Interview | Jan Seidel - Wie bereiten sich eigentlich Schiedsrichter auf die Saison vor?

Di 25.07.23 | 06:20 Uhr
Schiedsrichter-Assistent Jan Seidel wird von Fußballer Daniel Heuer angesprochen (Bild: Imago Images/Uwe Kraft)
Bild: Imago Images/Uwe Kraft

Die Bundesliga-Profis schwitzen im Trainingslager und bereiten sich mit Testspielen auf den Saisonstart vor. Doch wie läuft das bei den Unparteiischen? Der Brandenburger DFB-Schiedsrichter-Assistent Jan Seidel gibt Einblicke in seine Saisonvorbereitung.

rbb|24: Herr Seidel, die Bundesliga-Profis bereiten sich gerade fast alle in Trainingslagern in Süddeutschland, Österreich oder Italien auf die neue Saison vor. Die Elite-Schiedsrichter - auch Daniel Siebert, in dessen Gespann Sie pfeifen - sind in Herzogenaurach zusammengekommen. Wie läuft die Vorbereitung für Sie als Assistent?

Jan Seidel: Wir hatten in der letzten Woche unseren Lehrgang an der Sportschule in Kaiserau. Da haben wir im Prinzip die gleichen Inhalte mit Leistungstest, Regeltest und Videotest durchgeführt. Wir hatten verschiedene Schulungen auf allen möglichen Ebenen. Es ging über vier Tage und damit haben wir uns ganz gut auf die neue Saison vorbereitet.

Zur Person

Jan Seidel kommt aus Schwante, einem Ortsteil von Oberkrämer (Oberhavel). Nachdem er bis zur 3. Liga selbst Spiele leitete, spezialisierte er sich als Schiedsrichter-Assistent.

Seit der Saison 2012/2013 ist er in der Bundesliga aktiv, 2016/2017 kamen die Europa League und 2017/2018 schließlich die Champions League dazu. Gemeinsam mit Rafael Foltyn war er bei der Europameisterschaft 2020 und bei der Weltmeisterschaft 2022 als Assistent von Daniel Siebert im Einsatz.

Warum finden die Lehrgänge der Schiedsrichter und Assistenten getrennt statt?

Im Winter sind wir immer zusammen. Das ist eine gute Möglichkeit, im Team Szenen aufzuarbeiten. Es wurde sich dafür entschieden, dass im Sommer doch ein bisschen mehr getrennt wird. Für Schiedsrichter gibt es teils andere Inhalte als für die Assistenten. Ich glaube, man hat jetzt gesplittet, um noch gezielter Input geben zu können.

War das der einzige Lehrgang vor Saisonstart oder stehen in der Vorbereitung noch andere Seminare an?

Es gibt jetzt nur noch Vorbereitungsspiele, die uns dann, wie die Mannschaften, auf die neue Saison einstimmen. Und dann geht es zeitnah auch schon wieder los.

Die Spieler üben im Trainingslager Passgenauigkeit, Spielzüge oder verschiedene Systeme. Nach den Einheiten geht es in die Eistonne. Wie kann man sich das Trainingslager für den Job an der Seitenlinie vorstellen?

Es ist schon relativ analog. Wir haben wirklich gute Bedingungen an den Sportschulen, wo wir uns aufhalten. Wir haben viele Sportplätze, wo wir dann unsere Trainingseinheiten machen. Im Vergleich zu den Spielern ist natürlich wenig mit dem Ball dabei. Es sind mehr Laufeinheiten, Kraft und Stretching – alles, was wir brauchen, um uns gut bewegen zu können. Wir haben auch Athletiktrainer, Physiotherapeuten und Ärzte als großen Staff dabei, der uns betreut.

Und dann wechseln wir in der Regel zwischen Theorie und Praxis. Morgens haben wir eine Trainingseinheit, gefolgt von Videoszenen oder Inputs zu verschiedenen Themenbereichen. Bei uns ist das nach den Clustern der Entscheidungen aufgeteilt. Also Strafraumsituationen, Entscheidungen zum Handspiel, Abseitssituationen oder zur Zusammenarbeit. Die Blöcke werden geballt zusammen behandelt. Der Video-Assistent und die Kommunikation waren auch große Themen. Das ist immer ein guter Mix, sodass die vier Tage von morgens bis abends gut gefüllt sind.

Wie sehen die Leistungstests aus, die Sie absolvieren müssen?

Es ist ein zweifacher Test, unterteilt in Sprints und Ausdauer. Bei den Sprints ist es für uns Assistenten so, dass wir fünf Mal die 30 Meter mit Pausen von 30 Sekunden dazwischen laufen müssen. Wir haben eine gewisse Norm, die wir erfüllen müssen. Dann gibt es einen Pendellauf, wo wir uns teilweise seitwärts, teilweise vorwärts und auch im Sprint sehr schnell bewegen müssen: Zehn Meter vorwärts, siebeneinhalb seitwärts, siebeneinhalb seitwärts zurück und wieder zehn Meter im Sprint vorwärts.

Und dann gibt es noch einen Intervalltest, in dem wir in einem ähnlichen Modus, aber etwas langsamer unterwegs sind. Dabei sind 40 mal 75 Meter zu absolvieren und wir können nur kurz verschnaufen, bevor es gleich wieder losgeht. Das ist schon anstrengend und verlangt eine sehr gute körperliche Verfassung.

Wie ist Ihr Test gelaufen?

Ich bin sehr gut durchgekommen und sehr zufrieden mit den Ergebnissen. Wir hatten auch ein Medical Screening, das sehr sinnvoll war. Die Physiotherapeuten haben viele Übungen oder Tests zur Beweglichkeit und zur Kräftigung gemacht, um herauszufinden, wo wir noch Defizite haben und an uns arbeiten können. Es geht besonders darum, die Verletzungsprävention voranzutreiben. Auch bei uns Schiedsrichtern ist die Belastung sehr hoch und Verletzungen bleiben nicht aus. Dafür ist ein Medical Screening sehr sinnvoll, um uns da besser vorzubereiten.

Wir wechseln vom Athletiktraining zum Theorieteil: Welche Regeländerungen sind für die Saison 2023/24 besonders wichtig?

Letztlich sind es gar nicht so viele, die in der Praxis relevant sind. Es gibt beim Abseits eine Änderung in der Beschreibung. Im Prinzip haben wir es in der letzten Saison auch schon so umgesetzt, dass eine Ballannahme oder Ballverlängerung in wirklich kontrollierter Art und Weise erfolgen muss, um das Abseits aufzuheben. Also jemand hat genug Raum, keinen Gegnerdruck, kann zum Ball gehen und ihn sehen. Wenn er hingegen irgendwie unter Hektik oder Stress reagieren muss oder einen Reflex macht, um den Ball abzuwehren oder abzufälschen, ist das Abseits nicht aufgehoben, weil es dann eben kein Spiel kontrollierter Art und Weise ist.

Eine Anpassung ist, dass auch Torjubel konsequenter nachgespielt werden sollen, weil die FIFA eine höhere Nettospielzeit erreichen will. Lange Nachspielzeiten haben wir auch schon in der letzten Saison gesehen. Das hat auch zur Diskussion geführt, ob es nicht sinnvoller wäre, die Zeit wie beim Basketball zu stoppen. Warum wird das beim Fußball nicht gemacht?

Die Diskussion gibt es ja schon lange. Die Nachspielzeit ist bei der WM, wo ich auch dabei war, sehr dezidiert gestoppt und nachgespielt worden, um die Nettospielzeit zu erhöhen. Da stellt sich natürlich die Frage, ob man es wie in anderen Sportarten macht und es nur eine effektive Spielzeit gibt, wenn der Ball rollt. Jetzt ist nochmal konkret benannt worden, dass explizit auch der Torjubel nachgespielt werden soll.

Ich sehe es nicht als Kontrollstelle oder habe Angst, dass ich überstimmt werde – überhaupt nicht. Es geht darum, dass am Ende die richtige und faire Entscheidung steht.

Jan Seidel, Schiedsrichter-Assistent, über den Video-Assistenten

Es geht nun bereits in die siebte Saison mit dem Video-Assistenten. Wie hat der Ihren Job und Ihr Gefühl auf dem Platz verändert?

Der Video-Assistent ist für mich nach wie vor ein absolutes Hilfstool, das uns auch in der Entscheidungsqualität hilft. Es gibt nichts Schlimmeres, als nach dem Spiel mit einer falschen Entscheidung dazustehen. Die wird mit dem Video-Assistenten natürlich nicht zu 100 Prozent verhindert, aber die Anzahl der Fehlentscheidungen nach dem Spiel hat massiv abgenommen, sodass wir Schiedsrichter schon sehr zufrieden damit sein können. Die Fehlerquote ist nachweislich deutlich gesunken. Und an den wenigen Fehlern, die wir jetzt noch haben, arbeiten wir natürlich, damit wir den Video-Assistenten dann einsetzen, wenn es Sinn macht.

Es ist ein absolut sinnvolles Tool gerade für uns als Assistenten, wo man es sehr genau auflösen kann und es wenige Diskussionen gibt, da hilft es schon. Ich sehe es nicht als Kontrollstelle oder habe Angst, dass ich überstimmt werde – überhaupt nicht. Es geht darum, dass am Ende die richtige und faire Entscheidung steht. Wenn man einen knappen Wahrnehmungsfehler hatte, ist das auch überhaupt kein Problem. Genau dafür gibt es die Instanz.

Anfang Juni haben standen Sie beim Pokalfinale an der Seitenlinie. War das Ihr Highlight der vergangenen Saison?

Es war das absolute Highlight in Deutschland. Das ist schon irgendwo das größte Spiel, das man erreichen kann. Es hat auch sehr viel Spaß gemacht und war eine tolle Auszeichnung. Das ganze Rahmenprogramm drum herum hat uns da auch sehr gefreut. Auch in Berlin "zuhause", sozusagen in unserer Geburtsstadt das Spiel zu leiten, war wirklich toll. International hatten wir natürlich die Weltmeisterschaft, die als Turnier das bisherige internationale Highlight war.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lynn Kraemer, rbb sport.

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