1.600 Kinder von Migranten in Berlin ohne Schulplatz - Willkommen auf der Warteliste
Berlin hat im vergangenen Jahr außergewöhnlich viele geflüchtete Menschen aufgenommen. Darunter sind auch Kinder und Jugendliche, die möglichst schnell einen Schulplatz brauchen. Derzeit gibt es aber lange Wartelisten in den Bezirken. Von Simon Wenzel
- In Berlin warten mindestens 1.600 Kinder von Migranten auf einen Schulplatz
- Die Bezirke beklagen Raum- und Lehrkräftemangel
- Neue Willkommensklassen sollen laut Senat im Aufbau sein
- Alternative Bildungsprojekte können die Wartezeit überbrücken
Mindestens 1.622 Kinder von Migranten stehen derzeit auf einer Warteliste für einen Schulplatz in Berlin. Das geht aus Anfragen von rbb|24 an die Berliner Bezirke hervor. Überwiegend handelt es sich dabei um Geflüchtete, einige Bezirke unterscheiden in ihren Zahlen allerdings nicht, aus welchem Grund Kinder nach Deutschland kamen.
Die meisten Kinder stehen derzeit in Pankow (330) und Lichtenberg (305) auf Wartelisten. Auch in Neukölln, Marzahn-Hellersdorf und Tempelhof-Schöneberg sind jeweils um die 200 Schülerinnen und Schüler ohne Schulplatz. In wenigen Bezirken sind es nur niedrige zweistellige Zahlen, keine Warteliste gibt es lediglich in Reinickendorf.
Bezirke beklagen Raum- und Lehrermangel, Senat widerspricht
Tobias Dollase, Bezirksstadtrat für Schule im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, sagt rbb|24: "Die Kapazitäten an den Schulen sind inzwischen nicht mehr nur ausgelastet, sondern vollkommen überlastet. Die Kapazitäten geben nicht mehr her, und man kommt auch mit neu Bauen nicht hinterher." Das liege daran, dass Berlin ohnehin schon eine wachsende Stadt mit immer mehr Schülerinnen und Schülern sei. Die zusätzlichen Flüchtlingskinder, die ebenfalls versorgt werden müssten, hätten dazu geführt, dass die Schulen endgültig ausgelastet seien.
In seinem Bezirk warten 189 Kinder und Jugendliche auf einen Schulplatz. Es fehle hier vor allem an Räumen, um weitere Klassen anzubieten, sagt Dollase. Raummangel ist auch in Spandau, Neukölln, Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Steglitz-Zehlendorf der Grund für die fehlenden Schulplätze. Die letztgenannten drei Bezirke gaben zudem an, einen Mangel an Lehrkräften zu haben. In Friedrichshain-Kreuzberg und Lichtenberg sind die fehlenden Lehrerinnen und Lehrer der Hauptgrund für die Wartelisten.
Die zuständige Senatsverwaltung für Bildung teilt rbb|24 auf Anfrage mit, sie sei in permanentem Austausch mit den Bezirken. Für die Bereitstellung zusätzlicher Räume seien die Bezirke selbst verantwortlich, Lehrkräfte dagegen muss die Senatsverwaltung für Bildung bereitstellen. Der Senat, so ein Sprecher der Bildungsverwaltung, habe die schnellere Anmietung von zusätzlichen Räumen für die Bezirke ermöglicht und seit März 2022 bereits über 340 volle Stellen an Willkommenslehrkräften neu eingestellt. Zudem würden derzeit 37 neue Willkommensklassen in der Stadt eingerichtet.
Grünen-Abgeordnete Schedlich fordert kreative Lösungen
Klara Schedlich, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und jugendpolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, hat zum Thema Bildungsangebote für geflüchtete Kinder eine umfassende Anfrage an den Berliner Senat gestellt. rbb|24 teilt sie mit: "Als Staat haben wir einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, und dem müssen wir nachgehen. Kinder sollten immer unsere höchste Priorität haben. Wir müssen die Situation deshalb umgehend verbessern."
Sie glaube zwar durchaus, dass schon viel vom Senat getan werde, aber eben noch nicht genug. Sie fordert deshalb mehr kreative Lösungen vom Senat, um den Notstand zu beheben. Unter anderem schlägt sie eine effektivere Nutzung der Schulgebäude durch Doppelbeschulung (also Unterricht am Vor- und Nachmittag) und Wochenendnutzung sowie die Einbindung von mehr Lehramtsstudierenden in den Unterricht vor.
Senatsverwaltung "diskutiert und prüft" alternative Unterrichtsformate
Eine Doppelbeschulung würde der Bezirk Tempelhof-Schöneberg gerne einführen, sagt Bezirksstadtrat Dollase – und zwar seit Ende des vergangenen Jahres. Er warte aber noch auf die Erlaubnis des Senats. Die Pläne seien dort hinterlegt, ebenso wie der Vorschlag, in den Flüchtlingsunterkünften auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof Unterricht anzubieten. Eine Antwort der Senatsverwaltung für Bildung habe er noch nicht erhalten. "Da tut sich der Senat im Moment etwas schwer. Aber die Menschen sind ja da und sie brauchen schnelle Antworten", sagt Dollase.
Die Senatsverwaltung für Bildung teilt zu Modellen wie der Doppelbeschulung oder der Wochenendnutzung von Schulen auf rbb-Anfrage nur allgemein mit, dass alternative Unterrichtsformate "diskutiert und geprüft" würden.
Überbrückungsmaßnahmen sind das Mittel der Stunde
Der Senat setzt derweil auf das Programm "Fit für die Schule", um Kinder im Wartestand mit einem Ersatz-Bildungsangebot zu versorgen. Es wird von verschiedenen Trägern in der Stadt organisiert und soll beim Deutsch lernen sowie beim Ankommen in der Stadt helfen – unter anderem durch das Kennenlernen von Vereinen und anderen Freizeit- und Bildungsangeboten. Dadurch haben die Kinder auch zumindest einige Stunden einen geregelten Tagesablauf.
Etwas mehr als 500 Kinder waren Anfang Februar in "Fit für die Schule" eingegliedert. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage der Grünen hervor. Nicht ganz ein Drittel von den 1.600 Wartenden also. Ein Senatssprecher teilte rbb|24 mit, das Programm würde derzeit weiter ausgebaut.
Es braucht aber noch mehr und schnellere Lösungen. Und für Geflüchtete aus der Ukraine könnte es die auch geben, das zeigt ein Projekt in Schöneberg: Der Verein "Schöneberg hilft" bietet Schulunterricht auf Ukrainisch an. Neben ukrainischen Kindern kamen seit Beginn des Krieges auch ukrainische Lehrkräfte nach Berlin. Hier werden beide zusammengebracht. In zwei Klassenräumen eines ehemaligen Schulgebäudes wird an fünf Tagen Schulunterricht für Grundschüler und ältere Kinder angeboten. Kinder, die auf einen Platz im Berliner Schulsystem warten, bekommen hier mehrere Stunden am Tag echten Schulunterricht in ihrer Muttersprache, dazu gibt es Deutschkurse.
"Berlin wird es auch in den nächsten zwölf Monaten nicht schaffen"
"Es ist ein Kompromiss: Sie lernen ein bisschen die deutsche Sprache, aber im Wesentlichen lag den Kindern und ihren Eltern daran, dass sie von qualifizierten ukrainischen Lehrkräften weiter unterrichtet werden, um sich die Option offenzuhalten, im Sommer an einer ukrainischen Abschlussprüfung teilzunehmen", sagt Hans-Jürgen Kuhn, der Bildungskoordinator von "Schöneberg hilft". Ein Kompromiss, der größer gedacht das System entlasten könnte. Viele Menschen aus der Ukraine hätten noch nicht unbedingt das Ziel, langfristig in Berlin zu bleiben, sagt Kuhn, sie würden immer noch davon träumen, in ihr Heimatland zurückzukehren nach dem Krieg. Idealerweise sollte es zwar das politische Ziel sein, allen Kindern einen Platz im deutschen Bildungssystem zu bieten, sagt Kuhn, "davon sind wir aber weit entfernt und deshalb reden wir über Not- und Überbrückungsmaßnahmen: Weil Berlin es auch in den nächsten zwölf Monaten nicht schaffen wird, ausreichend Schulraum zu finden", befürchtet er.
Ob diese pessimistische Prognose genau so zutrifft oder nicht, fest steht: Derzeit sieht es in vielen Bezirken schlecht aus für Migrantenkinder, die einen Schulplatz in Berlin bekommen wollen und sollen. Deshalb wären mehr alternative Angebote wichtig, um zumindest mit ähnlichen Projekten wie "Fit für die Schule" oder "Schöneberg hilft" alle 1.600 Kinder im Wartestand zu versorgen. Die Überbrückungsmaßnahme für ukrainische Kinder von "Schöneberg hilft" musste längst selbst eine Warteliste eröffnen, so groß ist der Bedarf.
Sendung: rbb24 Inforadio, 22.02.2023, 7:20 Uhr