Soziologe über Social Media - "Die AfD hat verstanden, in den ersten zehn Sekunden ihre Inhalte zu vermitteln"
Der jüngste AfD-Wahlerfolg wird auch darauf zurückgeführt, dass sie auf Tiktok junge Menschen für sich gewann. Der Soziologe Özgür Özvatan erklärt, was die AfD im Netz anders macht - und wie sie schon in Parlamentsreden die sozialen Medien mitdenkt.
rbb: Herr Özvatan, stimmt es, dass so viele junge Menschen bei der Europawahl die AfD gewählt haben, weil die Partei in den sozialen Medien sehr aktiv ist?
Özgür Özvatan: Ein Faktor ist sicher, dass junge Menschen sich über politische Themen auf Tiktok informieren und die AfD auf Tiktok die dominante politische Partei ist. Ich möchte aber einschränken, dass viele junge Menschen auch Mitte-Links-Parteien und linke Parteien gewählt haben. Es braucht immer einen differenzierten Blick.
Sie haben gerade konkret Tiktok genannt. Geht es wirklich vor allem um Tiktok oder auch um andere soziale Netzwerke?
Es geht um ganz viele. Tiktok ist aber eine Plattform mit rasant steigenden Nutzer:innenzahlen. Sie ist mittlerweile die wichtigste Plattform. Tiktok begünstigt neue Accounts, das unterscheidet sie von anderen Plattformen. Das heißt, ich kann nur wenige Follower:innen haben und trotzdem mit einem Video mehrere Millionen erreichen. Das ist ein Unterschied zu Instagram und Facebook.
Woran liegt das?
Das liegt am Empfehlungsalgorithmus. Tiktok will, dass jedes Video die Menschen emotionalisiert, damit sie auf der Plattform bleiben.
Was macht die AfD in den sozialen Netzwerken und konkret bei Tiktok anders als andere Parteien?
Sie setzen mehr materielle Ressourcen ein auf dieser Plattform. Und weil sie mehr Ressourcen einsetzen, sind sie einfach viel professioneller. Sie haben früh damit angefangen und jetzt Marktanteile von über 70 Prozent. Die anderen politischen Parteien, vor allem die demokratischen, gehen jetzt erst auf die Plattform. Sie versuchen einiges nachzuholen, aber bislang gibt es eine Form von Marktmonopol für die AfD. Es ist immer schwierig, solche Marktanteile anzugreifen und in den Wettbewerb einzusteigen, wenn der Ressourceneinsatz und der Professionalisierungsgrad nicht stimmen.
Warum passen die AfD und die sozialen Netzwerke offenbar so gut zusammen?
Ein gängiges Argument ist, dass es an der inhaltlichen Verkürzung liegt. Aber dieses Argument ist nicht vollkommen schlüssig. Es liegt vor allem daran, dass sie wirklich verstanden haben, wie die verschiedenen sozialen Medien funktionieren. Sie kommunizieren plattformspezifisch und sie kommunizieren auch communityspezifisch. Sie richten sich zum Beispiel seit dem letzten Sommer gezielt an Türkeistämmige in Deutschland. Sie produzieren Inhalte speziell für sie, um ihr Wählerklientel zu maximieren.
Die AfD hat mit ihrer jahrelangen Erfahrung also auch einen Wissensvorsprung?
Die AfD hat einen Wissens- und einen Ressourceneinsatzvorsprung, mit dem sie die besseren Inhalte produzieren – wobei es nicht die besseren Argumente sind oder die besseren Reden. Es sind die technischen Details, die sie besser können.
Was könnten die anderen Parteien machen, um mehr junge Menschen zu erreichen über die sozialen Netzwerke, außer dass sie mehr Geld investieren?
Die demokratischen Parteien müssten Ressourcen einsetzen, um sich ein gutes Team und eine gute Peripherie aufzubauen. Die AfD profitiert ganz stark von ihrer Peripherie. Die Peripherie, das sind Inhalte von Drittaccounts, die der Partei Zuspruch generieren. Das sind Accounts, die auch mal sagen, dass sie nicht die AfD wählen würden. Sie inszenieren sich als freie Bürgerinnen und Bürger, aber in ihren Inhalten verbreiten sie die Programmatik der AfD. Deshalb muss es für demokratische Parteien darum gehen, so eine Peripherie aufzubauen. Sie müssen mit Influencern und Influencerinnen zusammenzuarbeiten, aber auch mit Wissenschaftler:innen und Social-Media-Professionals, die dann alle gemeinsam versuchen, das, was auf dem Spiel steht, zu verteidigen, nämlich die liberale Demokratie. Junge Menschen, vor allem junge Migrant:innen, müssen dabei als Kommunikationsexpert:innen, die sie als Social Media Natives sind, betrachtet werden. Davon sind wir weit entfernt.
Wie Sie sagten: Häufig heißt es, dass die AfD bei Social Media besonders gut funktioniert, weil sie Inhalte verkürzt darstellt. Spielt das denn aus Ihrer Sicht keine so große Rolle?
Doch, das spielt eine große Rolle. Wir wissen, dass junge Menschen im Allgemeinen, aber generell auch Tiktok-Nutzer:innen, einzelne Videos nicht lange konsumieren. Teilweise waren das in einer unserer Studien nur zehn bis 15 Sekunden für jedes einzelne Video. Das heißt, die Kernbotschaft muss in den ersten zehn bis 15 Sekunden vermittelt werden. Aber es werden auch mal Videos, die vier oder sieben Minuten lang sind, konsumiert, wenn sie interessant genug sind. Deswegen gibt es nicht dieses eine Rezept. Es geht darum, professionell darin zu werden, diese Inhalte zu produzieren. Was die AfD auszeichnet, ist, dass sie verstanden hat, in den ersten zehn Sekunden ihre Inhalte so vermitteln, dass Nutzer:innen sagen: "Ich habe die Botschaft verstanden, ich finde sie gut und deswegen hinterlasse ich einen Kommentar oder ein Like". Das führt dann wiederum zur Verbreitung. Oder sie hören sich das bis zum Ende an, weil sie es so toll finden. Das ist eigentlich nichts Neues für Medienschaffende und Politiker:innen, denn Medienschaffende arbeiten genauso: Sie versuchen eine scharfe Schlagzeile zu produzieren, einen guten ersten Absatz und dann kommt die Differenzierung. Auf Tiktok funktioniert das ähnlich.
In den ersten Sekunden die Kernbotschaft – ist es also vor allem eine Frage des richtigen Konzepts?
Das fängt nicht erst bei der Produktion an. AfD-Politiker:innen halten zum Beispiel ihre Reden im Parlament gern so, dass sie für Social Media genau passen: Es gibt einen 90-sekündigen oder 30-sekündigen Part, der inszeniert ist für Tiktok und in sich geschlossen ist, also einen eigenen Spannungsbogen hat. Das haben die Redner:innen schon im Kopf, bevor sie die Rede halten.
Sie hatten eingangs davon gesprochen, dass Tiktok versucht, die Nutzer:innen so zu binden, dass sie die Plattform möglichst gar nicht verlassen. Stellt das eine zusätzliche Herausforderung dar, wenn Menschen nur auf einer Plattform unterwegs sind?
Das ist die große Gefahr, wenn Menschen nur noch eine Plattform nutzen. Da müssen wir hinschauen, was da eigentlich passiert. Wenn eine Person nur eine Plattform nutzt, dann ist sie leichter zu radikalisieren und leichter zu manipulieren. Wenn sie mehrere Plattformen nutzt, dann balancieren sich die verschiedenen Algorithmen so aus, dass die Person in einem demokratischen Spektrum bleibt.
Herr Özvatan, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Leonie Schwarzer für die rbb24 Abendschau.
Sendung: rbb24 Abendschau, 14.06.2024, 19:30 Uhr
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