Proteste in Frankreich - Paris brennt - und Berlin sorgt sich um den Weg zur Arbeit

Sa 25.03.23 | 17:38 Uhr | Von Nils Hagemann
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Ein Feuer brennt bei Protesten auf dem Gehweg in Paris. (Quelle: rbb)
Bild: rbb

Über eine Million Menschen demonstrieren in Frankreich gegen die geplante Rentenreform. Was die französische Protestbewegung von Demos in Deutschland unterscheidet: ein Erfahrungsbericht. Von Nils Hagemann

Im 10. Bezirk in Paris, am Porte Saint-Denis, brennen Müllberge. Es knistert, dann wummert es. Irgendetwas in dem Haufen muss explodiert sein. Dunkler Rauch wabert an den Fassaden entlang. Wegen des Protests gegen die Rentenreform streikt auch die Pariser Müllabfuhr. Seit Wochen wachsen die Müllberge auf den Straßen. Jetzt brennen sie. An den lodernden Flammen vorbei ziehen Demonstrierende. Sie brüllen: "Révolution! Révolution! Révolution!"

Über eine Million Menschen

Ganz vorne hat der Protest etwas von 1. Mai am Kotti. Sie tragen schwarze Kleidung, manche von ihnen haben ein rotes A auf dem Rücken der Lederjacke. Wieder andere tragen Gasmaske, so als wollen sie gut vorbereitet sein auf das, was noch kommt. Weiter hinten fühlt es sich dann eher nach Großdemo zwischen Goldelse und Brandenburger Tor an. Da vorne läuft eine junge Familie mit Kindern, eine ältere Frau hat einen blauen Luftballon in der Hand, neben ihr läuft ein Mann im Anzug, sein Plakat zeigt Emmanuel Macron mit Hitlerbart.

Auch wenn es sich so anfühlen mag, eigentlich ist dieser Protest in Paris nicht vergleichbar mit dem in Berlin. Die reine Organisation, Wucht und Breite in Paris ist unfassbar. Landesweit zählt das französische Innenministerium am Abend über eine Million Demonstrierende. Der französische Gewerkschaftsbund "Confédération générale du travail" spricht alleine in Paris von rund 800.000.

Auch in Deutschland wird in diesen Tagen demonstriert. Tarifkonflikt. 5.000 Teilnehmende hat die Gewerkschaft Verdi für ihre Großdemonstration vor dem Brandenburger Tor angemeldet.

Polizeieinsatz bei einer Demo in Paris. (Quelle: rbb)

Das Rathaus in Bordeaux brennt und Tankstellen geht das Benzin aus

Zurück in Paris, 9. Bezirk. Weiter hinten im Protestzug. Hier werfen sie keine Steine mehr und kokeln auch nicht an Müllbergen herum. Sie tragen rote, gelbe oder blaue Westen und bunte Schilder. "C'est pour vos enfants", steht auf einem. Also: "Es geht um Eure Kinder".

Zehn Fahrradminuten von hier, am Place de la Concorde, köpft die Guillotine der Revoluzzer vor 200 Jahren Marie Antoinette. Heute schiebt ein Franzose mitten im Protestzug einen kleinen Hotdogwagen vor sich her. Noch weiter hinten gibt es Crêpes. Sie sind gut vorbereitet, die Franzosen. Auf den kleinen Pariser Balkons stehen Anwohner und gucken oder klatschen.

Ganz Frankreich ist an diesem Tag im Ausnahmezustand. Später in dieser Nacht wird das Rathaus in Bordeaux brennen. Und nicht nur die Müllabfuhr streikt. Auch die Lehrer. Unterricht findet nicht statt, Chaos am Flughafen Charles des Gaulle, Tankstellen fehlt das Benzin. TGVs fallen aus. Die Metro kommt nur selten.

Tränengas, Flaschen und Schlagstöcke

Deutschland. Wegen des Großstreiks im Verkehr fährt am Montag die Bahn nicht. In Berlin steht die S-Bahn still. Ein Nutzer kommentiert unter den Artikel bei rbb|24: "Quatsch! Völlig überzogene Forderungen". Ein anderer: "Es wird Zeit, dass auch hier wie in Großbritannien die Gewerkschaften eingeschränkt werden". Und wieder ein anderer "Null Verständnis. Der X. Streik in den letzten Jahren und viele werden nicht zur Arbeit kommen und Abmahnungen bekommen".

Während man sich in Berlin beschwert, dass man nicht zur Arbeit kommt, riecht es in Paris nach verbranntem Plastik. Tränengas liegt in der Luft. Ein vermummter Mann sprayt mit knallroter Farbe an eine Ladenfassade: "Der Hass der Bourgeoisie. Die Liebe der Revolte". Steine fliegen auf eine Filiale der Bank BNP Paribas.

Krawalle auf den Straßen von Paris. (Quelle: rbb)

Die Demonstrierenden werfen mit Böllern

Die Polizei geht dazwischen. Flaschen sausen durch die Luft. Polizisten prügeln mit Schlagstöcken auf Demonstrierende ein. Steine treffen Polizeihelme. Eine junge Frau steht am Straßenrand neben einem der Müllberge. Blut läuft ihr über die Stirn. Sanitäter verarzten einen Polizisten.

Laut französischem Innenministerium werden an diesem Tag 440 Polizisten verletzt. 457 Demonstrierende festgenommen.

Der Protestzug endet am Place de l’Opéra. Die Polizei verbarrikadiert die Ausgänge des Platzes, die zum Élysée-Palast führen. Es ist dunkel geworden. Die mit den bunten Plakaten und bunten Westen sind schon längst zu Hause. Ein paar Male kommt es in dieser Nacht noch zu Gewalt zwischen Demonstrierenden und Polizei. Die Demonstrierenden werfen mit Böllern, die Polizei mit Tränengaskartuschen. Während Paris brennt, fährt die S-Bahn in Berlin ab Dienstag wieder nach Regelfahrplan.

Beitrag von Nils Hagemann

75 Kommentare

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  1. 75.

    Mehr Proteste jeglicher Art, bitte. Es muss einmal Druck gemacht werden, damit die Idioten am Drücker auch verstehen, dass wir anders können.

  2. 74.

    Exakt. Der RBB ist nicht nur ein Regionalsender. Die Mitgliedssender der ARD teilen sich die Auslandsberichte untereinander auf.

  3. 73.

    Frankreich ist ein zentralistisch regiertes Land. Die Regionen dort haben bei weitem nicht die (Macht-)Befugnisse wie die Länder und Stadtstaaten hierzulande. Also klar ist man dort vor allem in Paris schneller und auch aggressiver als bei uns auf der Straße, um die Regierung unter Druck zu setzen. Wobei das nur ein, wenn auch ein nicht unwichtiger Grund für die 'Demolust' der Franzosen ist.

  4. 72.

    Zitat: "So sehen Lupenreine Demokratien aus. Demos sind erlaubt wenn es gegen Putin geht. Ansonsten bitte Vertrauen in unsere Volksvertreter."

    Meinen Sie nun unsere oder die französischen Volksvertreter? Aber egal, denn sowohl hier als auch dort sind Demos erlaubt, nicht nur solche gegen den Putinschen Krieg in der Ukraine. Oder haben Sie dbzgl. andere Erkenntnisse, Jockel?

  5. 71.

    Hier in der Normandie alles ruhig. Gastgeber haben wenig Verständnis für das was in Paris abgeht. Morgen ist D-Day Museum dran, schauen wie die Nazis verjagt wurden....

  6. 70.

    Manche Kommentare hier habe ich ja wieder gefressen. "Ich bin nicht nur zu blöd für meine eigenen Interessen einzutreten, sondern ich werde auch noch alle beleidigen die das tun". Sowas nennt man ein "Kollegenschwein", und "Chefs Liebling". Solche Leute sollen ruhig bis 80 arbeiten und dem Chef und der Regierung noch bitte und danke sagen! Der deutsche Untertan, wie vor 100 Jahren!

  7. 69.

    Solange sich Bundesbürger in Schubladen stecken lassen (Links, Rechts, Grün usw) wird sich bei uns auch nichts ändern als alles zu akzeptieren was alle betrifft (egal welche politische Ausrichtung). Und das ist auch beabsichtigt - aber Dummheit wird immer bestraft - Rente mit 70 und nur noch 38%

  8. 68.

    Macht mal so weiter, dann wird Berlin auch bald brennen.

  9. 67.

    Zu ihrem Kommentar fällt mir hier ein kleiner Limerick ein der zum Thema Arbeit in unserem Land und deren Bezahlung sehr gut passt.
    Du weißt nicht mehr wie Blumen duften kennst nur die Arbeit und das schuften so gehen sie hin die schönen Jahre auf einmal liegst du auf der Bahre und hinter dir da grinst der Tod kaputt geackert, Vollidiot.

  10. 66.

    Spektakuläre Bilder, spannende Geschichten.
    Für Journalisten ist die Pariser Variante des Protest sicher interessanter als die deutsche.

  11. 65.

    @ Moritz, wieder blamiert. Wie wird eigentlich Klugscheiser geschrieben?

  12. 64.

    "m. E. kein Grund, dies in einem Regionalsender so breiten Raum zu geben."

    Ich habe da keine Probleme mit und erlaube es dem RBB gerne, sich auch um Themen jenseits des Tellerrandes zu äußern, der Ihre Weltgrenze zu sein scheint.
    Damit steht es jetzt schon mal unentschieden, daher ist Ihr Antrag, den RBB zu verzwergen, vorerst abgelehnt.

  13. 63.

    Tja - wenn man Publikationeen wie die BILD Zeitung als 'Qualitätsmedien' ansieht, dann kann man so etwas natürlich behaupten. Wahrer wird es dadurch allerdings nicht.

  14. 62.

    Die Franzosen wollen nicht so lange arbeiten. Steht aber auch im Artikel.
    Richtig erkannt,Geld kommt aus der Druckerpresse oder wird digital erzeugt.

  15. 61.

    Ich bin 69 mit kleiner Rente.
    Arbeite weiter.
    Für das Geflenne der Franzosen habe ich nichts übrig. Eine Sauce mit unserer Beamtenschaft.

  16. 60.

    Oder wenn du unbequeme Wahrheiten raushaust..."
    Vielleicht kommt man ja auch ein Stück weiter, wenn man diese unbequemen Wahrheiten nicht raushaut, sondern versucht angemessen faktenbasiert zu argumentieren.
    Das mit dem Hauen war noch nie ne besonders gute Strategie.

  17. 59.

    Oder wenn du unbequeme Wahrheiten raushaust... zu dieser Erkenntnis kommt man jedoch nur, wenn man die "Qualitätsmedien" als Verbreiter von manipulativen Halbwahrheiten entlarvt hat.

  18. 58.

    Man schaue auf Italien. Auch nicht besser.

  19. 56.

    Die Überschrift ist etwas irritierend. Sollen wir uns jetzt klein-klein und minderbemittelt fühlen, weil Berlin NICHT brennt? Oder was? Und ist das ein Kommentar oder eine Nachricht? Zum ersteren passt die Überschrift, zum zweiten der Inhalt. Ordentlichere Arbeit wäre schön, Rbb.

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