Fondue, Alphörner und Skigondeln - Wie die "Schwarze Heidi" während der EM zu einer Schweizer Fußball-Oase wird
Die "Schwarze Heidi" ist das bekannteste Schweizer Restaurant Berlins. Wo einst Urs Fischer einkehrte, wird aktuell auf Schwizerdütsch die EM gefeiert. Nach jedem Schweizer Tor gibt es einen Schnaps aufs Haus. Von Jakob Lobach
Der Empfang, den einem die "Schwarze Heidi" am Sonntagabend bereitet, ist sowohl standesgemäß als auch stilecht. Schon entlang des brüchig asphaltierten Weges, der nahe der Insel Alt-Stralau zu dem Restaurant in Berlin-Friedrichshain führt, stecken kleine Schweizer Fahnen im Boden. Steht man schließlich vor der großen hölzernen Berghütte, fällt ein weiteres, größeres weißes Kreuz auf rotem Grund ins Auge. Noch auffälliger: Ein Quartett von Alphornspielern, das sich vor der Hütte auf seinen Auftritt einstimmt - je zwei Frauen und Männer, die in klassischer Schweizer Tracht – bei den Männern selbstverständlich inklusive Filzhut – kurz darauf den Schweizer EM-Abend eröffnen.
Erst Raclettes und Fondues, dann die Nationalhymnen
Die Musikanten stehen auf der Terrasse des Außenbereichs, ein paar Meter neben dem großen Bildschirm. Auf dem wird gleich das Fußballspiel zwischen Deutschland und der Schweiz gezeigt. Zunächst aber begrüßt Jennifer Mulinde-Schmid ihre Gäste. Sie ist Inhaberin und Namensgeberin der "Schwarzen Heidi", in Kenia geboren, aber bereits als Kleinkind in die Schweiz gezogen. Dort wurde sie erst Schauspielerin und widmete sich später als Kabarettistin unter provokantem Namen jeglichen Schweizer Klischees.
Nun wohnt sie in Berlin, ist Gastronomin. In beiden ihrer zwei Restaurants sei am Sonntag Fußball gucken mit größtmöglichem Heimatgefühl für Berliner Schweizer das Ziel, sagt Mulinde-Schmid. Was da nicht fehlen darf: "Nach jedem Schweizer Tor gibt es einen Schnaps aufs Haus." Ein Satz, der die Vorfreude der rund 200 Gäste auf das dritte EM-Gruppenspiel der beiden Nationalmannschaften zusätzlich schürt.
Die "Schwarze Heidi" ist einer von vielen Berliner Orten, an denen aktuell in Gemeinschaft Fußball geguckt wird. Warum spürt man schnell. Da wäre die Alpen-typische braune Holzhütte an sich, dazu Schweizer Dekoration und die große Terrasse. Zwei Gondeln, einst am Hang von St. Moritz im Einsatz, sind am Sonntag von gut essenden und trinkenden Fußball-Fans besetzt. Insgesamt ist es eine Mischung aus Mitarbeitern der Schweizer Botschaft, deren deutschen Kollegen, Freunden und ein paar fremden Gästen. Die in Rot und Weiß gekleideten Menschen, mal mit Schweizer Flaggen auf den Wangen, sind klar in der Überzahl. Gäste in Deutschland-Trikots sind selten, aber es gibt sie.
Während an den Tischen langsam die viel bestellten Raclettes, Fondues und Würstchen ankommen, ist von vorne erstmals die unverkennbar Schwizerdütsch sprechende Stimme des Fernsehmoderators zu hören. Eine Analyse der wechselhaften Karriere des "Breelianten Sturmtanks" Breel Embolo, dann die Schweizer Nationalhymne. In Friedrichshain wird applaudiert, in Frankfurt das Spiel angepfiffen. Als zwei Minuten später Jamal Musiala Deutschlands ersten Konter antreibt, kommt erstmals ein – noch schwer differenzierbares – Raunen auf.
Schwizerdütsch und Schweizer Schnaps
Bislang bot die EM für die Schweizer Fans eher Anlass zur Freude als zum Raunen. Ein Sieg und ein Unentschieden gegen Ungarn und Schottland gab es - das Achtelfinale ist bereits sicher. Gegen Deutschland geht es um den Gruppensieg, ab der K.o.-Phase dann auch um zusätzliche Abende und Einnahmen für die "Schwarze Heidi". Während das zweite Restaurant in der Kreuzberger Mariannenstraße ganzjährig gut läuft, ist das Hüttenambiente an den Bahnschienen zwischen Treptower Park und Ostkreuz allen voran im Winter gefragt. "Für den Sommer kalkuliere ich von Mai bis August mit einem Minusgeschäft", sagt Jennifer Mulinde-Schmid. EM-Abende wie der vom Sonntag sind da wertvoll. "Deswegen soll die Schweiz Europameister werden", sagt Mulinde-Schmid, "und weil unser Fußball dann endlich in aller Munde ist."
Aus vielen Mündern ertönt am Sonntag ein Aufschrei, als Maximilian Mittelstädt nach 15 Minuten einen scharfen Pass in den Schweizer Strafraum spielt. Als Robert Andrich Sekunden später zum vermeintlichen 1:0 für Deutschland trifft, wird nur von einigen und eher kurz geklatscht. Dann hält Schiedsrichter Daniele Orsato erst inne, und ahndet dann ein Foulspiel. Der Italiener nimmt das Tor zurück, der Jubel in Berlin ist lauter und länger.
Gelacht wird schließlich, als der große Fernseher nach 27. Minuten per Countdown droht, sich selbst abzuschalten. Ein Mitglied der Schweizer Botschaft ist zur Stelle, und das gerade rechtzeitig. In der 28. Minute bedient Remo Freuler mit einem starken Pass den ohnehin dauerhaft starken Dan Ndoye. Der beweist Technik und Timing, setzt den Ball stramm unter die Latte. In Frankfurt führt die Schweiz, in Berlin wird gejubelt. Jenny Mulinde-Schmid springt mit überraschtem Gesichtsausdruck zwischen ihren Gästen auf und ab – fünf Minuten später trägt sie ein erstes großes Tablett mit Schnäpsen raus.
"Ich bin ein klassischer EM- und WM-Fan, aber als der Urs hier war, wurde ich natürlich auch Union-Fan", sagt die Gastgeberin. "Der Urs" ist Urs Fischer, bis vergangenen Winter der Erfolgstrainer des Fußball-Bundesligisten 1. FC Union Berlin. Der Schweizer sei öfter zum Essen in die "Schwarze Heidi" gekommen, erzählt Mulinde-Schmid. Dort, wo Fischer vor einem halben Jahr mit 30 Freunden auch seinen Abschied aus Berlin gab, diskutiert nun ein schweizerdeutsches Pärchen - erst über Foulpfiffe, dann über die gesellschaftliche Stimmung hierzulande. Die Mischung aus Hochdeutsch und Schwizerdütsch ist spannend und zieht sich durch den Abend.
Füllkrug sorgt für Schweizer Schweigen
Die Fernsehübertragung macht da keine Ausnahme. Weil aber das extra von der Botschaft organisierte Satellitensignal Probleme bereitet, tönt Mitte der zweiten Halbzeit doch die ARD-Stimme von Gerd Gottlob aus den Lautsprechern. Gelegentliche Bildprobleme sind am Sonntag lange das einzige, zumeist aber gut aufgenommene Ärgernis für die Gäste in der "Schwarzen Heidi". Zumindest bis in die Nachspielzeit hinein. Nachdem die Schweizer Fans zuvor mit jeder Chance und jeder Parade von Yann Sommer lauter wurden, lässt Niclas Füllkrug sie verstummen. À la Oliver Neuville erlöst er Deutschland in der 91. Minute, trifft per Kopf zum Unentschieden, das letztlich den Gruppensieg Deutschlands bringt. Die Reaktionen in der Schweizer Oase am Ostkreuz: überraschter Jubel, Schweizer Schreie und Kopfschütteln.
"Das war schon scheiße, dass Deutschland so spät noch ein Tor gemacht hat", sagt Jennifer Mulinde-Schmid eine Viertelstunde später. Mit einem Getränk vor sich und ein bisschen abgekämpft sitzt sie in einer der nun von Lichterketten beleuchteten Skigondeln. Sie erzählt, dass die Fußball-Party gleich nahtlos in ihren 42. Geburtstag übergehen werde. Ein paar Dutzend Gäste verabschieden sich allerdings schon vorher, oft bei der Gastgeberin persönlich. Man kennt sich, und viele von Ihnen dürften ohnehin wiederkommen – wenn nicht zu kommenden Schweizer Spielen bei dieser EM, dann spätestens zu denen bei der im kommenden Sommer. Dann nämlich richtet die Schweiz die Fußball-Europameisterschaft der Frauen aus.
Sendung: rbb24 Inforadio, 24.06.2024, 8:15 Uhr