Deutlicher Anstieg - Zehntausende geflüchtete Kinder und Jugendliche in Europa vermisst

Di 30.04.24 | 09:09 Uhr | Von Jan Wiese und Tina Friedrich
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Symbolbild: Jugendliche spielen Fußball in der Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. (Quelle: dpa/Schmidt)
Audio: rbb24 Abendschau | 30.04.2024 | Tina Friedrich/Jan Wiese | Bild: dpa/Schmidt

Unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche warten oft monatelang auf ihre Registrierung. Eine lange Zeit ohne Perspektive. Einige verschwinden in dieser Zeit vom Radar der Behörden. Von Jan Wiese und Tina Friedrich

  • Zahl vermisster Kinder und Jugendlicher auf der Flucht hat sich seit 2021 mehr als verdoppelt
  • Deutsches Kinderhilfswerk: Hilfesystem sei "sehr angespannt"
  • viele geflüchtete Minderjährige laufen weg aufgrund von Perspektivlosigkeit

Europaweit werden derzeit 51.433 unbegleitete Kinder und Jugendliche vermisst, nachdem sie sich in staatlicher Obhut befanden. Das ergibt eine exklusive Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks Lost in Europe, zu dem auch rbb24 Recherche gehört. Bis heute haben die Behörden keine Kenntnisse über ihren Verbleib. Die Anzahl vermisster Kinder und Jugendlicher hat sich seit der letzten Datenrecherche im Jahr 2021 mehr als verdoppelt: damals wurden europaweit 19.292 Geflüchtete vermisst, in Deutschland waren es 792.

In Berlin sind in den vergangenen drei Jahren 286 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Obhut der Behörden verschwunden. Nach Angaben des BKA wird nach 62 immer noch gesucht. Brandenburg sucht noch 71 von 132 Vermissten.

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, die für die Erstversorgung und -betreuung der jungen unbegleiteten Geflüchteten zuständig ist, gibt auf Nachfrage von rbb24 Recherche an, nicht zu wissen, wie viele Jugendliche in Berlin verschwunden sind. Die Träger der Versorgungseinrichtungen seien verpflichtet, jeden Verschwundenen vermisst zu melden.

In Berlin war die Wartezeit auf das Erstgespräch, in dem die jugendlichen Geflüchteten erzählen sollen, wie alt sie sind, wo sie herkommen und vor allem, wo sie hinwollen, im vergangenen Sommer besonders lang. Bis zu neun Monate konnte es damals dauern, bis ein neues Zuhause gefunden war. Inzwischen hat die Senatsverwaltung weiteres Personal eingestellt, und die Wartezeit auf etwa vier Monate verkürzt. Allerdings kommen im Sommer erfahrungsgemäß mehr Geflüchtete in Berlin an als im Winter.

Clearingverfahren Berlin

Das Verfahren zur Versorgung von minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten in Berlin ist mehrstufig. Zunächst werden die Daten der jungen Geflüchteten erhoben und sie werden medizinisch untersucht. Während dieser Zeit kommen sie in einer von 36 Unterkünften des Senats unter, in denen sie dann auf das Erstgespräch in der zentralen Clearingstelle in Wilmersdorf warten.

Danach beginnt das 6-wöchige Clearingverfahren, an dessen Ende im Idealfall eines der bezirklichen Jugendämter eine dauerhafte Unterkunft für den Jugendlichen gefunden hat. Die Kapazitäten sind nach Angaben der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie begrenzt, und nicht alle, die das Verfahren durchlaufen haben, konnten bereits umziehen. 808 Jugendliche warten den Angaben zufolge derzeit auf das Ende des Clearingverfahrens oder darauf, dass eine Unterkunft für sie gefunden wird.

Perspektivlosigkeit als Grund, weiterzuziehen

In der Wartezeit wohnen die Teenager in großen Unterkünften, oft zu zweit in einem Zimmer, ohne viel Privatsphäre, oft ohne vertraute Ansprechpersonen. Wartend darauf, dass sie eine Perspektive erfahren, wo sie ihr neues Leben beginnen sollen. Das sei sehr frustrierend, sagt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk: "Das aktuelle Hilfesystem ist sehr angespannt. Die Kinder, die in Deutschland ankommen, müssen teilweise sehr lange darauf warten, bis sie ihr Erstgespräch haben, bis sie in die Kommunen verteilt werden und auch Zugang zu Bildung bekommen."

Für viele sei das der Moment, in dem sie den Entschluss fassen, lieber auf eigene Faust loszuziehen, fasst Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF) die Erfahrungen vieler Fachkräfte zusammen: "[Die Jugendlichen] wissen nicht so richtig, was passiert. Sie wissen nicht: werden sie noch verteilt, werden sie noch älter geschätzt? Und das produziert natürlich eine Perspektivlosigkeit bei den jungen Menschen, die vielleicht auch dazu führt, dass einige denken, irgendwo anders könnte es besser sein und dass sie dann weiterziehen, ohne dass irgendjemand weiß, wohin."

EU-Kommission spricht von "kaputtem" System

Im Schengenraum, wo im Prinzip keine Grenzkontrollen stattfinden, zeigt sich die europäische Dimension des Problems. "Wir haben ein kaputtes Migrationssystem", sagt auch die zuständige EU-Kommissarin für Inneres und Migration, die Schwedin Ylva Johansson, im Exklusiv-Interview mit rbb24 Recherche. Sie fügt allerdings sofort hinzu: "Mit dem neuen Migrationspakt reparieren wir das."

Bis heute gibt es keine einheitlichen Vorgaben, nach denen Informationen über aufgenommene oder verschwundene Minderjährige gespeichert und ausgetauscht werden müssen. Wenn die Zielländer dann bei einem Behördenkontakt der Jugendlichen deren Daten nicht (oder nicht korrekt geschrieben) über das zentrale Vermisstenregister im Schengenraum abgleichen, bleiben sie offiziell vermisst, auch wenn die Kinder vielleicht in sicheren Verhältnissen leben. Dennoch sagt Johansson: "Das Schengen-Informationssystem funktioniert. Auf diesem Weg werden sehr viele Kinder wiedergefunden."

Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Es kann sein, dass sie auch zum Beispiel kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren.

Theresa Keil, Deutsches Kinderhilfswerk

Gefahr der Ausbeutung besteht

Doch die mehr als 51.000 verschwundenen Kinder und Jugendlichen sind durch ebendieses System gefallen. Für diese Vermissten sehen Fachleute wie Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk große Gefahren: "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Es kann sein, dass sie auch zum Beispiel kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir. Vor diesen Gefahren muss das Kind geschützt werden."

Immerhin soll jetzt ein einheitliches Registrierungssystem für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eingeführt werden. Das löst zwar noch nicht das Problem der derzeit vermissten Kinder. Doch die EU-Länder sollen nun bessere Voraussetzungen schaffen und die Vermittlung von Ansprechpersonen und Vormündern erleichtern. Nur müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen, und das System dann auch nutzen.

"Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", zeigt sich die EU-Kommissarin Johansson zuversichtlich. Notfalls bleibe noch die Möglichkeit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein säumiges Land einzuleiten. Diese Verfahren dauern allerdings Jahre.

Sendung: rbb24 Abendschau, 30.04.2024, 19:30 Uhr

46 Kommentare

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  1. 45.

    Die sind doch nicht verschwunden, sondern woanders!

  2. 44.

    Die werden für den Familiennachzug nach Europa geschickt, wollen aber nicht nach DE, weil Familiennachzug woanders schneller geht!

    Auch wird niemanden verwehrt, sicher einzureisen, sonst gäbe es ja niemanden Dublin-5-Gerecht ankommt!
    Es ist ein Geschäftsmodell, das teurer ist, als eine reguläre Einreise, aber auch mehr bleiberecht bietet, weil ohne Passkontrolle!

    Oftmals nimmt die Famillie beim Schlepper im Dorf 10000$ Kredit auf, und muss das abstottern, bis Sohn X sie nachholt!

    Auch kenne ich kein Nicht-EU-Land, wo ich unbefristetes Aufenthaltsrecht bekomme!
    Die Bedingung sind immer gleich: 10000$ auf der hohen Kante, abgeschlossene Berufsausbildung, und ein Jobangebot, und zwar egal woher man kommt!

    M.E. tragen Eltern die Verantwortung für Ihre Kinder!

    Ich wäre dafür Weltweit Kinder aus Waisenhäusern aufzunehmen, und sie direkt vor Ort einzusammeln, weil man so ganz sicher immer Hilfebedürftige bekommt!

  3. 43.

    Im Video bei Minute 1:10 wird deine Frage beantwortet: Ja zu Teil größer oder kleiner.

  4. 42.

    Sind meist Flüchtlingskinder/Jugendlich/Jünger aussehende Volljährige, die noch nicht an Ihrem Ziel, z.b. die Niederlande, Norwegen, etc angekommen sind! Weshalb sie sich z.T. mit Anleitung angehöriger, still und leise auf die nächste Etappe machen, ohne das Behörden oder Einrichtung informiert werden. Ziel des ganzen ist der Familiennachzug!

    Es handelt sich hierbei nicht um verfolgte, oder Opfer von Sklaverei und Menschenhandel, sondern überwiegend um Asylsuchende, weshalb auch primär männliche Jugendliche auf die Reise geschickt werden!

    Darüber, das deshalb in Europa Zehntausende Vermisstenfälle ausgelöst werden, wird dabei nicht nachgedacht, bzw ist es Ihnen wohl leider egal…

    - Wären es unbegleitete Mädchen, würden die viele wohl auf dem Weg schon in den Fänge von Menschenhändlern geraten!

  5. 41.

    Kompliment für diesen kurzen Kommentar. Absolut zutreffende Aussage.
    Schönen Tanz in …

  6. 40.

    @Manfred: Schauen Sie sich die Alterspyramide in D an. Wir brauchen Einwandernde. Zu meinen, wir würden ausschließlich Fachkräfte bzw hoch ausgebildete Menschen einlassen, ist zu kurz gedacht. Warum? Weil genau die nicht kommen werden. Warum sollten sie auch?

  7. 39.

    Das darf doch nich wahr sein? Bis hierhin hat es niemanden gekümmert wo die abgeblieben sind und jetzt erst kommt dieser Bericht? Wieso dauerte es so lange zum registrieren? Dachte man kommt an und dann werden gleich die Personalien festgehalten??? Was wurde aus diesen Personalien? Akten VERNICHTET?
    Absicht? Meine Güte, was für eine Gleichgültigkeit. Den vermissten könnte ja auch was zugestoßsen sein. Und sagt bloß nicht, daß wäre Schicksal. Das ist Eure Unfähigkeit.

  8. 38.

    "...Denn wir brauchen sie...."
    Ich glaube, Sie verwechseln etwas. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen Migration aus humanitären Gründen, z.B. aus einem Kriegsgebiet. Und Migration in den deutschen Arbeitsmarkt, um z.B. ein freien Platz einer Fachkraft zu belegen. Letzteres benötigen wir. Im ersten Fall bestätigen aktuelle Statistiken, dass (abgesehen von den Ukrainern) die Mehrzahl der Menschen, die aus humanitären Gründen nach Deutschland kommen, einen Bildungsabschluss vergleichbar mit der 8. Klasse oder geringer haben! Um Ihren Kontext zu benutzen, diese Leute brauchen wir, aus den von Ihnen vermutlich gemeinten Gründen, eben nicht. Sie helfen uns nicht, bei unseren Problemen am Arbeitsmarkt. Wir müssen investieren in ihre Bildung und Integration. Und für beides haben wir kein Geld und auch keine Lehrkräfte. Wir nehmen sie jedoch trotzdem auf, weil wir ein humanitär agierendes Land sind. Aber bitte nicht argumentieren: wir benötigen sie. Das ist inkorrekt.

  9. 37.

    Der rbb-Beitrag bezieht sich einzig auf unbegleitete Kinder und Jugendliche.

    Aus persönlicher Erfahrung heraus folgendes. Drei (männliche)Jugendliche aus Afghanistan nach der Flucht 2015/2016 in den Schulbetrieb integriert. Parallel verlaufende Sprachkurse dazu. Resultat: Alle drei bestanden das Abitur mit überdurchschnittlich guten Noten. Zwei studieren Medizin, einer im Bereich Landwirtschaft. Mit sehr fein abgestimmter Netzwerkarbeit kam es überhaupt dazu.
    Zugang zu Bildung, im Artikel erwähnt, ist und bleibt Grundvoraussetzung zur Integration und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

  10. 35.

    Die Idee, dass der Pass die Reise- und Aufenthaltsfreiheit bestimmen würde, ist ein Irrglaube. Ein deutscher Bürgeldbezieher kann nicht in die USA einreisen oder nach Frankreich umziehen. Der wird nicht besser behandelt als Leute aus Afrika mit dem Unterschied, dass die immerhin Asyl in Deutschland beantragen können, was viele Bulgaren wohl auch gerne könnten. Da kann die Zugehörigkeit zu einem EU-Staat für arme Leute durchaus von Nachteil sein.

    Es ist nur Geld das Freizügigkeit gewährt. Und nur deshalb will man die Habenichtse weltweit nicht reinlassen.

  11. 33.

    Die hohe Dunkelziffer für den Verbleib dieses Personenkreises hat auch damit zu tun, dass nicht wenige auf die staatliche Obhut verzichten und nicht mitteilen, wohin sie weiterziehen. Die Jugendämter in Berlin beschäftigen sich inzwischen überwiegend mit solchen Fällen. Den Vermisstenanzeigen kann die Polizei schon aus Kapazitätsgründen nicht nachkommen, aber versucht es auch kaum, weil eine tatsächliche Identität der Personen nur selten bekannt ist.

  12. 32.

    Nun, wenn gleiches Gesetz für alle gilt, darf auch jeder unbegleitete Jugendliche ohne Papiere die nicht mehr vorhandenen Grenzen in Europa passieren, zum Beispiel nach Belgien, die freuen sich über jeden Jugendlichen *ironieoff*. Nach England kämen sie nicht ohne Freischwimmer, aber nach Italien? Österreich? Wer gut zu Fuß ist, kommt überall hin in Europa. Die Jugendlichen sind ja hier nicht im Knast!

  13. 31.

    Das sind doch nur Phrasen. Haben Sie mal nach Frankreich, Belgien, Niederlande oder jetzt aktuell Großbritannien gesehen?

  14. 30.

    @Bine: Aber genau das ist doch das Problem. Sie schreiben, dass es diesen Menschen nicht gelingt sich zu integrieren. Ich behaupte mal, sie würden es, wenn das dt System sie ließe. Denn wir brauchen sie.

  15. 29.

    Meiner Kenntnis nach, haben die USA eines der schärfsten Migrationsgesetze der Welt. Aber Sie haben Recht, es funktioniert an der Südgrenze der USA nur bedingt. Ist aber auch völlig egal, Sie können mein Posting um sämtliche Vergleiche kürzen. Es bleibt exakt 1 Sachverhalt bestehen. Und der ist in Gesetz gemeißelt:

    Die Einreise in die EU ist nur mit gültigen Personalpapieren gesetzeskonform. Migration stellt eine Einreise in die EU dar. (meine Anmerkung: das strikte Einhalten von Gesetzen stellt keine Relativierung irgendeiner Kriegsregion dar) Primär hat ein Staat oder Staatenverbund die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten! Sekundär hat er humanitär zu handeln. Es gibt Einwanderungsgesetze. Diese sind für sämtliche Eventualitäten und für Jeden, der das Gebiet der EU betritt, verbindlich. Eigentlich ganz einfach. Ohne Papiere, kein Identitätsnachweis. Empathie ist lobenswert, wenn auch oft durch Ideologie getrieben. Sie hat aber nichts mit Gesetzen zu tun.

  16. 28.

    Der Vergleich passt leider gar nicht und die USA hat auf keinen Fall ein funktionierendes Migrationssystem.
    Die Situation ist dramatisch und tragisch. Jeder Versuch das zu relativieren oder abzusprechen, wirkt sehr unempathisch auf mich.

  17. 27.

    Hallo Leni, welche Integration meinen Sie? Ich persönlich kenne keine! Die Menschen, die 2015/2016 zu uns kamen, leben noch in den gleichen Verhältnissen wie damals. Wenn überhaupt, ist es vielleicht einzelnen gelungen, sich zu integrieren. Aber nicht die Masse, dass wird sich auch in Zukunft nicht ändern! Aber noch immer kommen Tausende...

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