Fachkräftemangel in Berliner Arztpraxen - Suche medizinische Fachangestellte – biete Kreuzfahrt
Medizinische Fachangestellte (MFA) haben eine breit gefächerte Ausbildung, aber oft nur ein kleines Gehalt und viel Stress. Viele wandern aus den Praxen ab in besser bezahlte Jobs. Mit gravierenden Folgen. Von Oda Tischewski
Die Schulungen für Diabetiker wurden gestrichen. Auch die Kurse für die Rauchentwöhnung und die Ernährungsberatung gibt es nicht mehr. Und anders als früher ist die Praxisgemeinschaft der beiden Hausärztinnen Margarete Falbe und Nicolette Juche in Berlin-Wedding nun Mittwochnachmittags geschlossen. Nicht weil die beiden Ärztinnen weniger arbeiten wollten, sondern weil ihr Team in den vergangenen Jahren immer weiter geschrumpft ist. Von ehemals vier medizinischen Fachangestellten (MFA) und einer Auszubildenden sind mittlerweile noch drei da – und zwei von ihnen gehen zum Jahresende.
"Es gab schon Tage, da mussten wir die Praxis schließen, weil wir wirklich kein Personal hatten", sagt Nicolette Juche. Bei jedem Krankheitsfall im Team breche alles zusammen. Dann müssen sie und ihre Kollegin regelmäßig Aufgaben der MFA mit übernehmen - das ist auch wirtschaftlich ein Problem. Denn dadurch haben die Ärztinnen weniger Zeit für die Leistungen, mit denen sie ihre Praxis am Laufen halten – und ihr Personal bezahlen. Seit mehr als drei Jahren steht auf der Webseite eine Stellenanzeige – "MFA in Voll- oder Teilzeit gesucht!"
Sie listet übertarifliche Bezahlung, Ausflüge mit den Kolleginnen, ein Jobticket auf. Trotzdem bleiben die Bewerbungen aus. "Manche Praxen zahlen Einstiegsprämien oder machen mit den Angestellten Kreuzfahrten", erzählt Praxismanagerin Giuliana Cirillo, "das kann sich vielleicht ein Radiologe leisten, aber wir kriegen das nicht gestemmt."
Tarifsteigerungen kommen nicht an
Die "übertarifliche Bezahlung" ist nicht selten in den Praxen. Bei einer Umfrage der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gaben im Mai 96 Prozent der mehr als 820 befragten Berliner Praxen an, ihre MFAs nach oder über Tarif zu bezahlen. Dennoch verdienen MFAs deutlich weniger als Pflegekräfte. Und selbst wenn ihre Gewerkschaft, der Verband der medizinischen Fachangestellten (VmF), deutliche Tarifsteigerungen für sie die aushandelt, dauert es bis zu 24 Monate, bis die auch bei der Honorierung der Ärzte berücksichtig wird – wenn überhaupt. "Wir brauchen eine automatische, vollumfängliche und zeitnahe Gegenfinanzierung der Tarifsteigerungen", so Hannelore König, Präsidentin des VmF.
Nach Angaben der Gewerkschaftspräsidentin bekommt eine MFA als Einstiegsgehalt 13,22 Euro die Stunde und kommt damit auf knapp 2.400 Euro brutto im Monat. Zum Vergleich: Wenn eine MFA sich ein Jahr lang zur Pflegehelferin in einer Klinik ausbilden lasse, bekomme sie anschließend 15,60 Euro die Stunde plus diverser Zuschläge, so König.
Geringe Wertschätzung für Beruf
Die Bezahlung allerdings ist nur ein Grund für viele MFAs, den Job zu wechseln. Denn den niedrigen Gehältern steht oft eine ebenso geringe Wertschätzung ihres Berufs gegenüber. Immer wieder erlasse die Politik neue Regelungen, die zu noch mehr Bürokratie in den Praxen führten. Immer wieder verkünde sie vermeintliche Verbesserungen. "Inzwischen sind es 75 Prozent Bürokratie, 25 Prozent Arbeit am Patienten", rechnet Claudia Sach vor. Sie ist medizinische Fachangestellte in der Praxisgemeinschaft. Viele Dinge, wie das angekündigte eRezept, seien noch gar nicht ausgereift, trotzdem müssten die Praxen sie umsetzen. "Und dann stürzt der Rechner ab, weil’s eben noch nicht richtig funktioniert. Das sind eben so viele Sachen, die mich nicht mehr richtig glücklich machen…" Sie nicht und die Patienten auch nicht: Einmal am Tag mindestens verlasse jemand türenknallend die Praxis.
"Dann kommen wir ums Schließen nicht herum"
Seit 30 Jahren arbeitet Claudia Sach als MFA in der Weddinger Praxis. Ende des Jahres möchte sie aufhören, wieder mehr mit Patienten arbeiten, im Sportbereich, in der Reha vielleicht. Auch eine jüngere Kollegin, gerade einige Jahre im Beruf, verlässt die Praxis. Findet sich nicht bald Ersatz für die beiden, bleibt Praxismanagerin Giuliana Cirillo als einzige MFA in der Praxisgemeinschaft zurück. Und dann?
"Ich denke, wir kommen dann ums Schließen nicht drumrum", sagt Giuliana Cirillo. Allein könne sie die Arbeit nicht stemmen, auch nicht mit der Unterstützung von Auszubildenden oder Studierenden. "Es muss immer eine MFA da sein. Und ich muss ja auch mal Urlaub machen."
Für die Gewerkschaft der MFA liegt das Problem in der vielgescholtenen Budgetierung von ärztlichen Leistungen. Auch die Personalkosten müssen aus diesen Budgets bestritten werden. Doch die seien eben gedeckelt. In der Kinderheilkunde wurde die Budgetierung Anfang April aufgehoben. Die Hausarztpraxen sollen, so eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag, folgen. Doch die Umsetzung stagniere, kritisiert Verbandspräsidentin Hannelore König.
Aktionstag in Berlin
Für diesen Freitag hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zur Krisensitzung nach Berlin geladen. Immer neue Regeln und Vorgaben, eine schleppende Digitalisierung und viel zu wenig Geld – so lassen sich die Kritikpunkte der Ärzteschaft zusammenfassen. Das Bundesgesundheitsministerium hat sich bereits im Vorfeld geäußert: Man könne die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Immerhin steige der jährliche Reinertrag der durchschnittlichen deutschen Arztpraxis seit Jahren an und habe sich schon 2019 auf knapp 300.000 Euro belaufen – nach Abzug von Praxismiete, Personal- und Materialkosten.
Die Zahl stammt von Statistischen Bundesamt, das sie weiter aufschlüsselt: Und so zeigt sich, dass in einzelnen Fachrichtungen wie der Radiologie oder der Augenheilkunde auch das Zwei- oder Dreifache dieses Mittelwertes verdient wird. Haus-, Kinder- oder Frauenarztpraxen hingegen liegen deutlich darunter.
Auch am Freitagnachmittag werden Nicolette Juche und ihrer Kollegin ihre Praxisgemeinschaft schließen. Grund ist diesmal nicht der MFA-Mangel – zumindest nicht direkt. Die beiden Ärztinnen fahren nach Mitte, um sich am Aktionstag der KBV zu beteiligen. Noch gibt es Hoffnung.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.08.2023, 06:40 Uhr