Kommentar | Herthas Einstieg bei 03 Zehlendorf - Beim Frauenfußball drängt die Zeit
Ab dem Sommer geht Hertha BSC mit eigenen Frauen- und Mädchenfußball-Teams an den Start. Dafür hat der Klub die komplette Abteilung von Hertha 03 Zehlendorf übernommen. Eine nicht sehr romantische, aber richtige Entscheidung, findet Tabea Kunze.
Die Fußballerinnen des VfL Wolfsburg spielen an diesem Wochenende um den Einzug ins Champions League-Finale. Die des 1. FC Köln knacken den Zuschauer-Rekord in der Bundesliga - 30.000 Tickets sind für das Heimspiel gegen Frankfurt schon verkauft. Und Berlin? Ist im April 2023 Frauenfußball-Entwicklungsland. Ambitionierte (Profi-)Fußballerinnen haben noch immer keine Heimat in der Hauptstadt, denn: Höher als in der drittklassigen Regionalliga kann man in Berlin nicht spielen. Für eine selbsternannte "Sport-Metropole" ist das ein Armutszeugnis.
Frauenfußball-Team mit echter Strahlkraft fehlt
Ein Dreivierteljahr nachdem die deutsche Fußball-Nationalelf im Wembley-Stadion nur knapp den EM-Titel verpasst hat, fehlt es der Hauptstadt immer noch an einem Frauenfußball-Team mit echter Strahlkraft.
Der 1. FC Union und Viktoria Berlin verfolgen seit einiger Zeit einen leistungsorientierten Ansatz, der schon bald mit dem Aufstieg in die zweite Bundesliga belohnt werden dürfte. Doch bei der Hertha, dem Verein mit dem prominenten Namen und der hundertjährigen Geschichte, beschränkte sich das Engagement im Frauenfußball in den vergangenen Jahren auf eine kostengünstige und deshalb bestenfalls halbherzige Kooperation mit Turbine Potsdam. Dem Traditionsklub aus Brandenburg droht der Abstieg aus der Bundesliga und eine ungewisse Zukunft. Berlin sollte neuen Frauenfußball-Schwung in der Region bringen.
Auf der letzten Hertha-Mitgliederversammlung gab es den klaren Auftrag der Mitglieder zur Gründung einer eigenen Frauenabteilung - viele Fans wünschten sich einen Neustart von ganz unten, im Breitensport. Dass die Vereinsführung stattdessen das Angebot (!) von Hertha 03 Zehlendorf zur Übernahme der Mädchen- und Frauenteams angenommen hat und sich damit die mühsame Aufbauarbeit spart, klingt zunächst nicht nach dem von Präsident Bernstein ausgerufenen "Herthaner Weg", sondern nach kalter Machtpolitik, nach "Groß schluckt Klein".
Konkurrenz im deutschen Frauenfußball wächst
Und doch ist es die richtige Entscheidung - andernfalls droht Hertha BSC im Frauenbereich komplett den Anschluss zu verpassen. Das würde sich nicht nur negativ auf die Berliner Mädchen und Frauen auswirken, die ihren Traum vom leistungsorientierten Fußball möglichst lange in ihrer Heimatstadt verfolgen wollen. Nein, der deutsche Frauenfußball insgesamt braucht ein ambitioniertes Hauptstadt-Team, so wie es England, Spanien oder Italien längst haben.
Zehntausende (meist junge) Fans strömen in die Stadien, wenn die Frauenteams des FC Arsenal, von Real Madrid oder der AS Rom in der Champions League aufspielen - deutscher Gegner ist dann meist der VfL Wolfsburg. Dessen finanziell komfortabel ausgestattete Frauensparte sammelt seit Jahren Titel, ist sportliche Heimat vieler Nationalspielerinnen - doch die Strahlkraft von Stadt und Stadion ist überschaubar.
Frauenfußball-Spiele im Berliner Olympiastadion dagegen könnten neue Fangruppen erschließen, in der Stadt, der Region und vor dem Fernseher. Dies kann und wird nicht in den nächsten Monaten passieren. Doch es ist höchste Zeit, dass Hertha BSC mit einer Zukunftsvision für den Frauenfußball begeistert - ohne zu übertreiben, ohne mit Geld um sich zu werfen - aber mit Ernsthaftigkeit und dem geforderten Tempo. Denn die Konkurrenz im deutschen Frauenfußball wächst. RB Leipzig ist gerade in die Bundesliga aufgestiegen. Die Zeit drängt für Hertha BSC und den Frauenfußball in der Hauptstadt - dazu passt kein gemütlicher Start im Breitensport, und sei er noch so romantisch.
Sendung: rbb24 Inforadio, 20.04.2023, 16 Uhr