Theaterkritik | Festival "Radar Ost" am Deutschen Theater - Wie erzählt die Kunst vom Krieg?
![Gastspiel Belarus Free Theatre, Belarus | Großbritannien Dogs of Europe nach dem Roman von Alhierd Bacharevič. (Quelle: Linda Nylind) Gastspiel Belarus Free Theatre, Belarus | Großbritannien Dogs of Europe nach dem Roman von Alhierd Bacharevič. (Quelle: Linda Nylind)](/content/dam/rbb/rbb/rbb24/2023/2023_03/presse/44158_dsc_6968.jpg.jpg/size=708x398.jpg)
Zum fünften Mal zeigt das Deutsche Theater in Berlin mit "Radar Ost" neues Theater aus Ost-Europa. Bislang waren immer auch Produktionen aus Russland zu sehen, für die aktuelle Ausgabe hat man sich für einen Ukraine-Schwerpunkt entschieden. Von Barbara Behrendt
Kann Kunst vom Krieg erzählen? Diese Frage, die über der aktuellen "Radar-Ost"-Ausgabe steht, nennt die Festival-Kuratorin Birgit Lengers zu Recht eine rhetorische. "Natürlich kann Kunst das. Das tut sie schon seit Beginn des Theaters. Schon Aischylos hat mit den Persern vom Krieg erzählt. Unsere Frage ist: Wie macht das Theater das? Mit welchen Formen, mit welchen Motiven, mit welchen Ästhetiken, mit welcher Haltung?"
Bei der Eröffnung des Festivals, das seit seiner Gründung vor fünf Jahren zur wichtigsten Berliner Bühne für Theatermacher:innen aus Osteuropa und Russland geworden ist, ist es zunächst die Musik, die bewegend vom Krieg erzählt. Svetlana Kundish und Mariana Sadovska singen ein ukrainisches, jiddisches Volkslied über einen sterbenden Soldaten, der den Vogel über ihm bittet, der Mutter nichts von seinem Tod zu berichten.
"Hamlet without Me"
Auch bei der anschließenden Uraufführung vom Left Bank Theatre in Kiew, in Koproduktion mit dem Deutschen Theater, klingen poetische Töne an. Die Inszenierung der erfolgreichen Regisseurin Tamara Trunova sollte ursprünglich in Kiew Premiere feiern, Plakate waren schon gedruckt: "Hamlet" stand darauf – Probenbeginn am 24.2.2022. Am Tag der russischen Invasion. Auf dem Programmzettel in Berlin steht nun "Halt" statt "Hamlet", das M und E, also das "Me" ist durch Sternchen ersetzt. "Hamlet without Me" erklärt die Regisseurin, "Hamlet ohne mich".
Und so ist aus dem Drama um den zaudernden dänischen Prinzen ein Stück ohne Stück geworden, eine Leerstelle, eine Geschichte, die sich allein im Kopf der Schauspieler:innen abspielt. Auf der Bühne zunächst nur ein paar Stühle, Oleh Stefan begrüßt zum Publikumsgespräch, so als hätten wir die "Hamlet"-Vorstellung soeben auf der Bühne gesehen. Und als seien wir im Left Bank Theatre in Kiew.
Man warte, sagt er, nur noch auf die Kolleg:innen in der Garderobe, dann könne das Gespräch beginnen. Als die dann eintreffen, wird klar: Das komplette Ensemble lebt in einer imaginierten Welt, in der der Krieg nie ausgebrochen ist: Was seien das noch für Zeiten gewesen, erzählen sie, als man Krieg in der Ukraine zu befürchten hatte. Es dauert lange, bis die Schauspieler:innen begreifen: Wir sind nicht in Kiew und es gab auch keine Hamlet-Aufführung. Doch vielleicht ist diese Realität selbst nur ein böser Traum? Wie zum Beweis rattert der eiserne Vorhang nach oben und legt sechs blutrote Weihnachtsbäume frei, die es doch unmöglich in der Wirklichkeit geben kann.
![Kooperation mit dem Left Bank Theatre, Kyjiw | Ukraine für RADAR OST 2023 Ha*l*t (Quelle: Arno Declair) Kooperation mit dem Left Bank Theatre, Kyjiw | Ukraine für RADAR OST 2023 Ha*l*t (Quelle: Arno Declair)](/content/dam/rbb/rbb/rbb24/2023/2023_03/presse/45157_halt_6075.jpg.jpg/size=708x398.jpg)
Ein Nicht-Sein im Exil
Erst als ein Kollege, der im "Hamlet" mitspielen sollte, per Video von der Front zugeschaltet wird, dringt der Kriegsalltag ins Bewusstsein der Schauspieler:innen vor. Und auch wieder nicht. Denn sie kämpfen ja nicht mit Waffen. Eine Vorhölle sei ihre Existenz, sagen sie, ein Zwischenzustand, ein Nicht-Sein im Exil. Oder doch Sein? In ihren somnambulen Monologen mäandern sie durch berühmte Hamlet-Verse und finden weder Halt noch Antworten. Der Rest ist Schweigen? Träum ich, wach ich? Sich waffnend gegen eine See voll Plagen?
Gegen Ende manifestiert sich die Realität immer stärker – während die Spieler:innen fürs deutsche Publikum zur Unterhaltung einen Volkstanz aufführen, schreien sie mit zynischem Jauchzen die Namen ukrainischer Gefallener heraus.
Ironisch-bitter erzählen sie, wie der Krieg ihre Karriere angeheizt hat: Oleh Stefan hat sogar schon an der Berliner Schaubühne gespielt – auch dort ging es übrigens um den abgesagten "Hamlet" in Kiew. Allerdings kreiste der Schaubühnen-Abend deutlich politisch direkter um die Frage, ob Künstler:innen zur Waffe greifen sollten.
Ratlosigkeit ist die Haltung, von der sie vom Krieg erzählt
Tamara Trunovas "Halt" wirkt nachdenklicher, verlorener. Bei Trunova kriecht der Krieg übers Unterbewusstsein herein. Die Inszenierung ist jedoch auch verklausulierter, sperriger und extrem wortreich. In der deutschen Übertitelung zudem schwer zu entschlüsseln. Trotzdem gelingt mit dieser Uraufführung ein sehr ehrlicher Festivalauftakt. Ratlosigkeit ist die Haltung, mit der sie vom Krieg erzählt und vom trostlos Unbehausten der Künstler:innen im Exil.
Noch bis Sonntag gastieren bei "Radar Ost" Inszenierungen aus der Ukraine, aus Belarus, Georgien und Slowenien. Alle Stücke sind unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges in Schutzräumen in Kiew, auf Festivals, im Exil in London und Paris herausgekommen oder feiern erst jetzt in Berlin ihre Uraufführung.
In "Dogs of Europe" hat sich Russland im Jahr 2049 über die halbe Welt ausgedehnt
"Dogs of Europe" vom Belarus Free Theatre hatte 2022 in London Uraufführung und zeigt in Berlin nun seine Deutschlandpremiere. Im Ansatz unterscheidet sich die Arbeit stark von "Halt", doch die energetische, körperliche, emotionale, auch pathetische Theatersprache eint die beiden Produktionen. Gesang und Trommel gehen bei "Dogs of Europe" durch Mark und Bein. Statt eines Bühnenbilds blickt man im ersten Teil auf eine große Leinwand, auf der die unterschiedlichen Stationen der Erzählung wie bei einem Computerspiel erscheinen und weiterziehen.
"Dogs of Europe" ist die Bühnenadaption eines Romans, der in Belarus inzwischen verboten ist. Er imaginiert die Welt 2049: Russland hat sich zum diktatorischen "Großen Reich" über die halbe Welt ausgedehnt, Belarus gibt es nicht mehr. Eine unüberbrückbare Mauer trennt das "Große Reich" vom "Bund der Europäischen Staaten". Eine brisante Ausgangslage. Allerdings bleibt die Dystopie, die von hier aus aufgefächert wird, schwer nachvollziehbar: ein Spion, gekaperte Inseln, ein mysteriöser Todesfall in einem Berliner Hotel, Gänsefedern und verbotene Bücher von anonymen Autoren – ohne Romankenntnis (das Buch ist nicht ins Deutsche übersetzt) bleibt das allzu kryptisch.
Politisch wird es dann noch einmal beim Schlussapplaus: Das Ensemble tritt mit riesigem "Stand With Ukraine"-Plakat auf die Bühne und die Co-Regisseurin Natalia Kalida spricht aufrüttelnde Worte: Alle Menschen, die wir auf der Bühne sehen, sagt sie, saßen in Belarus im Gefängnis oder haben im Krieg gekämpft. Aus Deutschland heraus hätten wir dafür Sorge zu tragen, dass die europäischen Werte in der Ukraine verteidigt werden. "Für die Demokratie muss man etwas tun."
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.03.2023, 12:15 Uhr
Nächster Artikel
Analyse | Schwule und die AfD - Beziehungsstatus: it's complicated
Berlin und Brandenburg - Mehrere Zentimeter Neuschnee gefallen - Glättegefahr
RE2, RE7, RB21 und RB23 - Brandstiftung bei der Bahn - Bekennerschreiben aufgetaucht
75. Internationale Filmfestspiele Berlin - Die Berlinale startet mit Weltstars - und neuer Festivalleitung
Brandenburg - Mehr Ausreisepflichtige als Abschiebungen - weitere Ausreisezentren geplant
Trendsport im Selbstversuch - Studios für Reformer Pilates übernehmen Berlin, aber warum eigentlich?
Highlights der 75. Berlinale - Filmkunst, Stars und ein Festival auf bewährten Wegen
Grüne-Spitzenkandidatin im rbb24-Interview - Baerbock fordert Investitionen und will so den Zusammenhalt stärken
Scharfe Kritik aus der CDU - Scholz soll Berlins Kultursenator Chialo als "Hofnarr" bezeichnet haben
Deutsche Eishockey Liga - Eisbären demontieren Düsseldorf und stehen kurz vor Playoff-Einzug
Emma Hinze pausiert - Bronze für Friedrich und Co. bei Bahnrad-EM
Basketball-Bundesliga - Alba Berlin setzt Aufwärtstrend gegen Rostock fort
Verdi-Aufruf - Kitas am Montag zu: Warnstreik im Öffentlichen Dienst nun auch in Brandenburg
Interview | George Boateng - "Klar ist: Viktoria will immer aufsteigen"
Verschwörungserzählungen und Staatsverachtung - Rechte Verbindungen der Berliner Smartbroker Holding AG?
Schlechte Luft - Umweltbundesamt warnt vor Feinstaub - Besserung in Sicht
Bildungsverwaltung - Verband nennt neues Pflichtschuljahr für Ausbildungslose eine "Herausforderung"
Porträt | Tilda Swinton - Eine Ikone des Kinos wird endlich mit dem Goldenen Ehrenbären gewürdigt
Bildergalerie | Goldener Ehrenbär - Tilda Swinton - wandelbare Schauspielerin
Volleyball - BR Volleys verlieren Hinspiel des CL-Achtelfinals gegen Lüneburg
Landespokal Berlin der Frauen - Viktoria Berlin und Grün-Weiß Neukölln ziehen ins Pokal-Halbfinale ein
Deutsche Außengrenzen - Bundesregierung verlängert Grenzkontrollen bis Ende September
ISTAF Indoor in Berlin - Alle wichtigen Infos zum weltweit größten Leichtathletik-Hallenmeeting
Sturmschäden - Beschädigte Solaranlage auf dem Cottbuser Ostsee muss geborgen werden
Safer Internet Day 2025 - Aktionstag will für Umgang mit Fake News sensibilisieren
300 Kubikmeter Holz - Brandenburgs wertvollste Laubholzstämme werden meistbietend versteigert
Großspende an Partei 2023 - Berlinerin vererbt AfD fast sechs Millionen Euro
Bundestagswahl 2025 - Das planen die Parteien in Sachen Sport
Bundestagswahl 2025 - Hier können Sie den Wahl-O-Mat nutzen
Gemeinsame Pressekonferenz - Klubs der Regionalliga Nordost drängen erneut auf Aufstiegsreform
Icon League, Unrivaled und Co. - Neue Formate: Wenn der Sport nach den Regeln der Unterhaltungsindustrie spielt
Branche unter Druck - Kinos in Brandenburg verkaufen als einzige mehr Tickets in 2024
Projekt "Scancars" - Digitale Parkraumbewirtschaftung in Berlin liegt vorerst auf Eis
Güteverhandlung in Frankfurt (Oder) - Keine Einigung zwischen IG Metall und Tesla-Betriebsratsvorsitzender
Fortschritte bei Sanierung - Pergamonmuseum gibt Details der Teilöffnung in zwei Jahren bekannt
Berlin-Gesundbrunnen - Mehrere E-Scooter ins Gleis geworfen - S-Bahnverkehr unterbrochen
Polizei ermittelt - Mögliche Brandstiftung an Bildungszentrum in Neukölln
Schützenvereine - Schießsport wird in Berlin und Brandenburg immer beliebter
Donnerstag und Freitag - Das sind die Auswirkungen des Warnstreiks im Öffentlichen Dienst
Interview | Berlinale-Chefin Tricia Tuttle - "Ich möchte, dass es kein Drama gibt, und dass alle über Filme sprechen"
2. Fußball-Bundesliga - Riesiger Umbruch droht - Wie könnte Herthas Kader nächste Saison aussehen?
Dritte Verhandlungsrunde - BVG legt im Tarifstreit verbessertes Angebot vor
Staatsanwaltschaft - Berliner Palliativmediziner jetzt Verdächtiger in zehn Mordfällen
FDP-Spitzenkandidatin im rbb24-Interview - Teuteberg will Wirtschaftsstandort Deutschland stärken und Migration begrenzen
Statistik für 2024 - Brandenburger Polizei verzeichnet Höchststand an Notrufen
1:0-Sieg in Hohen Neuendorf - Frauen von Hertha BSC stehen im Landespokal-Halbfinale
Interview | Sportpsychologe - "Natürlich haben soziale Plattformen Einfluss auf das Sportverhalten"
Demografischer Wandel - Wähler über 60 werden immer mächtiger
Bauarbeiten auf der Strecke - ICE-Direktverbindung Berlin-Paris im April für zwei Wochen unterbrochen
Neue Technik - Cottbuser Krankenhaus bekommt Baby-Notarztwagen
Im Rahmen von DFB-Bewerbung - Berlin will Spiele der Frauen-EM 2029 ins Olympiastadion holen
Interview | Charité-Forscher - "Für Allergiker gibt es nur noch eine kurze Zeit, in der sie keine Beschwerden haben"
Trumps Handelskrieg und seine Folgen - Was US-Zölle für Berlin und Brandenburg bedeuten könnten
Bundestagswahl 2025 - Hier können Sie den Wahl-O-Mat nutzen
Bundestagswahl - Diese Parteien stehen in Berlin und Brandenburg zur Wahl
Bundestagswahl 2025 - Das sind die Direktkandidaten in den Berliner Wahlkreisen
Bundestagswahl 2025 - Das sind die Direktkandidaten in den Brandenburger Wahlkreisen
Bundestagswahl 2025 - Das sind die Landeslisten der Parteien in Berlin
Bundestagswahl 2025 - Das sind die Landeslisten der Parteien in Brandenburg