Organisierte Kriminalität - Wie das System der "Strohleute" aus Osteuropa den Staat um Milliarden bringt

Di 30.07.24 | 06:14 Uhr | Von Adrian Bartocha und Jan Wiese, rbb24 Recherche
Dieser Mann ist Geschäftsführer zahlreicher Unterrnehmen in Deutschland (Quelle: ARD)
Video: rbb24 Abendschau | 30.07.2024 | Adrian Bartocha und Jan Wiese | Bild: ARD

Obdachlos, alkoholkrank - und gleichzeitig Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens: Mit "Strohleuten" verursachen Kriminelle Schäden in Milliardenhöhe. Ermittlern zufolge boomt das Modell. Von Adrian Bartocha und Jan Wiese

  • Ermittler sprechen von einem Markt für "Strohleute"
  • Ohne Notare würde das System nicht funktionieren
  • Grenzüberschreitende Ermittlungen sind aufwändig und schwierig

Glaubt man dem Handelsregister ist Tomek Z. ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er leitet demnach ein Speditionsunternehmen, das mitten in Berlin, am Potsdamer Platz, offiziell seinen Geschäftssitz hat. Und Tomek Z. leitet noch in zwölf weiteren deutschen Unternehmen die Geschäfte. Trotz der erfolgreichen Karriere lebt er aber weiterhin in Legnica, einer Stadt im polnischen Niederschlesien, vier Autostunden von Berlin entfernt. Doch dort wohnt Z., der angeblich so erfolgreiche Manager, in einem verwahrlosten Mietshaus.

Ein Team von rbb24 Recherche hat Z. an seinem Wohnort getroffen. Der Flur ist dunkel, riecht nach Schimmel, die Gänge des Haues sind verstellt mit Sperrmüll. Tomek Z. öffnet die Tür - freier Oberkörper, Badelatschen. Er versucht, sich zu erinnern. Ja, er sei mal vor einem Einkaufsladen angesprochen worden, als er kein Geld zum Saufen gehabt habe. "Aber trinken muss man ja, Hauptsache jemand gibt was aus", sagt er im Interview mit dem rbb. Er sei "dann in das Auto eingestiegen und nach Deutschland gefahren".

In seiner Heimatstadt sind noch elf weitere Geschäftsführer deutscher GmbHs gemeldet. Alle zusammen führen von dort aus offiziell rund 80 Unternehmen in ganz Deutschland, viele davon in Berlin: darunter Firmen, die sich mit Auto-, Strom- und Immobilienhandel beschäftigen, aber auch Bau-, Speditions- und Sicherheitsunternehmen sowie Export-Import-Firmen.

rbb24 Recherche hat sich in Legnica auf die Spur der polnischen Geschäftsführer begeben. Einige sind längst tot, andere vermisst gemeldet. Wieder andere sind alkoholkrank und obdachlos. Mit den tatsächlichen Geschäften der Unternehmen, für die sie verantwortlich sind, hatten sie nie etwas zu tun. Es sind sogenannte Strohleute, die - oft ahnungslos - nach Deutschland vermittelt wurden.

Tausende Strohleute in Deutschland

Die polnische Stadt Legnica ist nicht der einzige Ort, in dem Strohleute für Deutschland rekrutiert werden. "Diese Menschen werden busweise nach Westeuropa gebracht“, erzählt Ralf Simon, ein Ermittler aus der Abteilung für Organisierte Kriminalität im Zollkriminalamt (ZKA) in Köln. In fast jedem großen Ermittlungsverfahren würden Strohleute aus Polen, Rumänien oder Bulgarien auftauchen.

"Wir reden von mehreren Tausend Strohmännern und Strohfirmen, die eingesetzt werden", so Ralf Simon gegenüber rbb24 Recherche. Deren Einsatz diene "immer dazu, Sachen zu verschleiern, Geldflüsse zu verschleiern, Gewinne zu verschleiern und die Ermittlungen zu erschweren".

Wenn die Personen aus dem EU-Ausland kommen, funktioniert diese Verschleierung besonders gut, denn deutsche Ermittler können nicht einfach nach Polen oder Bulgarien fahren, um mit einem mutmaßlichen Strohmann zu sprechen. Sie müssen komplizierte Regeln einhalten, Amtshilfeverfahren einleiten, Dolmetscher beauftragen. Ein langwieriger Prozess, der den kriminellen Hintermännern Zeit verschafft.

Auch deshalb habe sich, so die Einschätzung des Zollfahnders Simon, in Deutschland inzwischen ein regelrechter "Markt" etabliert, auf dem "professionelle Dienstleister" Strohleute anbieten. Alle in Deutschland relevanten kriminellen Organisationen - ob "Mafia, Clans, Motorradgangs" - würden nach Erkenntnissen der Ermittler darauf zurückgreifen.

Professionelle Vermittler und Notare

Damit die Strohleute aus dem polnischen Legnica offiziell Geschäftsführer deutscher Unternehmen werden konnten, mussten sie zuerst vor einem deutschen Notar erscheinen: denn ohne Beurkundung beim Notar kein Geschäftsführerwechsel. Die Notare müssen die Ausweise der neuen Geschäftsführer kontrollieren, ihre Unterschriften überprüfen, und sie sollen einschätzen, ob die Menschen, die vor ihnen sitzen, überhaupt geschäftsfähig sind.

Ein Reporterteam des rbb hat über Monate hunderte Notar-Verträge in deutschen Handelsregistern eingesehen. Bei rund 70 Verträgen - alle im Namen der Strohleute aus Legnica geschlossen - war immer derselbe Dolmetscher zugegen. Auch er stammt aus Legnica. Nach rbb-Recherchen handelt es sich bei dem angeblichen Dolmetscher um einen in Polen vorbestraften Kriminellen. Er selbst soll eine halben Million Steuerschulden in Deutschland angehäuft haben.

Wie die Auswertung der Notarverträge ergibt, ist auch Tomek Z. aus Legnica diesem "Dolmetscher" mehrfach begegnet: bei einem Notar in der Nähe von Hamburg.

Tomek Z. selbst erinnert sich nicht mehr daran und zeigt sich im Gespräch mit dem rbb überrascht, dass der Notar die Verträge beurkundet haben soll, in denen er zum Geschäftsführer gemacht wurde. "So ein Notar ist doch eine Amtsperson, oder?", fragt Tomek Z. das rbb-Reporterteam. "Wissen Sie - ich war ja die ganze Zeit besoffen und dieser Notar, der hat dem zugestimmt?!" Der Notar, der die Verträge beurkundet hatte, war für ein Interview nicht bereit und hat den Fragenkatalog des rbb unbeantwortet gelassen.

Das System

"Die Notare - auffällig ist: Es sind immer dieselben - die sind ein Teil des Systems. Ohne sie funktioniert das ganze System nicht", sagt ein Steuerfahnder aus Baden-Württemberg, der nicht namentlich genannt werden darf. Der Fahnder ermittelt in großen Steuerbetrugsfällen, zunehmend auch gegen die Organisierte Kriminalität. Mit Strohleuten aus Osteuropa hat er fast täglich zu tun. Das "System", von dem der Fahnder spricht, sind komplexe und nur schwer durchschaubare Firmengeflechte. Offiziell werden diese Geflechte von Geschäftsführern aus Osteuropa geleitet. Ihr einziger Zweck sei, so der Fahnder, "Menschen auszubeuten und dem Fiskus zu schaden".

Den kriminellen Hinterleuten, deren Identität dank der Strohleute verschleiert wird, ermöglichten diese Firmengeflechte schwere Straftaten wie Geldwäsche, Schmuggel, Sozialversicherungs- und millionenschweren Steuerbetrug, so der Fahnder. Wenn der Betrug auffliegt, dann wird als erstes gegen die verantwortlichen Geschäftsführer, also die Strohleute ermittelt. Gegen die involvierten Notare dagegen, so der Steuerfahnder, könne man in Deutschland kaum vorgehen: "Mir ist es auch ein Dorn im Auge, aber die müssen uns nichts sagen, so ähnlich wie beim Arzt. Uns sind da gesetzlich die Hände gebunden."

Wirtschaftskriminalität in großem Stil

Für Annegret Ritter-Victor von der Europäischen Staatsanwaltschaft ist es offensichtlich, dass "organisierte Täterstrukturen immer mehr den Bereich der Wirtschaftskriminalität für sich entdecken". Erst vor Kurzem ist es der erfahrenen Staatsanwältin in einem aufwendigen Verfahren in Berlin gelungen, die Organisatoren eines Steuerbetrugs mit Luxusautos und Corona-Masken hinter Gitter zu bringen. Der Schaden: 50 Millionen Euro. Auch hier spielten ein deutscher Notar, ein komplexes Firmengeflecht und ahnungslose Strohleute aus Polen eine zentrale Rolle.

Den Gesamtschaden solcher Steuerdelikte in der EU beziffert ihr Kollege, der Staatsanwalt Tobias Lübbert, sogar auf 50 bis 60 Milliarden Euro jährlich. Es sind solche Zahlen, die 2021 zahlreiche EU-Staaten zur Gründung der Europäischen Staatsanwaltschaft motiviert haben, denn sie macht grenzüberschreitende Ermittlungen deutlich einfacher, zumindest wenn es um internationalen Steuerbetrug geht.

Annegret Ritter-Victor und Tobias Lübbert gehören zu einem Team von Staatsanwälten, das Deutschland in diese neue Institution entsendet hat. Ohne die bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit seien solche großen Betrugssysteme kaum zu ermitteln, sagen die beiden. Sie begrüßen es, dass kürzlich auch Polen der Europäischen Staatsanwaltschaft beigetreten ist. Denn ohne die Strohleute aus Polen, die oft ahnungslos ihre Namen hergeben müssen, wäre der Steuerbetrug in Deutschland nicht möglich.

 

Zum System der "Strohmann"-Rekrutierung zeigt die ARD am 30.7.2024 um 22:50 Uhr die Dokumentation "Das Strohmann-Kartell. Dienstleister für die Mafia". Diese ist auch in der Mediathek abrufbar.

Sendung: rbb24 Inforadio, 30.07.2024, 6 Uhr

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