Kritik | Tanzfestival "Breathing Rivers" in Berlin -
Ein Ritual-Tanz auf einer Wiese am Ufer der Spree und ein Tanzstück unaufhörlicher Veränderung: Diese beiden Choreographien gab es am Mittwochabend bei der Eröffnung des Festivals "Breathing Rivers" im Berliner Radialsystem. Von Frank Schmid
Am Ufer der Spree reihen sich die gut 40 Tänzerinnen auf, die die Choreographin Amanda Pina für ihr Stück "Frontera/Procesion – Un Ritual de Agua" ("Grenze/Prozession – Ein Wasser-Ritual") zusammengestellt hat. Es sind Profi-Tänzerinnen ihrer eigenen Company dabei und Laien-Tänzerinnen aus Berlin, jung und alt, die Mehrheit People of Color, alle mit schwarzen T-Shirts und glitzerbunten Röcken.
Vor diesem Stehen am Spreeufer werden die Tänzerinnen auf der Terrasse des Radialsystems mit einem Rauch-Ritual geweiht, bevor sie, gefolgt von den Zuschauern und zum Staunen der Passanten, tanzend die Straße hinunter zur Spreeufer-Wiese ziehen.
Schreit-, Sprung- und Drehtanz zu Trommelmusik
Dort auf der Wiese hat Amanda Pina sie in ihren transformierten Ritual-Tanz geschickt. Ein Tanz aus der Grenzregion zwischen Mexiko und den USA, ursprünglich von indigenen Menschen getanzt, wohl ausschließlich von Männern, später dann von den spanischen Eroberern für koloniale Zwecke, für Macht-Demonstrationen überformt und heute ein Tanz des Widerstands und der Freiheit.
In der Form von Amanda Pina ist das ein Schreit-, Sprung und Drehtanz mit zunehmend komplexer werdenden Schrittfolgen. Zunächst schwanken und wanken die Tänzerinnen nur leicht hin und her, während ihre Füße zum Trommel-Rhythmus auf den Boden tippen. Dieses Antippen, dieses Andeuten von Bewegungen wird immer kraftvoller zu der aufputschenden Trommel-Musik, mündet in einen machtvollen Massentanz aller 40 Frauen in synchronen Bewegungen.
Macht und Stärke und Achtsamkeit
Und so ist diese Choreographie mit ihrer Anlehnung an Spiritualität und Feminismus eine Demonstration von Kraft und Stärke, aber auch von Achtsamkeit gegenüber der Natur und den Mit-Tänzerinnen. Sie ist ein Ausblick auf mögliche Trance-Zustände, die mit diesem Tanz sicherlich zu erreichen sein könnten und ist so etwas wie ein In-Kontrakt-Treten mit den Ahnen, den Göttern, den Elementen der Natur. Ein beeindruckendes Stück von Amanda Pina, der Choreographin mit Wurzeln in Mexiko und Chile, die heute in Wien und Mexiko-City lebt und arbeitet.
Lina Gomez: "Vagarosas", Uraufführung
Ganz anders hingegen das zweite Tanzstück "Vagarosas" ("Die Gemächlichen") von Lina Gomez, der Choreographin, die aus Kolumbien stammt, in Brasilien und Berlin Tanz studiert hat und die schon mit ihren ersten Choreographien noch während ihres Studiums am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin begeistern konnte. Damals und in einigen Folgestücken hat sie ihre zumeist nackten Tänzerinnen und Tänzer sich in unendlicher Langsamkeit über die Bühne rollen und wälzen lassen, die Körper in Schatten-Dunkelheit-Welten zu verformten Skulpturen modelliert.
Stockungen, Stauungen – Neujustieren der Körper
In "Vagarosas" schlingern und torkeln die fünf Tänzerinnen in gehemmtem Fließen, in Stockungen und Stauungen über die Bühne. Wobei in ihren Bewegungen einzelne Körperteile betont hervorgehoben werden, mit nach vorn gestülpten Schultern oder Bein-Stellungen, als wären sie in den Gelenken ausgerenkt oder mit schief vibrierenden Hüften. Die Körper sind in sich verdreht und werden durchgerüttelt im Schlenkern und Kippeln. Und jede einzelne Bewegung, jede Haltung und Position ist immer völlig fragil – das ist wie ein unaufhörliches Neujustieren des Körpers.
Energie, die zu ständiger Umwandlung führt
Das wirkt unstet und irritierend und zieht den Beobachter zunehmend in den Bann, denn die Basis dieser Bewegungen der Unruhe und scheinbaren Haltlosigkeit ist eine unüberwindbare Kraft, eine Energie, die zu ständiger Veränderung drängt, ohne dass dies ein zielgerichtetes Handeln sein müsste. Alles, was ist, entwickelt sich, wird umgewandelt und umgeformt – letztlich wie das Wirken der Natur.
Im Kontrast dazu erklingt ein meditativer Gesang, ein folkloristischer und auch rituell wirkender Gesang einer Sängerin und in einer Szene kommunizieren die Tänzerinnen untereinander und mit der Sängerin in einer Art Ruf-Gesang, mit kurzen ausgestoßenen Lauten, wodurch der Tanz noch kreatürlicher wirkt.
Lina Gomez hat einmal mehr zu einer erstaunlichen, höchst eigenständigen Tanzsprache gefunden, zu einem Ausdruck völliger Unabhängigkeit und Freiheit im Umgang mit der Zeit, die sich zu stauen und auszudehnen scheint und mit den Körpern, die sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden. Eine imponierende Choreographie.
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.07.2023, 7:55 Uhr