Wahlen in Berlin und Brandenburg - Linke suchen verzweifelt nach Erklärung für Debakel bei den Wahlen
Bei den Wahlen in Brandenburg und Berlin hat Die Linke zum Teil massiv an Stimmen eingebüßt. Viele frühere Wähler sind dem Wagenknecht-Bündnis gefolgt. Nun üben sich Linken-Mitglieder in Selbstkritik - und Ratlosigkeit.
Während die Vertreter der AfD als Wahlgewinner in Feierlaune sind, zählt die Linke neben SPD und Grünen zu den großen Verlierern. Selbst in ihrer einstigen Hochburg Frankfurt (Oder), mit dem Oberbürgermeister René Wilke im Amt, ist die Partei in der Gunst der Wählenden abgestürzt.
Bei der Wahl der Stadtverordnetenversammlung verlor sie an Zuspruch und landet mit 15,8 Prozent (sieben Prozentpunkte weniger als noch 2019) hinter AfD (28,6 Prozent) und CDU (22,9 Prozent) auf Platz drei.
Linke in Frankfurt: Wir müssen weg vom Horrorszenario
Die Kreisvorsitzende in Frankfurt (Oder), Anja Kreisel, sucht nach Erklärungen für das Debakel. Die Spaltung der Partei und die Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) seien nur ein Aspekt von vielen, sagt die 44-Jährige.
"Wovon wir einfach wegmüssen, ist immer dieses Horrorszenario aufzuzeigen, 'wenn dies und das nicht passiert, werden wir alle in Armut leben'". Vielmehr müsse die Partei bestimmmte Lösungen anbieten und diese dann deutlich hervorstellen. "Und dann muss gesagt werden: Kommt mit uns, kämpft mit uns oder seid laut."
Aufbau von unten mit neuen Gesichtern?
Dass die Linke die Menschen nur noch schwer erreicht, kann auch Fritz Viertel unterschreiben. Der Gemeindevertreter in Schöneiche (Oder-Spree) arbeitet im Potsdamer Landtag. Der 31-Jährige spricht von einem "niederschmetternden Ergebnis". Dennoch müsse die Partei wieder erste Adresse für die vielen sozial Benachteiligten werden.
Einer sterbenden Partei gehöre er aber nicht an. "Wir haben in den vergangenen Monaten bei uns vor Ort einen regelrechten kleinen Masseneintritt erlebt, mit einer ganzen Reihe von neuen, auch jüngeren Leuten, die Mitglied geworden sind", sagt Viertel. "Die haben unseren Wahlkampf getragen, teilweise für uns kandidiert und Bock darauf, die Linke von unten zu erneuern."
Kommen und Gehen der Mitglieder
Diesen glauben teilen längst nicht alle. Auf eine Erneuerung will Tobias Thieme jedenfalls nicht mehr warten. Er hat der Linken den Rücken gekehrt und will jetzt mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht die neue Kümmerer-Partei werden. Der 33-Jährige ist am Sonntag in die Gemeindevertretung Grünheide und in den Kreistag eingezogen. "Für mich ist es noch einmal der gute Versuch, endlich wieder pragmatische Politik für den Bürger zu machen, ohne persönliche Interessen in den Vordergrund zu stellen", sagt Thieme.
Als Konsequenz aus der Wahl zieht auch Frankfurts Oberbürgermeister René Wilke in Erwägung, seine Partei zu verlassen: "Meine Ambivalenz mit Blick auf der Partei ist ja allgemein bekannt. Vor Ort habe ich viele Leute, mit denen ich sehr gut arbeite. Aber spätestens auf der Bundesebene ist die Linke keine wirkliche politische Heimat", sagte Wilke dem rbb am Montag. Seine Entscheidung über einen möglichen Parteiaustritt soll in den kommen Wochen fallen.
Für Anja Kreisel und Fritz Viertel ist es hingegen keine Alternative, die Linke zu verlassen. Sie wollen im September in den Landtag einziehen.
Neue Konkurrenz durch ehemalige Mitstreiter
Katerstimmung herrschte am Montag auch im "Kieztreff Lebensnetz" in Berlin-Hohenschönhausen nach der Europawahl. Nirgends haben mehr Menschen das Bündnis Sahra Wagenknecht gewählt als an der Anna-Ebermann-Straße. Die Linke liegt dort nur noch bei 5,7 Prozent, stürzt erdrutschartig um 17,9 Punkte ab, das BSW schafft aus dem Stand 26,4 Prozent.
Dafür, warum die Menschen in Scharen von den Linken zu Sahra Wagenknecht übergelaufen sind, hat Robert Schneider eine Erklärung. Er war bis Ende vergangenen Jahres noch Co-Vorsitzender der Linken in Lichtenberg und ist jetzt Aufbauhelfer des BSW.
"Man konzentriert sich auf die Innenstadtbezirke und die großen Probleme, die hier vorhanden sind, wie beispielsweise soziale Infrastruktur, Ärzteversorgung, die Anbindung S-Bahnverkehr. Das alles ist hier die letzten Jahre nicht angegangen worden. Da war die Linke in Regierungsverantwortung. Das nehmen die Leute natürlich wahr, und es macht sich auf dem Wahlzettel bemerkbar."
Der Analyse seines ehemaligen Partei-Kollegen schließt sich auch Maximilian Schirmer an. Er ist Landeschef der Linken in Berlin und räumt ein: "Wir haben die Menschen dort nicht adressiert, die Anliegen nicht ernst genug genommen, sind nicht vor Ort gewesen und konnten uns wahrscheinlich auch nicht genug um die Probleme der Leute kümmern."
BSW will inhaltliche Lücken schließen
Dass das Wagenknecht-Bündnis bewusst ihre ehemalige Partei zerlegt, bestreitet hingegen Alexander King, der Landesauftrage der neuen Partei. "Wir sind hier jetzt nicht auf einem Rachefeldzug gegen die Linke oder so. Wir wollen eine politische Lücke schließen und das gelingt uns offensichtlich auch, weil viele der Meinung sind, dass bestimmte Positionen bisher im politischen Spektrum nicht abgebildet waren." Gemeint sind laut King damit unter anderem der Widerstand gegen weitere Aufrüstung im Ukraine-Krieg.
Für die Lichtenberger Linke ist der Durchmarsch des BSW ein Schlag ins Kontor. Die Bezirkschefin und Jugendstadträtin Camilla Schuler sucht beinahe verzweifelt nach Rezepten dagegen. "Die Linke und ich sind tatsächlich hier jeden Tag vor Ort", sagt Schuler. "Wir sind im Bezirk da, für die Menschen ansprechbar und finden Lösungen. Zu meinem Ressort gehört auch das Thema Kinderarmut. Wir bieten hier konkret Lösungen an, und das müssen wir viel deutlicher nach vorne stellen."
Die Linke in Existenznot
Laut dem Umfrage-Institut "Infratest dimap" haben bundesweit 470.000 ehemalige Linken-Anhänger diesmal BSW gewählt [tagesschau.de]. Viel tiefer, so der Lichtenberger Linken-Abgeordnete Sebastian Schlüsselburg, kann seine Partei kaum sinken. "Wenn es uns nicht gelingt, bis zur Bundestagswahl wieder den Mehrwert für die Menschen vor Ort hier in den Kiezen deutlich zu machen, dann steht die Existenzfrage, und dann wird sie wahrscheinlich auch negativ beantwortet. Da sind wir aber noch nicht, wir haben die Chance, es noch zu schaffen, aber so schwer war es noch nie."
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, Abendschau, 10.06.2024, 19:30 Uhr
Mit Material von Michael Lietz und Boris Hermel