100-Stunden-Lesung im Hamburger Bahnhof - "Die Wahrheit muss gesagt werden. Egal was passiert, nachdem man sie gesagt hat"
Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera liest gemeinsam mit Anderen 100 Stunden am Stück aus Hannah Arendts Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Mit dem Publikum will sie über Macht, Gewalt, Politik und Wahrheit diskutieren. Von Marie Kaiser
Ein alter brauner Holzschaukelstuhl steht im Scheinwerferlicht. Ein wenig verloren sieht er aus in der riesigen Historischen Halle des Hamburger Bahnhofs. Am Mittwochabend um 19 Uhr wird Tania Bruguera auf diesem Schaukelstuhl Platz nehmen und anfangen, die erste Seite von Hannah Arendts Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" zu lesen.
Es ist der Beginn der europäischen Erstaufführung ihrer Performance "Where your Ideas become Civic Actions" ("Wo deine Ideen zu zivilgesellschaftlichen Aktionen werden"). 100 Stunden lang wird die Künstlerin mit Unterstützung von Menschen aus der Nachbarschaft des Museums, aus der Wissenschaft, aber auch Menschen, die Erfahrungen in totalitären Staaten gesammelt haben, den ungefähr 1.000 Seiten langen Text vollständig lesen. Jeder, der mitmachen wollte, konnte sich vorab bewerben. Das taten so viele, dass es mittlerweile eine Warteliste gibt.
Eine Performance im eigenen Wohnzimmer
Zum ersten Mal hat Tania Bruguera die Perfomance im Jahr 2015 in Kuba aufgeführt. Dort wurde sie als regimekritische Künstlerin unter Hausarrest gestellt und hat dann kurzerhand aus ihrem Haus in Havanna heraus Kunst gemacht. 24 Stunden am Tag ließ sie ihre Haustür geöffnet. Jeder, der wollte, konnte hereinkommen und zuhören, wie sie aus "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" las. Die Lesung übertrug sie mit Lautsprechern auch auf die Straße vor ihrem Haus.
"Sie kontrollieren jeden Aspekt deines Lebens"
Anders als in Deutschland kann das Hauptwerk von Hannah Arendt in Kuba nicht einfach im Buchladen gekauft werden, erklärt Tania Bruguera im Gespräch mit rbb|24. Sie selbst sei zufällig in einer Bibliothek in Madrid auf Texte der Historikerin und politischen Philosophin gestoßen und war gleich begeistert, wie zugänglich ihre Bücher sind.
Der Text "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" spiele für sie eine besonders wichtige Rolle, sagt Bruguera. Hannah Arendt hat ihn unter dem Eindruck des Holocaust geschrieben und zuerst 1951 in New York auf Englisch veröffentlicht. Aus historischer Perspektive untersucht sie darin, wie Nationalsozialismus und Stalinismus entstehen konnten und ordnet sie als verwandte Herrschaftstypen ein.
"Der Text war unter den Aktivisten in Kuba eine Art Mythos, denn er hat vielen geholfen, zu verstehen, dass wir in Kuba in einem totalitären Regime leben. Und der Grund dafür ist, dass der Staat in jeden Aspekt deines Lebens eindringt. Es geht nicht nur um Unterdrückung und Zensur, sondern darum, dass sie in jeden Aspekt deines Lebens eindringen und jeden Aspekt deines Lebens kontrollieren", erklärt Bruguera.
Mit Presslufthämmern gegen die Kunst
"Wenn es um Hannah Arendt geht, ist der wichtigste Aspekt, dass die Wahrheit gesagt werden muss, egal was passiert, nachdem man sie gesagt hat", betont die Künstlerin. Als die kubanische Regierung auf Tania Brugueras Lese-Performance aufmerksam wurde, begannen Störaktionen.
Direkt vor ihrem Haus wurde plötzlich eine Baustelle eingerichtet und mit Presslufthämmern gegen die Kunst vorgegangen. Trotz des Lärms und der Gefahr, beobachtet zu werden, kamen viele Menschen vorbei, um zuzuhören oder mitzulesen.
"Die Demokratie in Deutschland ist fragil"
Wenn ihre Performance jetzt im Hamburger Bahnhof aufgeführt wird, ist mit solchen Störaktionen eher nicht zu rechnen. Tania Bruguera betont, dass die politische Lage in Kuba und Berlin nicht vergleichbar sei. Aber die Künstlerin nimmt die Demokratie in Deutschland im Moment als fragil wahr. Umso begeisterter war sie von der großen Demonstration gegen Rechts mit mehr als 150.000 Menschen in Berlin am vorigen Samstag. "Ich war dort und es war ziemlich beeindruckend. Ich finde es sehr hoffnungsvoll, Menschen zu sehen, Alte und Junge, die gemeinsam demonstrieren. Das ist eine große Hoffnung."
Für Tania Bruguera ist ihre Performance vor allem als Gemeinschaftserlebnis wichtig. Ein gemeinsames Nachdenken, eine Momentaufnahme des aktuellen politischen Gefühls hier in Berlin zwischen Demonstrationen für die Demokratie und den Plänen rechter Politiker die von "Remigration" träumen. Die Künstlerin erinnert daran, dass in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" für uns erschreckend aktuelle Themen wie Antisemitismus oder Rassismus angesprochen werden. Gerade der Zusammenhalt und die Gemeinschaft seien für Hannah Arendt eine Art Brandmauer, die eine Demokratie schützen können.
Auf die Frage, wieviele der 100 Stunden, die die Performance dauern wird, die Künstlerin im Hamburger Bahnhof verbringen werde, antwortet sie: "Ich werde hier so viel anwesend sein wie möglich. Das sehe ich als meine Verantwortung, um die Menschen zu begleiten, die kommen."
Sendung: Radioeins, 07.02.2024, 08:40 Uhr