Exklusive rbb|24-Datenauswertung - Schon 9.000 E-Scooter in Berlin - zwei Drittel in der Stadtmitte
Verkehrssenatorin Günther setzte darauf: Zu viele E-Scooter werden die Anbieter schon nicht aufstellen – und verzichtete auf Obergrenzen. Doch eine neue rbb|24-Datenauswertung zeigt: Die Zahl der E-Roller wächst schnell - vor allem in Berlins Mitte. Von Robin Avram
In Berlin stehen bereits 9.050 E-Tretroller zum Ausleihen bereit. Das hat eine Datenanalyse des Beratungsunternehmens Civity exklusiv für rbb|24 ergeben. Seit der ersten rbb-Datenanalyse Anfang Juli hat sich die Zahl der E-Scooter damit fast verdoppelt.
"Das ist schon ein rasantes Wachstum - die Zahl bewegt sich am oberen Ende dessen, was an E-Scootern in Berlin zu erwartet war", ordnet Datenanalyst Benno Bock von Civity den Befund ein. Auch die Verkehrsverwaltung spricht auf Anfrage von einer "hohen Gesamtzahl der Geräte in Berlin, noch dazu massiert an bestimmten Orten in der Stadtmitte."
Denn allein durch Mitte fahren 3.800 E-Scooter, das sind 42 Prozent aller Tretroller. Weitere 2.200 sind in Friedrichshain-Kreuzberg unterwegs - das sind weitere 24 Prozent. Zusammen stehen also zwei Drittel aller E-Scooter in den beiden Innenstadt-Bezirken.
Die vier ausgewerteten Anbieter Lime, Tier, Circ und Voi veröffentlichen selbst keine genauen Zahlen, den Zahlen der rbb-Auswertung ihrer Apps widersprach auf Anfrage keines der Unternehmen.
Karte: E-Scooter in Berlin nach Bezirken
Innenstadt-Zentriertheit unverändert
"Die Revolution für die Stadt bleibt aus. Die Analyse zeigt eindeutig, dass außerhalb des S-Bahn-Bereichs fast gar keine E-Scooter unterwegs sind", kommentiert Benno Bock. Diese Innenstadt-Fixiertheit müsste auch Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) wurmen. Ihr Mobilitätsgesetz sieht schließlich vor, dass in allen Berliner Bezirken gleichwertige Mobilitätsangebote vorgehalten werden sollen.
Ihr Sprecher Jan Thomsen weist auf Nachfrage darauf hin, dass Berlin wegen "Nutzungskonflikten auf den Gehwegen" die Verleiher am 7. August zu einem Gespräch geladen hatte. Dabei wurden Verabredungen zur Verbesserung der Situation getroffen. So wurde bei diesem Krisen-Treffen vereinbart, dass die E-Scooter runter von den Bürgersteigen sollen, es gab Verabredungen für mehr Sicherheit, die dazu führen sollen, die hohe Zahl der E-Scooter-Unfälle zu senken - und die Anbieter sagten auch zu, ihre Verleihgebiete sukzessive über die Innenstadt-Areale hinaus zu vergrößern. Doch das hat offenkundig nichts an der Innenstadtfixiertheit geändert.
Bereits am 11. Juli hatte rbb|24 mit einer Datenanalyse die E-Scooter-Anzahl nach Bezirken ermittelt. Damals standen 66 Prozent der 4.800 E-Scootern in Mitte und Kreuzberg-Friedrichshain. Jetzt stehen fast doppelt so viele E-Scooter in der Stadt - aber immer noch 66 Prozent davon in Mitte und Kreuzberg-Friedrichshain.
In sechs Außenbezirken zusammen sind gerade mal 300 E-Scooter zu finden - weniger als sechs Prozent aller Tretroller.
Flottengröße der Anbieter
Anbieter ließen Verwaltung über Flottengröße offenbar im Unklaren
Auch was die Flottengröße betrifft, haben die Anbieter die Verkehrsverwaltung offenbar im Unklaren gelassen über ihr dynamisches Wachstum. Die Verwaltung kommunizierte noch Anfang August - vier Wochen nach der ersten rbb-Auswertung - dass lediglich 5.000 E-Scooter in Berlin unterwegs seien. Zuletzt sprach die Verwaltung von 6.000 E-Scootern.
Die neuen Zahlen zeigen jedoch: Allein der größte Anbieter Lime kommt in Berlin auf eine Flottengröße von 3.190 Stück, danach folgen TIER mit 2.540 Stück, Circ mit 2.400 Stück und VOI mit 920 Stück. Der weltgrößte Anbieter BIRD war im Auswertungszeitraum (12. bis 20. August) zudem noch gar nicht in Berlin präsent - er hat sein Angebot am Montag dieser Woche gestartet.
Da Bird neben Lime der finanzstärkste Anbieter ist, dürfte die Zahl der E-Scooter in Berlin schon sehr bald die Schallmauer von 10.000 Stück durchbrechen.
Vorbilder Hamburg und München - Berlin hätte vorbeugen können
Nun rächt sich nach Ansicht der Kritiker, dass Berlin bislang keine Obergrenzen für E-Scooter eingeführt hat. Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) hatte dem rbb im Juni gesagt, die Maßgabe der Verkehrsverwaltung sei gewesen, E-Scooter als Form der alternativen Mobilität zu fördern und der Branche möglichst wenig Regularien aufzuerlegen. "Schmeißt mal eure E-Scooter auf den Markt, und dann gucken wir mal, was passiert - das ist, glaube ich, keine Art Politik zu machen, das ist ein Stück weit weggucken und Verantwortungslosigkeit", hatte Hikel Verkehrssenatorin Günther kritisiert.
Hamburg und München haben von Anfang an härtere Regeln aufgestellt als Berlin. Die Verkehrsplaner dieser beiden Städte arbeiteten in Kooperation mit den Anbietern freiwillige Selbstverpflichtungen aus - die alle in Berlin aktiven Anbieter auch unterschrieben haben. Darin verpflichteten sie sich unter anderem, nicht mehr als 1.000 E-Scooter aufzustellen - zumindest innerhalb der jeweiligen Autobahn-Ringe, die die Innenstädte umfasst. "Der Austausch mit den Verleih-Anbietern läuft bisher gut, die Unternehmen stehen weiterhin mit uns in Kontakt und reagieren auf unsere Vorgaben", teilt ein Sprecher der Stadt München auf Anfrage mit.
Die Münchner Obergrenze von 1.000 Stück lässt sich zwar nur bedingt auf Berlin übertragen, denn innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings leben mit 1,1 Millionen Menschen rund doppelt so viele Menschen wie innerhalb des mittleren Münchner Autobahn-Rings. Aber selbst wenn Berlin eine im Vergleich zu München doppelt so hohe Obergrenze von 2.000 E-Scootern innerhalb des S-Bahn-Rings definiert hätte: drei der vier Anbieter in Berlin hätten sie mittlerweile deutlich überschritten.
Warum hat Berlin sich gegen eine Obergrenze entschieden? Die Verkehrsverwaltung teilt dazu mit, dass die "Selbstverpflichtungen" in München und Hamburg rechtlich nicht bindend seien. Berlin habe sich für einen anderen Weg entschieden und die Verleiher stattdessen auf die Berliner Regelungen für Sharingangebote aufmerksam gemacht - und darauf hingewiesen, dass bei Problemen insbesondere auf Gehwegen nachschärfende Regulierungen zu prüfen und neue Verabredungen zu treffen seien. Das sei beim Treffen am 7. August dann auch geschehen.
Die dort getroffenen Vereinbarungen sind jedoch genauso wenig rechtlich bindend.
Deutscher Städtetag: Berlin könnte den Scooter-Betrieb ausschreiben
Daher rät der E-Scooter-Experte Alexander Jung vom Thinktank Agora Verkehrswende zu einem anderen, rechtsverbindlicheren Weg. "Um die Leih-Scooter tatsächlich auch in die Außenbezirke zu bringen, wäre zum Beispiel das Konzept einer Ausschreibung denkbar", schlägt Jung vor. Berlin könne auf diese Weise festlegen, wo die Anbieter wieviele Roller aufstellen sollen - und den Betrieb in den Außenbezirken finanziell unterstützen.
Jungs Wort hat Gewicht. Im Auftrag des Deutschen Städtetages und des Städte- und Gemeindebundes hat er als Hauptautor Handreichungen für Kommunen erarbeitet, die ihnen bei der Regulierung der E-Scooter-Anbieter helfen sollen. Dem rbb lagen die am Donnerstag veröffentlichten Handreichungen exklusiv vorab vor.
Verwaltung prüft Regulierung der E-Scooter
Dass Berlin den Anbietern per Ausschreibung feste Vorgaben machen soll, hatte der Linken-Verkehrspolitiker Kristian Ronneburg bereits im Juni gefordert - und war von der Verkehrsverwaltung zurückgepfiffen worden. "Es ist von staatlicher Seite nicht möglich, ein Geschäftsgebiet für das Verleihen von E-Scootern vorzugeben", teilte die Verwaltung damals mit.
Das ist wohl möglich - vorausgesetzt, Berlin ändert das Landesstraßengesetz und legt dort eine Sondernutzung für stationslose Systeme fest, erläutert Experte Jung nun. Und auch die Juristen in der Verkehrsverwaltung haben offenkundig dazugelernt. "Denkbar ist, im Straßengesetz eine Sondernutzung für stationslose Geräte zu verankern", bestätigt die Verwaltung nun - und lässt erkennen, das die Fachleute so eine Lösung auch charmant fänden. "Unsere Prüfung dazu wird ergeben, ob solch eine Regelung rechtsverbindlich machbar ist."
Der Haken: Mehr E-Scooter in den Außenbezirken gäbe es nicht umsonst. Schließe Berlin eine Dienstleistungskonzession mit Scooteranbietern ab, "müsste das Land in Gegenleistung gehen, wenn E-Tretroller-Verleiher ihre Geräte in anderen als den selbst gewählten Gebieten anbieten sollen," so die Verwaltung. Weiter heißt es: "Eine solche Förderung eines gerade erst zugelassenen Verkehrsmittels, dessen verkehrliche Zukunft (...) höchst ungewiss ist, ist aus Sicht der SenUVK nicht das Mittel der Wahl."
Weniger E-Scooter in der Innenstadt - die könnte Berlin auf diesem Wege allerdings problemlos vorgeben - ohne dass es Steuergeld kostet.
Sendung: Abendschau, 30.08.2019, 19:30 Uhr