Kritik des Bundesrechnungshofs - Schiffshebewerk Niederfinow kostete womöglich 100 Millionen Euro zu viel
Der Bundesrechnungshof hat die Kosten für den Neubau des Schiffshebewerks Niederfinow geprüft. Ergebnis: Die Ministerien für Verkehr und Finanzen haben Nachzahlungen genehmigt, die weder sachlich noch rechtlich begründet waren. Von Torsten Mandalka und René Althammer
- Das Bundesverkehrsministerium hat mit dem für den Neubau verantwortlichen Baukonsortium einen Vergleich über die Nachzahlung von höheren Baukosten abgeschlossen.
- Der Bundesrechnungshof bemängelt, dass mit falschen Zahlen gerechnet gerechnet wurde.
- Die Gesamtkosten beliefen sich auf 391,6 Millionen Euro; ursprünglich sollte der Neubau 208,6 Millionen Euro kosten.
Das Schiffshebewerk Niederfinow (Barnim) ist ein historischer Ort in Brandenburg. An schönen Tagen bewundern Touristen das Bauwerk, zahlreiche Motorräder knattern an dem Koloss aus Stahlstreben vorbei, der fast ein ganzes Jahrhundert lang die Schiffe über den Höhenunterschied von 36 Metern gehievt hat.
Neben dem Industriedenkmal steht seit 2020 ein neuer Koloss, diesmal aus Stahlbeton: das Schiffshebewerk Niederfinow Nord. In Betrieb genommen wurde es Anfang Oktober 2022. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) persönlich schnitt seinerzeit das Band durch. Seitdem gab es allerdings schon zwei Pannen am neuen Technik-Wunderwerk, es stand mehrere Wochen lang still. Der größte Unfall aber ist wohl die Kostenexplosion für das Bauwerk, wie der Bundesrechnungshof (BRH) jetzt feststellte. Und die könnte auf zwei FDP-Minister im Ampel-Kabinett zurückfallen - auf Verkehrsminister Volker Wissing und Finanzminister Christian Lindner.
Böse Zungen reden vom BER der Wasserstraßen
Nach Informationen, die der Redaktion rbb24-Recherche exklusiv vorliegen, hat das Bundesverkehrsministerium im März 2022 mit dem für den Neubau verantwortlichen Baukonsortium (ARGE) einen Vergleich über die Nachzahlung von höheren Baukosten im Umfang von 65 Millionen Euro abgeschlossen. Die Endabrechnungssumme betrug damit 391,6 Millionen Euro. Nach Auffassung des BRH habe das Bundesverkehrsministerium dabei jedoch "durchgängig mit falschen Zahlen gerechnet".
Der Bundesrechnungshof kommt deshalb zu der Überzeugung, dass die Vergleichssumme bei einer korrekten Berechnung bei 107,4 Millionen Euro liegen würde. Doch diese Nachzahlung Forderungen entbehrt nach der Bewertung des Rechnungshofs jeder Grundlage: Wissings Ministerium habe beim Abschluss des Vergleichs womöglich Recht und Gesetz außen vorgelassen.
Jedenfalls habe das Ministerium nicht belegt, dass der Abschluss des Vergleichs wirtschaftlich und zweckmäßig war. Ursprünglich sollte der Neubau 208,6 Millionen Euro kosten. Durch den Vergleich kostet der Bau den Bund jetzt rund 90 Prozent mehr. Das Ministerium hätte deshalb nach Einschätzung des BRH Leistungen zwischenzeitlich womöglich neu ausschreiben müssen. Das alles geht aus dem vorläufigen Prüfungsergebnis des Bundesrechnungshofes hervor, das erst "offiziell" wird, wenn eine weitere Stellungnahme des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) eingearbeitet ist.
Ministerium wollte Baustillstand vermeiden
rbb24-Recherche gegenüber äußert sich das Bundesministerium "aus verfahrensrechtlichen Gründen" nur ganz allgemein zu den detaillierten Fragen. Man habe dem Rechnungshof gegenüber dezidiert Stellung genommen: "Insbesondere hat das BMDV dem Bundesrechnungshof die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Vergleichsabschlusses dargelegt." Der Bau des neuen Schiffshebewerks Niederfinow sei von Beginn an von Streitigkeiten zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer geprägt gewesen.
"Kurz vor der Fertigstellung", so ein Sprecher des Ministeriums weiter, "drohten die Streitigkeiten zu einem Baustillstand (…) zu führen. Ein vollständiges Scheitern des Bauprojektes war ein konkretes Szenario. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten mit ungewissem Ausgang wären die Folge gewesen." Am Ende seien die Streitigkeiten dann mit dem Vergleich beigelegt worden.
Bauzeit mehr als verdoppelt
Zum Hintergrund: Im Mai 2008 hat das Wasserstraßen-Neubauamt Berlin (eine dem Bundesverkehrsministerium nachgeordnete Behörde) die Errichtung des neuen Schiffshebewerks in Auftrag gegeben. Das alte Hebewerk war inzwischen zu klein, konnte moderne, größer gewordene Binnenschiffe nicht mehr transportieren. Außerdem war das alte Hebewerk dann doch in die Jahre gekommen, fiel häufiger wegen notwendiger Instandsetzungsarbeiten aus. In Niederfinow hatte sich ein Engpass auf einer wichtigen transeuropäischen Ost-West-Wasserstraße gebildet. Das neue Hebewerk Niederfinow-Nord sollte bis 2013 fertig gestellt werden.
Schnell stellte sich heraus, dass dieser Termin nicht zu halten war. Am Ende wurden aus fünf Jahren zwölf Jahre Bauzeit – und die Kosten verdoppelten sich beinahe. Die Ursachen sind nach Informationen des rbb in Insolvenzen von Sub-Unternehmen, gestiegenen Materialkosten und im Fachkräftemangel zu suchen. Auch der Brandschutz hat – wie beim BER – mal wieder eine Rolle gespielt.
Vom alten zum neuen Schiffshebewerk Niederfinow
Explodierende Kosten
Über die Jahre gingen mehr und mehr Rechnungen bei der federführenden Behörde, der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt (GDWS) ein, die dem Verkehrsministerium untersteht. Dort soll nach Erkenntnissen des Rechnungshofs genau ein Mitarbeiter für die Plausibilitätsprüfung der Rechnungen zuständig gewesen sein: "Ein Vier-Augen-Prinzip oder ein sonstiges Qualitätsmanagement gab es nicht."
Im Ergebnis kommen die Prüfer zu dem Schluss, dass nur einem Teil dieser Rechnungen berechtigte Ansprüche zugrunde lagen. Ein Gutachter sei noch vor Abschluss der Vergleichsverhandlungen zu dem Ergebnis gekommen, dass allein die Baufirmen für die höheren Kosten durch die Verzögerungen beim Bau verantwortlich seien. Sie hätten deswegen keinen nennenswerten Anspruch auf Nachzahlungen. Daraufhin sollen die Baufirmen mit einem lange dauernden Gerichtsverfahren gedroht haben. Es folgten Verhandlungen bis auf Staatssekretärsebene - bis es im März 2022 zu dem teuren Vergleich kam, dem auch das Bundesfinanzministerium zuvor zugestimmt hatte.
Auf rbb24-Recherche Anfrage hieß es dazu aus dem Finanzministerium, vom Bundesverkehrsministerium sei "die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Vergleichs plausibel dargelegt" worden. Das Ganze sei wie üblich auf Referatsebene entschieden, Minister Lindner sei weder eingebunden noch informiert worden.
Ein Vergleich ohne Grundlage
Das alles hätte so nicht passieren dürfen, bemängelt der Bundesrechnungshof in seinem Bericht, der die Stellungnahmen der Ministerien noch nicht berücksichtigt. Die Rechnungssumme, die dem Vergleich zugrunde lagen, seien "willkürlich" festgelegt worden, sie beruhten auf "unbelegten Annahmen", die die Fachebene "in allen wesentlichen Belangen bezweifelt" habe.
Das Ergebnis sei "beliebig und mithin völlig ungeeignet, als Basis für einen Vergleich zu dienen". Für die Vergleichsverhandlungen hätten außerdem die rechtlichen Grundlagen gefehlt. Denn das Risiko, einen Prozess über die Nachforderungen zu verlieren, sei sogar nach Auffassung der juristischen Berater der Ministerien verhältnismäßig gering gewesen. Das Prozessrisiko aber habe das Verkehrsministerium gar nicht geprüft.
Ein Thema für die Staatsanwaltschaft
Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Stefan Gelbhaar, der sich schon 2021 in einer parlamentarischen Anfrage für die Kostenexplosion beim Schiffshebewerk interessierte, stellt heute zu den Vorgängen fest: "Das geht gar nicht!"
Es gebe einen großen Aufklärungsbedarf. Und: "Das Thema wird natürlich auch die Staatsanwaltschaft interessieren, wenn es einen so großen Schaden gibt und die Gründe dafür unklar sind."
Sendung: rbb24 Inforadio, 01.03.2023, 08:40 Uhr