Interview mit Ukraine-Auswanderer - "Ich nenne es mal die ukrainische Normalität"
Rund eine Million Menschen sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Ein Berliner ging den umgekehrten Weg: Karsten Lehmann wanderte mit seiner Familie in die West-Ukraine aus.
Karsten Lehmann sitzt in einem Café in Berlin-Schöneberg. Er ist den Dezember zu Besuch bei seinen Eltern und seinen Brüdern in Berlin. Die Familie Lehmann besitzt einen Bauernhof in Marienfelde, direkt an der Alt-Marienfelder Dorfkirche. Vor Weihnachten fand dort schon zum 29. Mal ein Weihnachtsmarkt statt und Karsten Lehmann hat bei der Organisation geholfen. Eigentlich wohnt er aber in der Ukraine. Dorthin ist er im August 2023 ausgewandert, also erst nach Beginn des Krieges.
Der 53-jährige lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer Großstadt im Westen der Ukraine. Viel genauer dürfen wir das nicht schreiben. Er wisse ja nicht, wie sich die Dinge entwickeln, sagt Lehmann im Vorgespräch. Ein bisschen Angst schwingt immer mit, zu viel habe er in den letzten anderthalb Jahren erlebt und gehört. Und damit ist das Gespräch schon in vollem Gange.
rbb|24: Herr Lehmann. Wie kamen Sie auf die Idee aus dem sicheren Südberlin in die Ukraine zu ziehen, ein Land im Krieg?
Karsten Lehmann: Das hat mit unserer familiären Geschichte zu tun. Meine Frau kommt aus der Ukraine, sie ist Sprachwissenschaftlerin und studierte Lehrerin in der Ukraine und in Berlin, sie hat hier also nochmal studiert. Die ersten 16 Jahre unseres gemeinsamen Lebens haben wir in Berlin gelebt, wir hatten uns aber immer vorgenommen, dass wir auch mal in der Ukraine leben wollen. In den ersten Jahren hat es nicht gepasst, wir haben geheiratet, unsere Kinder sind geboren worden. Aber meine Frau hat eine sehr enge Bindung zu ihren Eltern und ihrer Verwandtschaft in der Ukraine und der Wunsch war, dass unsere Kinder dort nicht nur Urlaub machen, sondern auch mal in der Ukraine leben und einen Teil ihrer Jugend aufwachsen sollen. Die sind auch direkt zweisprachig aufgewachsen.
Der Wunsch ist nachvollziehbar, aber da ist immer noch der Krieg. Als sie umzogen, hat Russland die Ukraine bereits angegriffen. Hat Sie das nicht abgeschreckt?
Also der Krieg läuft ja leider schon seit 2014. Das wird hier in Deutschland zwar nicht so wahrgenommen, aber seit 2014 sterben in der Ukraine Menschen. Wir hatten 2022 dennoch schon recht konkrete Pläne gemacht, wann wir den Schritt wagen wollen. Unsere Tochter sollte im Sommer auf die Oberschule kommen, der Sohn eingeschult werden. Dann kam [am 24. Februar 2022, Anm. d. Red] die russische Invasion. Das war natürlich ein totaler Schock, weil wir ganz große Sorge um unsere Familie hatten. Wir haben das dann erstmal aus der Distanz betrachtet, haben von hier aus Hilfsaktionen gemacht und mitgelitten, jeden Tag. Für uns wurde es mit der Zeit aber immer schwieriger, mit unseren Leuten in der Ukraine über deutsche Alltagssorgen zu reden - wie den steigenden Gaspreis, während die vielleicht gerade aus einem Bunker gekommen waren, weil dort die Raketen flogen. Die hatten eine völlig andere Realität. Gleichzeitig hatten wir diesen Wunsch, mal in der Ukraine zu leben, also haben wir uns gefragt: Können wir uns das trotzdem vorstellen und können wir es unseren Kindern zumuten?
Wir sind dann 2023 über Ostern das erste Mal nach Beginn der russischen Invasion wieder in die Ukraine gereist. Bei den Schwiegereltern im Westen, gab es sehr viel Normalität. Wir haben zwar gleich am Anfang einen Luftalarm mitbekommen, da waren wir gerade in einem Einkaufszentrum. Es war aber zum Glück kein Alarm mit Folgen. Wir konnten also eigentlich normal Ostern feiern. Insgesamt hat uns dieser Besuch in unserer Entscheidung bestärkt.
Was haben Ihre Eltern und Ihre Freunde in Berlin zu der Entscheidung gesagt?
Die sind aus allen Wolken gefallen - "Wie könnt ihr nur, was macht ihr denn da?" Meine Eltern waren sehr ängstlich, sind sie auch immer noch. Aber sie haben sich inzwischen damit abgefunden. Es ist glaub ich auch ein Stück weit Vertrauen in mich, weil sie wissen, dass ich eigentlich vorsichtig bin.
Ganz interessant war es zu sehen, dass Freunde, bei denen die Partnerinnen oder Partner selbst aus dem Ausland kommen, dafür eher Verständnis hatten. Die haben gesagt: "Ihr seid unglaublich mutig, wir finden das toll, aber seid bitte vorsichtig!"
Jetzt leben Sie schon über ein Jahr im Westen der Ukraine, etwa 600 Kilometer entfernt von der Front. Wie sieht Ihr Alltag dort aus?
Jeder Mensch lebt ja in seiner persönlichen Bubble. Sie hier in Berlin, aber wir auch in der Westukraine. Und da ist es sehr viel ruhiger, als Sie es sich vielleicht vorstellen. Gar nicht zu vergleichen mit Kyjv, schon da gibt es sehr viel öfter Alarm, ganz zu schweigen von allem, was weiter östlich in Richtung Front ist. Dahin wären wir natürlich nie gezogen, so leichtsinnig sind wir nicht.
Unser Alltag ist – wenn man vielleicht ein bisschen seine Scheuklappen aufsetzt – fast der gleiche wie hier, größtenteils zumindest. Die Läden sind voll, die Menschen gehen Weihnachtsgeschenke kaufen. Wenn man ins Kino will und sich vorher keine Karte geholt hat, ist es vielleicht schon ausverkauft. Die Kinder gehen zu Geburtstagen und in die Schule.
Aber dann gibt es eben auch Momente, in denen die Sirenen heulen. Dann müssen die Kinder in der Schule in den Keller und dann ist man ganz schnell aus seiner persönlichen Bubble raus.
Diese Momente kommen aber gar nicht so selten vor, selbst im Westen der Ukraine.
Das stimmt. Gerade jetzt ist es wieder mehr geworden, weil die russischen Angriffe auf die Infrastruktur im Winter wieder zugenommen haben. Wir haben es zuletzt erst zwei Mal erlebt, dass wir ins Badezimmer gehen mussten, um Schutz zu suchen. Das ist in unserer Wohnung der sicherste Ort, weil es ein innenliegendes Bad ist.
Es ist fast jeden Tag Alarm. Manchmal auch mehrmals. Wenn Alarm ist, wird aber auch relativ schnell entwarnt. Man kann mit einer App sehen, wohin die Raketen oder Drohnen unterwegs sind.
Karsten Lehmann holt sein Handy hervor und öffnet die angesprochene App. Eine Karte der Ukraine ist zu sehen, eingeteilt in Regionen. Einige sind dunkelblau eingefärbt, andere rot.
An den roten Markierungen sehen wir, wo gerade aktuell Alarm ist.
In den Nachrichten in deutschen Medien war an diesem Morgen nichts von außergewöhnlich großen russischen Angriffen zu lesen. Etwa die Hälfte der ukrainischen Regionen ist allerdings gerade rot eingefärbt.
rbb|24.de: Da ist ganz schön viel rot.
Lehmann: Manchmal ist das ganze Land rot. Wenn irgendwo etwas startet, oft vom Schwarzen oder Kaspischen Meer aus, wird erstmal fast überall Alarm gegeben. Wenn man dann sieht, was es ist und wohin es sich bewegt, wird schnell Entwarnung in einigen Regionen gegeben.
Wir hatten aber auch eine Situation, da waren etwa zehn Drohnen unterwegs in unsere Richtung. Über die Schule, an der meine Frau als Lehrerin arbeitet, ist sie noch in einer Telegram-Gruppe der Stadt. Da hieß es dann: Die Drohnen sind immer noch unterwegs, die könnten tatsächlich hierher kommen. Deshalb sind wir ins Badezimmer und dann kam es auch zwei Mal vor, dass in einiger Entfernung ein lauter Knall zu hören war, als die Drohnen abgeschossen wurden. Eine ist auf das Umspannwerk gestürzt, deshalb haben wir jetzt Stromknappheit. Das läuft aber relativ solidarisch ab. Die Stadt wird eingeteilt in Sektoren und dann wird wechselnd rotiert, wer für einige Stunden Stromausfall hat. Das ist unkomfortabel, aber solange das alles ist, kommen wir damit klar.
Fast drei Jahre herrscht schon Krieg. Was hat das mit den Menschen gemacht, steht die Gemeinschaft im Vordergrund oder gibt es viele Einzelkämpfer?
Es gibt nach wie vor eine große Solidarität in der Gesellschaft. Ein Highlight für meine Kinder beispielsweise ist es, dass an der Schule in der Vorweihnachtszeit Kekse und Kuchen gebacken wurden, die werden verkauft und das Geld geht an die Streitkräfte. Solche Aktionen gibt es überall. An vielen Läden stehen Boxen, ein Einkaufszentrum will beispielsweise eine Drohne für eine Einheit organisieren. Das ist teilweise auch sehr speziell verknüpft, dass sich einzelne Schulen mit einzelnen Militäreinheiten zusammengefunden haben und die unterstützen. Diese Solidarität zieht sich durchs ganze Land. Auch wenn man merkt, dass die Leute inzwischen müde sind: Wegen der Alternativlosigkeit, die sich aktuell darstellt, werden die Zähne zusammengebissen und es wird weiter zusammengehalten.
Bei den Beispielen, von denen Sie jetzt erzählt haben, geht es vor allem um die Unterstützung der Streitkräfte. Sagt das etwas über das Leben in der Ukraine aus, dass die Unterstützung des Militärs die Hauptaufgabe aller in diesem Krieg geworden ist? Wie sieht es mit der Unterstützung unter Nachbarn aus?
Es gibt auch viel Hilfe untereinander, gerade in den ersten Kriegsmonaten ging es viel darum, sich gegenseitig Schutz zu bieten. Zum Beispiel die Nachbarn bei Luftalarm in den Keller aufzunehmen oder Vorräte mit ihnen zu teilen. Es wird auch gesammelt für Veteranen oder Verletzte. Aber dieser furchtbare Krieg steht im Mittelpunkt. Ein Krieg, in dem echte Menschen kämpfen und sterben, in dem sie an der Front Ausrüstung und etwas zu essen brauchen. Der Krieg ist das bestimmende Thema, weil da entschieden wird, was passiert. Da geht es ums Überleben der Soldaten, aber auch des ganzen Landes.
Lehmann mach eine kurze Pause.
Manchmal holt einen der Krieg auch im Alltag ganz plötzlich wieder ein, ohne dass Alarm ist. Wenn Gefallene nach Hause gebracht werden, steht die Stadt still. Das ist ein Konvoi, der durch die Straßen fährt und dann bleiben alle stehen … (Lehmann stockt, ihm kommen die Tränen) … Also der Verkehr bleibt stehen. Es ist ein Konvoi, das sind in der Regel drei, vier Autos mit Fahnen, dann kommt ein Kühlauto, manchmal auch ein Transporter. Alle Menschen bleiben stehen, wer im Auto unterwegs war, steigt aus, die Menschen knien sich hin oder legen ihre Hand aufs Herz und erweisen die letzte Ehre. Da bist du komplett drin. Und dann, nach zwei, drei Minuten steigen alle in ihre Autos, fahren los und es geht weiter. Das ist total krass. Man hat es abends noch nicht vergessen, aber das Leben geht weiter.
Hatten Sie noch nie Angst um Ihr eigenes Leben?
Nein. (zögert kurz) ... Ein mulmiges Gefühl, vielleicht Angst, ja. Aber nicht um mein Leben. Ich will es mal mit einem Flug mit dem Flugzeug vergleichen. Wenn alles ruhig läuft, weiß man zwar im Hinterkopf, dass man sehr weit oben ist und kaum Überlebenschancen hätte, wenn etwas passieren würde. Wenn dann ein Luftloch oder Turbulenzen kommen, denkt man sich: "Was hab ich getan, wieso sitze ich nicht in der Bahn?" Da hat man vielleicht auch mal kurz eine diffuse Angst um sein Leben. Das ist vergleichbar mit den Situationen, in denen wir hier im Badezimmer hocken und warten, bis der Alarm vorbeigeht. Danach, wenn alles gut gegangen ist, setzt sich der Alltag durch und bei mir zumindest das Denken: Das lasse ich mir nicht gefallen.
Wenn ich Angst habe, dann vor allem um meine Kinder und meine Familie. Die Kinder nehmen das aber gar nicht immer so wahr. Wenn sie beispielsweise während eines Alarms in der Schule sind und in den Keller müssen, kam es auch schon vor, dass sie hinterher lachend erzählen: "Papa, wir hatten gerade Mathe und dann kam der Alarm."
Über die Feiertage bleiben Sie noch in Berlin, dann geht es zurück in die Ukraine. Auch wenn der Westen kein Kriegsgebiet ist, eine gewisse Gefahr bleibt. Kommt Ihnen auf der Fahrt nie der Gedanke wieder umzudrehen und in Berlin zu bleiben?
Diese Risikoabwägung macht man unbewusst die ganze Zeit: Fühle ich mich dabei noch wohl, ist es dort so sicher, dass ich das noch möchte? Die ersten ein, zwei Tage ist es jedes Mal ein bisschen ungewohnt. Das Gefühl habe ich früher aber auch auf Reisen in ferne Länder gehabt. Das legt sich dann und ich fühle mich wieder wohl. Der erste Luftalarm ist vielleicht nochmal ein Schreck. Aber dann geht es schnell wieder darum, ob die Kinder pünktlich ins Bett kommen oder zur Schule und dann ist der Alltag zurück. Ich nenne es mal die ukrainische Normalität.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Simon Wenzel, rbb|24.de