Theaterkritik | Eröffnung FIND-Festival - Splatter und Kitsch an der Schaubühne

Das FIND-Festival startet blutig: In Milo Raus belgischer Produktion "Medeas Kinder" metzeln Kinder einander nieder – der Ire Enda Walsh bringt in "Safe House" die traumatische Geschichte einer Obdachlosen als Pop-Oper auf die Bühne. Von Barbara Behrendt
"Es ist tatsächlich so, dass dieses Stück für manche Leute zu brutal ist", hatte der Schweizer Theatermacher im Gespräch mit Radio 3 vorab schon gewarnt – um dann nicht eben uneitel auf die vielen Preise zu verweisen, die sein Abend "Medeas Kinder" aus Gent international bereits gewonnen hat.

Ohnmachten im Publikum
Und tatsächlich: Als bei der Eröffnung des FIND-Festivals an der Schaubühne auf einer großen Leinwand so geschickt zwischen voraufgezeichneten Szenen, in denen die Kinderkehlen tief und blutspritzend durchschnitten werden, und Live-Aufnahmen aus dem kleinen Bühnen-Häuschen gewechselt wird, in das eine junge Darstellerin ein Kind nach dem anderen hineinzieht, kollabieren im Zuschauerraum mehrere Menschen. Andere verlassen fluchtartig den Saal.
Muss das sein? Diese typische Milo-Rau-Provokation, mit dem ihm die Empörung zufliegt? Kann es einen größeren kalkulierten Eklat geben als beim Konzept: die Kindsmörderin Medea, von Kindern gespielt? Milo Rau sorgt gern für große Aufmerksamkeit. Allerdings ist er klug genug, seine Konzepte fundiert zu begründen. Tatsächlich hat man die Brutalität des Kindsmords wohl noch nie so deutlich begriffen wie an diesem Abend. Und was es bedeutet, die eigenen Kinder gewaltsam überwältigen zu müssen, die Todesangst in ihren Augen zu sehen.
Blutige Provokation
Verknüpft ist der antike Medea-Mythos hier mit einem realen belgischen Kriminalfall, der Medea noch toppt. Amandine Moreau wird die Frau hier genannt, die 2007 allen ihren fünf Kindern, vom Kleinkind bis zum Teenager, die Kehlen durchschnitten hat.
Doch die Morde geschehen erst am Ende dieses effektgetriebenen Abends. Der Beginn ist überraschenderweise ungemein heiter. Der Kindercoach Peter tritt in der ersten Szene auf die Bühne und begrüßt das Publikum zum Nachgespräch von "Medeas Kinder": Wie schön, dass noch so viele geblieben sind!
Nach und nach kommen die sieben Kinder zwischen acht und 14 Jahren auf die Bühne, das Haar noch nass vom Duschen nach der Show. "Warum wolltet ihr bei dem Stück mitmachen?" werden sie von Peter befragt. "Habt ihr schon mal Theater gespielt? Warum meint ihr, ermordet Medea ihre Kinder? Warum hat Amandine Moreau ihre fünf Kinder umgebracht?" Aus Rache, sagt eine der jungen Schauspieler:innen. Aus Einsamkeit, sagt eine andere. Sie könne verstehen, wie Amandine Moreau immer mehr in ihre eigene Welt abgeglitten ist, erklärt eine dritte, als ihr Mann häufig nach Marokko reiste und sie allein zurückgelassen hat.
Die Kinder: das Ensemble des Jahres
Dann betteln die Kinder, nochmal einzelne Szenen vorspielen zu dürfen – und so entsteht nach und nach das komplette Stück fürs Publikum. Hinter dem Vorhang tut sich eine karge Strandlandschaft auf, nur ein kleines, verlassenes Haus am Rand (das spätere Mordhaus). Darüber die große Leinwand. Einige Szenen erscheinen dort voraufgezeichnet mit erwachsenen Spielern und werden von den Kindern nachgespielt.
Die Kinder machen das derart fantastisch, dass man sie sofort zum Ensemble des Jahres küren möchte. Doch das angebliche Anliegen von Milo Rau, den Opfern eine Stimme zu geben, die Kinder, die in antiken Tragödien nie zu Wort kommen, sprechen zu lassen, wird nicht eingelöst. Die Kinder stehen zwar auf der Bühne – die meiste Zeit spielen sie jedoch Erwachsene, die bewusst völlig überhöhte Dinge sagen. Die Kleinsten halten ein fundiertes Referat über Euripides und zitieren Beckett. Oder sagen Kluges über die Liebe: "Das Leben ist absurd und nur die Liebe gibt uns ein Zuhause. Und deshalb sind wir dem Leiden nie so schutzlos ausgeliefert, als wenn wir lieben." Nicht gerade der Satz eines achtjährigen Mädchens.
Die Kinder spielen Erwachsene
Als Kinder kommen die Kinder seltsamerweise kaum vor. Sie stehen als Funktion auf der Bühne: den Erwachsenen etwas beizubringen. Und der Lehrstoff ist, bei Licht betrachtet, eine eher magere Interpretation des Medea-Stoffs: Die Frau als verlassene Geliebte, der es schlicht an Liebe mangelt. So intelligent und perfekt der Abend konzeptioniert ist, so kalkuliert und unterkühlt wirkt er.
Das FIND Festival, das Festival für Neue Internationale Dramatik, zeigt schon seit 25 Jahren neue, politische Theaterstücke aus aller Welt – und ist damit einzigartig in Berlin. In diesem Jahr sind (bis zum 13. April) Künstler:innen aus Frankreich, Belgien, Spanien, den USA und zum ersten Mal auch aus Kirgisistan zu erleben. Und: aus Irland.

"Safe House": eine düstere Pop-Oper
Der zweite Teil des Eröffnungsabends kommt vom berühmten irischen Dramatiker und Drehbuchautor Enda Walsh. "Safe House" ist thematisch ebenfalls düster – die Produktion kommt zwar ohne Morde aus, nicht aber ohne Kunstblut. Die starke junge Schauspielerin und Sängerin Kate Gilmore spielt Grace, eine junge irische Obdachlose. Sie schläft in einer abgeschalteten Kühltruhe, trinkt Wein aus dem Tetra-Pack und führt Selbstgespräche mit ihrem Stoff-Hasen.
Oft wird eine solche Geschichte (vor allem im englischsprachigen Theater) in einem warmherzigen, sozialrealistischen Well-Made-Play erzählt. Doch Enda Walsh und die Komponistin Anna Mullarkey stellen sie als dunkel-kitschige Pop-Oper auf die Bühne. Kate Gilmore spricht kein einziges Wort, sondern singt ausschließlich von ihren Träumen, von der Liebe, von der schwarzen Welt. In ihrer Fantasie ist sie eine Prinzessin. Nur aus dem Off hören wir Erinnerungsfetzen aus ihrer traumatischen Vergangenheit. Nach verstörenden Sounds, die eine Vergewaltigung andeuten, liegt Grace blutend am Boden.
Eine mitunter etwas zu verkitschte Inszenierung, deren Musik auf Dauer zu einer eintönigen Sound-Collage wird. Doch es bleibt ein schöner, ungewöhnlicher Einfall, die Fantasie, die Kunst für Grace zum Element der Hoffnung zu machen, aus ihrer trostlosen Biografie auszubrechen.
Auf ihre jeweils eigene Weise wirken beide Produktionen, "Medeas Kinder" und "Safe House", letztlich dann aber doch: zu künstlich überhöht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.04.2025, 09:50 Uhr
Nächster Artikel
BSW in Brandenburg - Steckt noch mehr hinter Crumbachs Rückzug vom Landesparteivorsitz?
Fall Lahav Shapira - 24-Jähriger nach Angriff auf jüdischen Studenten zu drei Jahren Haft verurteilt
Nach tödlicher Messerattacke - Innenverwaltung will Messerverbot auf gesamten Berliner Nahverkehr ausweiten
Genehmigung nötig - Polen verbietet das Fotografieren kritischer Infrastruktur
Ostertradition - Viele Osterfeuer in Brandenburg wegen Waldbrandgefahr abgesagt
Osterrituale - Spazieren, suchen und ein bisschen trudeln
Polizei sucht Zeugen - Mann beim Gassigehen in Nassenheide mutmaßlich angefahren und gestorben
Wald zu Gewerbegebiet umgewidmet - Red Bull kann Werk in Baruth/Mark ausbauen - wachsende Sorge um Grundwasser
Berliner Landgericht - Polizeieinsatz teilweise unverhältnismäßig – Kläger erhält Schmerzensgeld
Stadtbahn in Berlin - S-Bahn-Sperrung zwischen Alexanderplatz und Ostbahnhof wird verlängert
Mutmaßliche Erpressung - Festnahmen nach gezielten Schüssen auf Gewerbetreibende in Berlin
Berliner Humboldt-Universität - Durch Protest beschädigter HU-Hörsaal wochenlang nicht nutzbar
Energieversorgung - Vattenfall erhöht Strompreise zum Juli um acht Prozent
Mutmaßliche Gewalttat - Mordkommission ermittelt nach Tod einer Frau in Berlin-Britz
Seit einem Jahr verschwunden - Polizei prüft bei Vermisstem aus Rathenow Verbindungen in Drogenszene
Natur-Phänomen - Polarlichter färben Brandenburger Nachthimmel bunt
Berlin - Auch Westendbrücke der A100 weitgehend abgerissen
Abwahl am Donnerstag - Amtsdirektor in Schlaubetal könnte seinen Posten verlieren
Osterverkehr - Volle Züge, volle Straßen: Hauptreisezeit steht bevor
Fußball-Bundesliga - Union Berlin empfängt VfB Stuttgart zum Jubiläumsspiel
Ökologische Wiesenpflege - Schafe weiden wieder im Park Sanssouci
Brandenburg - Hunderte Windräder in Brandenburg blinken nachts nicht mehr
Kurzzeitige Vollsperrung - Zwei Verletzte bei Unfall auf A12 bei Fürstenwalde
Spree-Neiße - Tattoo-Studio in Spremberg abgebrannt
Reiseeinschränkungen und Hacker-Angriffe - Wie Russland deutschen Wissenschaftlern die Arbeit erschwert
Konzert | Anna B Savage in Berlin - Ein Konzert als emotionale Arbeit
Interview | Streit beim Oster-Essen - Darum eskalieren Debatten am Familientisch gerade besonders oft
2. Fußball-Bundesliga - So könnte Hertha für die neue Saison in der Innenverteidigung planen
Pro-palästinensischer Protest - Polizei räumt besetzten Hörsaal der Berliner HU
"Doppelbelastung" - Brandenburger Finanzminister Robert Crumbach will BSW-Landesvorsitz abgeben
Handball-Bundesliga - Füchse Berlin gewinnen Spitzenspiel in Kiel
Basketball-Bundesliga - Alba Berlin feiert verdienten Heimsieg gegen Bonn
Wohnungsbauförderung - Brandenburg findet 250 Millionen Euro für Sozialbauten, die dringend gebraucht werden
Berlin-Kreuzberg - Angriff auf 16-Jährigen mit Baseballschläger und Metallstange
Nachwuchsausbildung - Brandenburger Polizei-Hochschule in Oranienburg wird kurzfristig erweitert
Rassistische und sexistische Beleidigungen - Fans von Energie Cottbus sollen Zugpassagiere bedrängt und bedroht haben
A100 in Berlin - Abrissarbeiten an maroder Ringbahnbrücke vor Abschluss
Tödliche Attacke in Charlottenburg - Messer-Angreifer stand unter Bewährung und sollte wegen Verstößen in Haft
Dramatisches Aus im Halbfinale - Was von der Saison der Alba-Basketballerinnen bleibt
Barnim - Warum so ausgiebig über die geplante Ortsumgehung von Eberswalde gestritten wird
Staatsanwaltschaft - Berliner Palliativarzt in 15 Mordfällen angeklagt
Uckermark - Diverse Vergehen und Hakenkreuz-Tattoo: 20-Jähriger gleich zweimal gestoppt
Märkisch-Oderland - RB26-Strecke für mehrere Monate unterbrochen
Landessozialgericht - Berliner Familie darf 3.000 zu viel gezahlte Euro vom Jobcenter behalten
Landgericht Potsdam - Angeklagte nach tödlicher Attacke auf Wachmann zu fast 13 Jahren Haft verurteilt
Dahmewiesen - Wasserbüffel in Wildau wieder als Landschaftspfleger im Einsatz
Interview | Eishockey-Experte Rick Goldmann - "Dieses Duell im Finale ist ein Geschenk für das deutsche Eishockey"
Verwaltungsgericht - "Trostfrauenstatue" in Berlin-Moabit darf vorerst bleiben
Im Weltkrieg zerstört - Am Oder-Spree-Kanal fehlen immer noch elf Brücken
Teltow-Fläming - Zwei Schwerverletzte nach Streit mit Messer in Luckenwalde
Kostenpflichtige Klos - Öffentliche Toiletten in Berlin akzeptieren jetzt auch Paypal
Berlin-Oberschöneweide - Betonmischer-Trommel stürzt während der Fahrt auf Straße
Bundesverfassungsgericht - Frühere Storkower Kommandeurin scheitert mit Klage um Tinder-Profil
Berlin und Brandenburg - Nachfolger des Azubi-Tickets wackelt
Ermittlungen zu Angriff eingestellt - Der Clan-Ausstieg der "Latife Arab" - eine Geschichte und viele Ungereimtheiten
80 Jahre Kriegsende - Landkreis und Stadt erinnern an Schlacht auf den Seelower Höhen
Tarifstreit - Beschäftigte der Charité-Tochter CFM starten zweitägigen Streik
Bis zu 29 Grad - Es wird sommerlich warm - zu Ostern aber wechselhaft
Vollsperrung wegen Bauarbeiten - Über Ostern fahren in Tiefebene des Berliner Hauptbahnhofs keine Züge
Basketball-Bundesliga - Diese Gegner stehen zwischen Alba und den Playoffs
Handball-Bundesliga - Die Füchse und die Woche der Wahrheit
Hausdurchsuchung in Berlin - Festnahme in Neukölln: 29-Jähriger soll Gewalttaten gegen Israel geplant haben