Betrug mit Scheinfirmen - Wie kriminelle Netzwerke die Sozialkassen plündern
Mit erfundenen Arbeitsverhältnissen und Briefkastenfirmen verschaffen sich organisierte Tätergruppen Zugang zu staatlichen Leistungen. Der Schaden für die gesetzlichen Sozialkassen geht jährlich in die Millionen. Von A. Bartocha und S. Goldau
- Organisierter Sozialbetrug mit Scheinfirmen führt zu Millionenschaden
- Kriminelle nutzen vermögenslose "Strohmänner" aus Osteuropa
- Spitzenverband der Krankenkassen fordert besseren Datenaustausch
Im Herbst 2019 beurkundet ein Berliner Notar den Wechsel des Gesellschafters und Geschäftsführers einer Immobilienfirma. Die Firma ist überschuldet, das Unternehmen faktisch zahlungsunfähig, ein regulärer Geschäftsbetrieb nicht mehr erkennbar. Der neue Verantwortliche: ein polnischer Staatsbürger, der bislang noch nie als Unternehmer in Erscheinung trat. Ein sogenannter "Strohmann". Er ist nun für die Firma verantwortlich und haftet für alle Schulden.
Kurz nach dem Notartermin verschwindet der neue Geschäftsführer. Die Firma jedoch besteht – zumindest formal – weiter. Die ursprünglichen Eigentümer des Unternehmens, die eigentlich Insolvenz hätten anmelden müssen, haben sich mit dem neuen polnischen Eigentümer und Geschäftsführer aller Probleme entledigt. Die Gläubiger versuchen vergeblich, ihn aufzuspüren.
Mit solchen Konstellationen hat der Berliner Fachanwalt für Insolvenzrecht Joachim Heitsch regelmäßig zu tun. Im Gespräch mit rbb24 Recherche bestätigt er, dass es sich bei dem Fall um ein inzwischen weit verbreitetes Problem handelt: "So was passiert laufend. Man kann sagen, dass das inzwischen ein Mengenphänomen ist."
Strohmänner, Scheinverträge, Scheinarbeit
Heitsch warnt: Sogenannte "insolvente Firmenhüllen" wie die der Berliner Immobilienfirma werden nicht nur eingesetzt, um Insolvenzverfahren hinauszuzögern, sondern auch gezielt für alle möglichen Arten von Sozialbetrug genutzt. Eine weitere Masche beschreibt Heitsch so: "Sie melden auf eine GmbH, die schon pleite ist, mal eben 30 Arbeitnehmer an, zahlen aber keinen Pfennig an Sozialversicherungsbeiträgen."
Genau das geschieht im Fall der eingangs erwähnten Berliner Immobilienfirma. Kriminelle Hintermänner des verschwundenen Strohmanns melden über das Unternehmen rund 40 Scheinbeschäftigte bei insgesamt neun Krankenkassen an – auf Basis gefälschter Arbeitsverträge. Später stellt sich heraus: Die gemeldeten Personen arbeiten nicht, viele halten sich im Ausland auf, manche sind gar nicht auffindbar. Sozialbeiträge werden keine abgeführt – nach rbb-Recherchen über Jahre hinweg. Trotzdem haben die angeblich Beschäftigten Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung: Kranken- und Arbeitslosengeld.
Kommt es beispielsweise zu einer Krankschreibung, kann der angebliche Arbeitgeber sogar die Erstattung der Lohnfortzahlung beantragen – obwohl er nie Beiträge gezahlt hat. Die angeblich Beschäftigten haben natürlich auch Anspruch auf ärztliche Behandlung.
Die Beitragsschulden der Immobilienfirma belaufen sich nach rbb-Recherchen auf rund 900.000 Euro. Erst drei Jahre nach der Übergabe an den polnischen Geschäftsführer stellt die AOK Nordost einen Insolvenzantrag.
"Einfallstor in das deutsche Sozialversicherungssystem"
Krankenkassen sind nach eigenen Angaben kaum in der Lage, solche Konstrukte frühzeitig zu erkennen. Ralf Selle, Beauftragter zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei der AOK Nordost, erklärt: "Diese Scheinfirmen sind ein Einfallstor in das deutsche Sozialversicherungssystem."
Die Kassen, so Selle, müssten sich erstmal auf die Angaben der Arbeitgeber verlassen: "Die Krankenkassen müssen davon ausgehen, dass die gemeldeten Daten korrekt und rechtmäßig sind – eigene Kontrollen sind nicht vorgesehen." In der Praxis führt das dazu, dass Menschen über lange Zeit versichert bleiben und Leistungen beziehen, obwohl sie nicht arbeiten und keine Beiträge für sie abgeführt werden.
Beitragssäumnisse werden häufig erst spät erkannt. Das gesetzlich vorgesehene Verfahren – Mahnung, Pfändung, Insolvenzantrag – kann sich lange hinziehen. "Dieser Prozess kann sich – je nach Fall – über viele Monate hinziehen, vor allem dann, wenn zusätzlich ein Inhaberwechsel erfolgt", sagt Selle.
Strukturen mit System
Dem rbb vorliegende Dokumente und Gerichtsurteile zeigen: Hinter solchen Scheinanmeldungen stehen oftmals organisierte Netzwerke. In Sachsen nutzten mehrere Angeklagte familiäre und wirtschaftliche Verbindungen, um sich gegenseitig anzumelden, Gehälter zu fingieren und gezielt Krankmeldungen einzureichen. Der Schaden: rund 600.000 Euro.
In Berlin sprach das Landgericht im Jahr 2023 einen Angeklagten wegen Dutzender Fälle von Leistungsbetrug schuldig. Das Vorgehen ähnelte dem in der beschriebenen Immobilienfirma: Ein Unternehmen ohne reale Geschäftstätigkeit, Anmeldung von Scheinarbeitnehmern, Anträge bei verschiedenen Krankenkassen. Erstattung von Krankengeld nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG). Der entstandene Schaden: knapp eine halbe Million Euro. Besonders bemerkenswert: Nach Ansicht der Richter hätten die Kassen es dem Täter "durchaus leicht gemacht", da "Prüfungen, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich durchgeführt worden" seien.
In Nordrhein-Westfalen gibt es derzeit nach rbb-Recherchen mehrere zusammenhängende Fälle: mehrere Arbeitgeber, gleichlautende E-Mail-Adressen, identische Kontoverbindungen, gleiche Nationalität, wiederkehrende Namen und Adressen – alles Hinweise auf gezieltes Zusammenwirken. Teilweise erfolgten Anmeldungen gleichzeitig bei mehreren Krankenkassen. Das Ziel war anscheinend, möglichst viele Leistungen zu beantragen, bevor Unregelmäßigkeiten auffallen.
Forderung nach besserem Datenaustausch
Der GKV-Spitzenverband, der bundesweite Verband der Krankenkassen, spricht von "gezieltem, bandenmäßigem Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt". Die Nutzung von Scheinfirmen sei ein "relevantes Problem für das deutsche Gesundheitswesen". Sprecher Florian Lanz sieht den Kern des Problems im fehlenden Austausch zwischen den Sozialversicherungsträgern. Es brauche dringend "einen besseren Informationsaustausch zwischen Krankenkassen, Rentenversicherung und Arbeitsagenturen, um solche Strukturen frühzeitig zu erkennen".
Derzeit könnten auffällige Muster – wie auffällig starke Gehaltserhöhungen oder Mehrfachanmeldungen – nicht automatisch erkannt werden. Die gesetzlichen Grundlagen für einen ressortübergreifenden Datenabgleich fehlten. "Wir reden hier aber von etlichen Millionen Euro Schaden jährlich", sagt Lanz.
So fließen Leistungen aus dem Sozialversicherungssystem in kriminelle Strukturen. Die Berliner Firma ist mittlerweile im Zuge des Insolvenzverfahrens aufgelöst. Die 40 Scheinangestellten, der polnische Geschäftsführer und seine Hintermänner sind weiterhin nicht auffindbar. Nach rbb-Informationen war die Firma Teil eines größeren internationalen kriminellen Netzwerks.
Sendung: rbb24 Abendschau, 11.04.2025, 19:30 Uhr
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