um Ffo etc), hat man aber alles eingehen lassen, warum sollte es jetzt in Konkurrenz zu den Importen wirtschaftlich in der Lausitz funktionieren?

  13. 22.

    "einen erneuerbare Energien-Überschuss" Aber nur zeitweise.

  14. 21.

    Die Dörfer sterben nicht aus, bei uns kommen die Menschen aus Berlin und kaufen Häuser und Grundstücke. Kein Wunder, wer will schon noch in Berlin leben!

  15. 20.

    Typisch Berliner! Keine Ahnung von Heimat. Erkundigen Sie sich bitte erst über den Begriff Heimat und was das für Menschen bedeutet. Sowas überhaupt in den Mund zu nehmen, dass eine Region mit weniger als 100 Einwohnern je qkm keine Existenzberechtigung mehr hat, kann echt nur Berlinern einfallen.
    Mal so zur Info für Sie da: Um Berlin drumherum ist die normale Welt!

  16. 19.

    Die Frage, ob es wirklich hilft, 10 Mrd. € für eine Gegend mit weniger als 590000 Menschen (ca. 20000 € pro Nase) mit einem Durchschnittsalter Richtung 50 Jahre auszugeben, sollte durchaus gestellt werden. Wenn eine Region kritische Bestandswerte unterschritten hat, dann wäre es vielleicht sinnvoller, die Leute zu ermutigen, ihr Glück woanders zu suchen. Das Aussterben vieler Dörfer wird sich sowieso nicht aufhalten lassen, weil sie ihren wirtschaftlichen Zweck schon lange verloren haben. Im Ergebnis ist es doch schon jetzt so, dass dort überwiegend nur noch Alte oder Doofe leben. Selbst, wenn die Leute überwiegend Demokraten wären, würde das keine Industrie anlocken, weil schlichtweg die Geschäftsgrundlage fehlt. Und die kann man auch nicht mit Subventionen kaufen.

  17. 18.

    >"Es geht aber darum, dass man ein totes Pferd reitet."
    Welches tote Pferd denn? Die dort angesiedelten neuen Technologien mit Solar, mittelständischen Unternehmen, großem Bahnwerk, Erweiterung der Infrastruktur Verkehr und Eniergie, neue Tourismusmöglichkeiten mit den neuen Seen und einigem mehr? Und nicht zu vergessen die Umwelt! Die Heimat der Menschen dort würde sonst weiter weggebaggert werden.
    Wenn Sie hier mit den alten Geschichten Cargolifter kommen, reiten Sie tote Pferde. Und dass die Chipfabrik Pleite ging, lag nicht am Land Brandenburg, sondern am damals sich ändernden Weltmarkt mit staatlich subventionierter Billigproduktion in China. So weit mit 10 Jahren Vorschau kann kein Projektentwickler in die Zukunft schauen. Bei der Förderung von Solarproduktionen seinerzeit wars ähnlich. Einzig Cargolifter war echt ne Brandenburger Pleite. Ein wenig mal bitte auch die Hintergründe recherchieren, ehe Sie hier alte Kamellen rauskramen.

  18. 17.

    Am wichtigsten ist bei solchen Ideen wohl weiterhin Überschriftenpolitik, die dem Volk vormachen will, das die Politik einen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung einer Region hätte. Tatsächlich hängt die jedoch von Faktoren ab, die sich bestenfalls nur indirekt beeinflussen lassen. Und ob Verbesserungen der Verkehrsanbindung, der Bildungsangebote, der Gewerbeflächen und die dafür nötigen Subventionen dann wirklich zu einer erhofften positiven Wirtschaftsentwicklung führen, ist dabei nicht sicher. Aber für die Leute bleibt die Politik "der da oben" natürlich immer schuldig an Allem.