"Letzte Generation" - Was der Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung bedeutet
Das Landgericht Potsdam hat erstmalig den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung bei der "Letzten Generation" bestätigt. Die Berliner Staatsanwaltschaft sieht diesen hingegen nicht. Welche Konsequenzen könnten den Aktivisten drohen? Von Jenny Barke
Um die Öl-Raffinerie in Schwedt zu stoppen, startete die "Letzte Generation" vergangenes Jahr mehrfach Attacken auf die Anlagen. Aktivisten verschafften sich unberechtigten Zugang zu dem Gelände, drehten die Hähne der Pipeline zu, ketteten sich an Rohren fest und verklebten sich miteinander. Schließlich hatten die Übergriffe gegen die PCK-Raffinerie Konsequenzen: Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ließ am 13. Dezember 2022 deutschlandweit Wohnräume der Klima-Aktivisten durchsuchen. An elf Orten wurden Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts Neuruppin vollstreckt.
Voraussetzung für einen Durchsuchungsbeschluss ist unter anderem, dass ein Anfangsverdacht vorliegt. In dem konkreten Fall der Anfangsverdacht, dass gemäß Paragraf 129 im Strafgesetzbuch [gesetze-im-internet.de] die Gründung oder Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gegeben sein könnte.
Wie Strafrechtlerin Judith Papenfuß von der Universität Hamburg dem rbb erklärt, liegt ein Anfangsverdacht vor, "wenn nach kriminalistischer Erfahrung Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine verfolgbare Straftat gegeben ist." Ein solcher Anfangsverdacht habe relativ niedrige Hürden - anders als ein hinreichender Tatverdacht, der für eine Anklageerhebung erforderlich ist. "Das ist dann der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft nach vorläufiger Tatbewertung zu der Prognose kommt, dass eine Verurteilung wahrscheinlich ist."
Anfangsverdacht schwer nachweisbar
Und um eine Anklage zu erheben, müsste bei diesem Anfangsverdacht ermittelt werden, dass der §129 erfüllt wird, also dass es sich bei der "Letzten Generation" um eine Gruppe von mindestens drei Leuten handelt, die sich nur zusammengeschlossen haben, um schwerere Staftaten zu begehen. Und genau hierin liegt die Krux: Denn es ist nur sehr schwer nachzuweisen, ob sich eine Gruppe direkt dazu verabredet hat, um Straftaten zu begehen oder ob sich diese Gruppe aus anderen Gründen zusammentut und später auch noch Straftaten begeht. Im zweiten Fall gilt sie nicht als kriminelle Vereinigung.
rbb-Gerichtsreporterin Lisa Steger weiß um die schwierige Einordnung der kriminellen Vereinigung aus anderen Fällen ihrer journalistischen Arbeit. Sie nennt als Beispiel die Gruppe von Neonazis aus dem Havelland, die im Sommer 2015 eine Turnhalle in Nauen abgebrannt hatte, damit dort keine Flüchtlinge einziehen. Diese sind damals auch als kriminelle Vereinigung angeklagt worden. "Verurteilt wurden sie dann aber wegen anderer Taten, denn es ließ sich nicht nachweisen, dass sie von vornherein nur die Absicht hatten, Straftaten zu begehen", erklärt Steger.
"Letzte Generation" legte erfolglos Beschwerde ein
Gegen die durchgeführten Durchsuchungsbeschlüsse im Auftrag der Staatsanwaltschaft Neuruppin legte die "Letzte Generation" Beschwerde ein. Wäre der Beschwerde stattgegeben worden, hätten die bei den Haus- und Wohnungsdurchsuchungen gefundenen Beweismittel im Falle einer Anklage vor Gericht eventuell nicht verwertet werden dürfen.
Doch das Landgericht Potsdam wies die Beschwerde ab und ist somit der Staatsanwaltschaft Neuruppin in der Auffassung gefolgt, dass ein Anfangsverdacht vorliegt. Die Konsequenz: Sollte sich der Anfangsverdacht durch die weiteren Ermittlungen verhärten, könnte Anklage erhoben werden. "Konkret ist die Frage, ob Einzelpersonen, die von Durchsuchungen betroffen waren, mitgliedschaftlich beteiligt waren und ob die 'Letzte Generation' überhaupt eine solche kriminelle Vereinigung darstellt", erklärt Strafrechtlerin Papenfuß weiter.
Berliner Staatsanwaltschaft sieht keine kriminelle Vereinigung
Einig sind sich die Juristen bundesweit jedoch noch nicht einmal beim Anfangsverdacht, der zu den Durchsuchungen geführt hat. Zuspruch für die Staatsanwaltschaft Neuruppin kommt von Brandenburgs Justizministerin Susanne Hoffmann (CDU): "Eine Gruppierung, die gemeinschaftlich darauf ausgerichtet ist, planmäßig Straftaten zu begehen", erfülle den Tatbestand, "auch wenn die Straftaten einem vermeintlich höherwertigen Ziel dienen sollen", teilte die Politikerin bereits im Dezember vergangenen Jahres mit.
Die Berliner Staatsanwaltschaft folgt der aktuellen Bewertung des Landgerichts Potsdam nicht. Die Mitglieder der "Letzten Generation" begingen zwar Straftaten, könnten also tatsächlich als kriminell bezeichnet werden. "Aber für diese Idee einer kriminellen Vereinigung muss das Ganze schon terrorismusähnlich sein, mit einer gewissen Erheblichkeit ausgestattet sein", sagte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft Sebastian Büchner am Mittwoch im rbb24 Inforadio.
Möglichkeit zu umfassender Überwachung
"Das, was die 'Letzte Generation' und die Klimaaktivisten insgesamt machen, ist ein dauerhaftes Lästigwerden. Aber das, was die Rechtssprechung fordert, nämlich eine wirkliche Erheblichkeitsschwelle gerissen wird, [...] dafür ist im Augenblick aus Berliner Sicht nichts ersichtlich", so der Staatsanwalt. Die Debatte unterliege aber einer permanenten Neubewertung.
Ist der Anfangsverdacht zur Bildung einer kriminellen Vereinigung aber wie von der Staatsanwaltschaft Neuruppin festgestellt worden, haben die Behörden weitreichende Handlungsmöglichkeiten, um die Aktivisten zu überwachen. Ermittler können dann unter anderem Personen observieren und Telefongespräche überwachen. Kritiker bezeichnen den §129 deshalb auch als "Schnüffelparagrafen".
Strafrechtlerin hält Tatbestand in §129 Abs. 3 Nr. 2 für einschlägig
Strafrechtlerin Judith Papenfuß sieht bei der "Letzten Generation" ebenfalls keinen Anfangsverdacht für die Strafbarkeit der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Gemeinsam mit Milan Kuhli, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Hamburg, hat sie in einem juristischen Gastbeitrag der "Kriminalpolitischen Zeitschrift" diese Frage diskutiert [kripoz.de]. "Warum die 'Letzte Generation' (noch) keine kriminelle Vereinigung ist", ist er überschrieben.
Für ihre Begründung muss man sich den §129 näher anschauen. Dieser enthält im ersten Absatz die Voraussetzungen des "objektiven Tatbestands" - die Papenfuß als erfüllt ansehen würde. Doch der dritte Absatz enthält einen sogenannten Tatbestandsausschluss: Der Absatz sagt, dass der Paragraf nicht anzuwenden ist, wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist.
"Der §129 soll die öffentliche Ordnung und den inneren Frieden in der Gesellschaft schützen", so Papenfuß. Ihr Argument: Die Bedeutung der Handlungen könnte deshalb daran gemessen werden, welche Auswirkung sie auf die Gesellschaft haben. Solch erhebliche Auswirkung könnte man Papenfuß zufolge etwa dann annehmen, wenn "grundlegende Rechtsgüter wie bspw. Leib oder Leben" betroffen sind. Dies sehe Papenfuß aber im Hinblick auf die "Letzte Generation" als nicht gegeben an.
"Noch" gewaltfrei?
"Die Aktionen führen dazu, dass Personen genervt sind, dass Eigentum beschädigt wird und vielleicht auch schlechte Stimmung auf den Straßen herrscht. Aber ich sehe nicht, dass der innere Frieden der Gesellschaft in einem Maße betroffen ist, dass die Bejahung der Strafbarkeit des §129 gerechtfertigt wäre."
Doch nicht umsonst würde das "noch" in Klammern stehen, so Papenfuß: "Das könnten umschlagen. Sofern sich das Verhalten und die Positionierung der 'Letzten Generation' verändert, wenn die Gewaltfreiheit, der sich die 'Letzte Generation' verschreibt, aufhört." Diesen Kipppunkt sehe sie aber nicht erreicht.
Mehrere Jahre Haft für andere Straftatbestände drohen
Andere Konsequenzen für die "Letzte Generation" sind wahrscheinlicher. Denn daneben erheben diverse Staatsanwaltschaften noch viele andere Vorwürfe. Wegen der Besetzung der Öl-Raffinerie in Schwedt drohen wegen Störung öffentlicher Betriebe bis zu fünf Jahre Haft. Wegen der Besetzung der Landebahn des Flughafens BER im November vergangenen Jahres drohen bis zu zehn Jahre Haft wegen des gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin teilte mit, sie ermittele wegen dieser und kleinerer Taten gegen eine mittlere zweistellige Zahl von Personen, da ist u.a. der Kartoffelbreiwurf gegen das Monet-Gemälde im Museum Barberini dabei. Doch auch bei diesen Ermittlungen gibt es noch keine Anklagen und somit keine Termine für Prozesse.
Sendung: rbb24 Abendschau, 17.05.2023, 19:30 Uhr