Interview | Wirtschaftsexperte über Finanzlage - "Der Erfolg des 1. FC Union steht auf tönernen Füßen"
Zieht der 1. FC Union in die Champions League ein, stößt er auch finanziell in andere Sphären vor. Doch wie sehen die Bilanzen aktuell aus? Es gebe viel Nachholbedarf, sagt Wirtschaftsexperte Henning Zülch - und kündigt einen schwierigen Spagat an.
rbb|24: Herr Zülch, vier Spieltage vor Schluss hat der 1. FC Union beste Chancen auf den Einzug in die Champions League. Sportlich staunt Fußball-Deutschland Saison für Saison. Wie überraschend ist dieser Erfolg für Sie als Wirtschaftsexperte?
Immer noch sehr überraschend, weil die nackten Zahlen eigentlich eine andere Sprache sprechen. Wer sich diese Zahlen anschaut - die nicht direkt vom Verein kommen, sondern von der DFL (Deutsche Fußball-Liga, Anm. d. Red.) veröffentlicht werden - sieht, dass Union nach wie vor mit sehr viel Risiko unterwegs ist. Das äußert sich dadurch, dass der Verein ein negatives Eigenkapital hat. Aus der bilanziellen Sicht betrachtet bedeutet das eine formelle Überschuldung und damit eine durchaus schwierige Situation für den Klub.
Die Zahlen, die der 1. FC Union selbst auf der Mitgliederversammlung im Dezember veröffentlichte, ließen alles deutlich positiver aussehen: Nach Verlusten in der Corona-Zeit hat der Verein zuletzt Gewinn erwirtschaftet. Und zum Ende der Saison 2022/23 will er demnach erstmals ein positives Eigenkapital ausweisen ...
Ja gut, was erwarten Sie. Man kann eigentlich nur nach den harten Zahlen gehen. Das sind für mich die, die die DFL veröffentlicht und die die Grundlage der Lizensierungsunterlagen sind. Die aktuellsten Daten der DFL, die öffentlich verfügbar sind, sind die zum Ende des Geschäftsjahres 2021. Der Verein arbeitet in seiner aktuellen Kommunikation indes schon mit den Zahlen zum Geschäftsjahresende 30.06.2023. Da können wir sehen, dass es eine Umsatzsteigerung geben und der Klub auch einen Gewinn erzielen wird. Union macht ungefragt eine sehr gute Entwicklung durch. Nur ist diese mit Vorsicht zu genießen.
Warum genau?
Es ist immer die Frage, ob es einem Klub gelingt, das Eigenkapital auf ein Level zu fahren, das eine vernünftige Größe hat. Um ein Beispiel zu geben: In der Saison 2020/21 hatte Union eine Eigenkapitalquote von minus 62 Prozent (Verhältnis des Eigenkapitals zu den gesamten Vermögenswerten, Anm. d. Red.). Im Liga-Durchschnitt waren es zur selben Zeit etwa plus 41 Prozent. Und das Eigenkapital braucht man, weil es Verluste abpuffert.
Sie meinen: In sportlichen Dürrejahren würde der Verein als Ganzes wackeln?
Es steht alles auf tönernen Füßen. Man plant berechtigterweise aufgrund der vergangenen Jahre mit einem höheren sportlichen Erfolg. Dirk Zingler(der Präsident des 1. FC Union, Anm. d. Red.) hat gesagt: 'Wir müssen uns sportlich weiterentwickeln, dann werden wir auch wirtschaftlich gesünder.' Aber man hat sich nicht vernünftig abgesichert, weil man noch die Belastungen aus dem vergangenen Jahrzehnt vor sich herträgt. Union muss jetzt auf die Champions League hoffen. Da bekommt man in der Gruppenphase rund 20 Millionen, wenn man nicht ganz ungeschickt auftritt. Dieses Geld, das Union verwenden kann, stammt also aus Prämien und je weiter der Klub in den Wettbewerben vordringt, desto höher werden auch die TV-Einnahmen, Merchandising und alle diese Komponenten. Die internationale Sichtbarkeit wird größer, der Klub wird auch von Sponsoren ganz anders wahrgenommen - und gleichzeitig stärkt er seine Position als Nummer-eins-Player in Berlin.
Sie setzen schon zum 'aber' an ...
Ja, denn das Problem ist, dass die Aufwendungen auch steigen - zum Beispiel beim Blick aufs Personal. So ist die Personalaufwandsquote, also der Anteil der Personalaufwendungen an den Gesamterlösen, von 2019 bis 2021 von 42 Prozent auf 58 Prozent angestiegen - Tendenz weiter steigend. Im neuen DFL-Wirtschaftsreport haben wir indes einen Bundesliga-Durchschnitt für den vergleichbaren Zeitraum von gut 40 Prozent. Der 1. FC Union liegt also über dem Durchschnitt. Das hat auch damit zu tun, dass Begehrlichkeiten geweckt werden. Das gilt für die Spieler, die da sind - und auch für Transfers. Gerade Letztere werden plötzlich teurer. Die Berater wollen auch ihr Geld haben. Es steigert sich also alles, auch die Aufwendungen.
Wie kann ein Verein darauf reagieren?
Union hätte schon längst stärker in die Nachwuchs-Infrastruktur investieren müssen. Im Gegensatz zu Hertha BSC steht man eigentlich noch ganz am Anfang, hat im Grunde kaum Erfolge. Aber nur so kann sich ein Verein unabhängiger vom Transfermarkt machen. Es braucht Nachwuchstalente, die in die eigene Profimannschaft hochgeführt und dann gegebenenfalls teuer weiterverkauft werden. Union Berlin ist meines Erachtens - wie wir alle - sehr überrascht worden vom eigenen sportlichen Erfolg. Es kommt jetzt Geld rein in den Klub, aber man merkt, dass es infrastrukturelle Defizite gibt. Es muss jetzt an vielen Stellen investiert werden, sei es ins Nachwuchsleistungszentrum oder die Kapazität des Stadions. Das kostet Geld, das dann womöglich an anderer Stelle fehlt. Das wird ein großer Spagat.
Präsident Dirk Zingler hat bei der letzten Mitgliederversammlung genau das benannt und die "größte und wichtigste Investitionsphase unserer Geschichte" angekündigt. Das ist - wenn ich Ihrer Argumentation folge - Risiko und Notwendigkeit zugleich.
Richtig. Denn wenn ein Verein langfristig in der Bundesliga Erfolg haben will, muss er sich von gewissen Faktoren unabhängig machen. Er braucht zum einen - wie beschrieben - ein kontinuierliches Portfolio von Jugendspielern, das er in die erste Mannschaft führen und am Transfermarkt anbieten kann, um das auch als Geschäftsmodell zu nutzen. Zum anderen müssen gewisse Umsatzströme stabilisiert werden. Dazu zählen die Zuschauereinnahmen. Dieses Geld braucht man - das haben wir in der Corona-Zeit gesehen, als es plötzlich fehlte. Es sind zwar in der Bundesliga nur rund zehn Prozent der Gesamt-Erlöse. Aber mit VIP-Boxen oder dem Ausbau der Sitzplätze können die Einnahmen gesteigert werden. Kurzum: Ich muss mich strategisch aufstellen. Der sportliche Erfolg kann nicht alles sein, auf das ich setze. Substanz muss her.
Es klingt, als habe - nach Ihrer Einschätzung - der Verein Union Berlin als Ganzes mit der fußballerischen Entwicklung im Eiltempo nicht mithalten können.
Es ist im Grunde wie bei einem gut laufenden Start-up-Unternehmen. Man kommt von null auf hundert, aber die Organisation und ihre Fähigkeiten sind noch nicht so gewachsen, dass man mit den etablierten Kräften auf Augenhöhe ist. Ich meine, Union steht da oben in der Tabelle mit Klubs wie Bayern, Dortmund oder auch Leverkusen und Freiburg. Da hat man ja eigentlich, wenn man ehrlich ist, nichts zu suchen. Das überrascht und überfordert sicherlich die Organisation, die organisch wachsen muss. Jetzt sind Schnelligkeit und gleichzeitig Weitsicht und strategisches Geschick gefragt. Und da ist immer die Frage: Hat man das in einem Fußballklub, der eher dem Tagesgeschäft zugewandt ist?
Enden wir mit einer Prognose: Trauen Sie dem 1. FC Union zu, langfristig seinen Erfolg zu bestätigen?
Entscheidend ist: Wie definiert man diesen Erfolg. Der SC Freiburg zum Beispiel hatte vor den jüngsten Erfolgen einmal gesagt, er wolle Top-20-Klub in Deutschland sein. Das bedeutet am Ende auch, dass man durchaus mal absteigen kann. Man ist realistisch und hat eine moderate Erwartungshaltung, die den Klub nicht überfordert. Auch für den 1. FC Union gilt: Schneller, weiter, höher wird nicht funktionieren. Dafür ist die Substanz zu tönern. Aber wenn der Klub die Chance nutzt und mit dem Geld, das er durch den europäischen Wettbewerb erhält, auch die Verbindlichkeiten und das Eigenkapital in den Griff zu bekommen, kann er sich langfristig in der ersten Liga halten. Es wird Zeiten geben, da bin ich aufgrund der finanziellen Situation fest von überzeugt, in denen der sportliche Erfolg ausbleiben und Union eine Durststrecke haben wird. Dann wird sich zeigen, ob man es geschafft hat, die Substanz aufzubauen, um wettbewerbsfähig zu sein.
Danke für das Gespräch!
Das Interview führte Johannes Mohren, rbb Sport.
Sendung: rbb24, 06.05.2023, 18 Uhr