Interview | Protestforscher über "Letzte Generation" - "Die Frage ist sicherlich, ob sich das Festkleben auf Dauer abnutzen wird"
Fast täglich legen die Klima-Aktivisten der "Letzten Generation" den Verkehr auf Berlins Straßen lahm. Sie kleben sich mit den Händen an Straßen und Autos fest. Was ist von dieser Protestform zu halten? Fragen an den Soziologen Vincent August.
rbb24: Herr August, wie schätzen Sie die bisherigen Erfolge der "Letzten Generation" ein?
Vincent August: Grundsätzlich kann man sagen, dass die "Letzte Generation" sehr erfolgreich darin war, das Thema auf die Agenda zu heben. Die weiteren Erfolge muss man sich als ein System anschauen, wie die unterschiedlichen Protestgruppen zusammenarbeiten. Es gibt eine Art Flankeneffekt, das heißt die konfrontativeren Bewegungen spenden im Grunde dadurch, dass sie delegitimiert werden, eine Legitimation für die moderateren Bewegungen.
Die moderateren Teile der Bewegung, wie "Fridays for Future", profitieren davon, dass sie als die moderaten erscheinen, mit denen man kooperieren und zusammenarbeiten kann.
Das ist aber doch vermutlich nicht Sinn und Zweck der Aktion, dass man praktisch die anderen pusht, indem man selbst aktiv ist. Oder ist das auch ein Zweck?
Dazu müsste man die Bewegung selbst befragen, ob das ein Zweck ist. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Klimabewegung heterogen ist, – "Fridays for Future" will Allianzen bilden und die "Letzte Generation" ist stärker konfrontativ –, aber in ihren Zielen sind sie doch relativ geeint. Insofern kann man von einer Spaltung noch nicht reden.
Andererseits fordert eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine konsequentere Klimapolitik. Aber die Aktionen der "Letzten Generation" werden überwiegend verurteilt. Laut einer "Spiegel"-Umfrage sagen fast 80 Prozent der Befragten, dass sie diese Aktionen ablehnt. Das kann doch nicht im Sinne der Bewegung sein?
Dazu muss man erst einmal gucken, was die Ziele beziehungsweise die Funktion von Protestbewegungen sind. Sie besteht nicht zwingend darin, Mehrheiten zu organisieren, sondern in der Regel ist das erste Ziel, das Thema auf die Agenda zu heben. Und damit sind sie relativ erfolgreich gewesen.
Der zweite Punkt ist, dass wir auch aus britischen Studien erste Hinweise darauf haben, dass selbst bei radikalen Aktionen, die abgelehnt werden, trotzdem das Klimabewusstsein und das Bewusstsein für die Probleme wächst.
Der dritte Punkt wäre, dass es diesen Flankeneffekt gibt - das zwar diese spezifische Protestform abgelehnt wird, dadurch aber gerade die moderateren Formen profitieren. Wenn man das zusammen sieht, ergibt sich ein komplexeres Bild. Die Frage ist sicherlich, ob sich diese Protestform - insbesondere das Festkleben - auf Dauer abnutzen wird. Das ist sicherlich eine der großen Herausforderungen für die "Letzte Generation".
Die Frage ist ja auch, wie die Justiz dagegen vorgehen könnte. In Berlin und Brandenburg wird geprüft, ob die "Letzte Generation" möglicherweise eine kriminelle Vereinigung ist. Wie bewerten Sie den Stand der Dinge? Ist das noch legitim, was da läuft?
Insgesamt ist die Bearbeitung durch die Justiz natürlich interessant zu beobachten, weil es keine eindeutige Antwort im Rechtsrahmen darauf gibt und die einzelnen Gerichte das auslegen und sich dort auch erst eine entsprechende Rechtssprechung ausbilden muss. Was die konkrete juristische Beurteilung angeht, müssten Sie einen Juristen fragen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass die "Letzte Generation" zwar offensichtlich konfrontativer und in diesem Sinne radikaler ist als etwa "Fridays for Future", aber keine extrem radikale Bewegung in dem Sinne sind, wie man es von anderen Protestbewegungen durchaus kennt, wo Ermordung, Entführung und ähnliches zum Repertoire gehören. Davon sind wir im Moment doch weit entfernt.
Andererseits könnte man sagen, wenn andere auf die Idee kommen, diese Protestform auch zu wählen und sich festkleben, dann ist die Gesellschaft doch nicht mehr lebensfähig?
Ja, dabei muss man aber berücksichtigen, dass das mit relativ hohen Kosten verbunden ist für die Personen, die das machen, und mit relativ hohen Ressourcenaufwand. Insofern ist es etwas, was nicht jedem zur Verfügung steht und auch jeder nicht jeder gewillt ist, so etwas zu machen. Insofern ist die Angst, dass das jetzt jeder machen würde, überzogen in dem Sinne, dass wir eigentlich beobachten können, dass solche Protestformen mit enorm viel Commitment einhergehen müssen.
Man muss sehr stark an das Ziel gebunden sein. Das ist auch eine ganz interessante Verschiebung sozusagen von "Fridays for Future" zur "Letzten Generation". "Fridays for Future" hat erfolgreich Massenproteste organisiert. Das Problem von Massenprotesten ist aber, dass sie sehr selten auf Dauer auf dem gleichen Intensitätsniveau zu halten sind - eben weil es so viele Ressourcen kostet. Die "Letzte Generation" setzt hingegen auf sehr viel kleinere, homogenere Gruppen, wo das Commitment und die Ressourcen sehr viel stärker verfügbar sind, das also auch länger durchzuhalten ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Vincent August führt Dietmar Ringel für rbb24 Inforadio.
Der Text ist eine redigierte Fassung. Das Gespräch können Sie auch oben im Audio-Player nachhören.
Sendung: rbb24 Inforadio, 24.05.2023, 09:25 Uhr