Interview | Matthias Platzeck wird 70 - "Wir haben die Erotik der Demokratie verloren"
Brandenburgs früherer Ministerpräsident Matthias Platzeck warnt vor einer weiteren Entfremdung zwischen Politik und Bürgern. Menschen wollten gesehen und gehört werden, sagt Platzeck in einem Interview aus Anlass seines 70. Geburtstags.
rbb|24: Herr Platzeck, wenn Sie auf Brandenburg schauen, politisch und gesellschaftlich, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Matthias Platzeck: Eigentlich habe ich dabei gute Gefühle, weil ich sehe, dass Brandenburg die Umgestaltungsnotwendigkeiten, vor denen ja nicht nur wir stehen, gut bewältigt. Und damit meine ich nicht nur die Lausitz, sondern das gesamte Land. Auf der anderen Seite merke ich natürlich, dass bei vielen Menschen erhebliche Unsicherheiten da sind. Da sind Dinge in den Köpfen und Seelen unterwegs, die schwer übereinkommen. Für Menschen ist so ein Gefühl der Unsicherheit etwas sehr Schwieriges. Damit müssen wir uns in den nächsten Monaten sehr intensiv auseinandersetzen.
Wie bewerten Sie die da Arbeit der Brandenburger Regierungskoalition?
Wir haben Einflüsse aus der Weltpolitik, und die sind im Moment heftig. Wir haben Einfluss aus der Bundespolitik. Der war in den letzten Monaten mit schwierigen Vorgängen verbunden, die sich den Menschen nicht erschlossen haben und Unsicherheiten erzeugt haben. Wir haben hier in Brandenburg eigentlich eine sehr gute Grundlage, wenn ich mir die Wirtschaftsdaten ansehe. Das entbindet uns aber nicht der Aufgabe zu erkennen, dass Menschen im Moment ein sehr großes Bedürfnis danach haben, gehört zu werden.
Was folgt daraus?
Politik ist immer gut beraten, wenn sie viel draußen ist, wenn sie sich die richtigen Foren sucht, wo ehrlich diskutiert wird. Als Politik dabei zuzuhören, ohne den Zeigefinger oben zu haben, ist wichtig. Außerdem haben wir ein Stück weit eine Sprache verloren, die die Menschen auch erreicht.
Unsere Politik ist sehr urban geprägt. Wir haben über die letzten Jahrzehnte die Sprache dieser Urbanität der Politik angepasst. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass weit über die Hälfte der Menschen in ländlichen Räumen, in Kleinstädten und Dörfern lebt. Sprache spielt eine große Rolle. Und dann müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, Politik wieder direkter zu machen. Wir haben die Erotik der Demokratie verloren. Dazu zähle ich zum Beispiel, wenn man als ehrenamtlich Gewählter in einer Gemeinde oder einem Kreisgremium sitzt und Entscheidungen trifft, dann aber nicht mehr erleben kann, dass die Entscheidung auch umgesetzt wird. Oft kommt es nach Entscheidungen zu langen Gerichtsprozessen, sodass man die Umsetzung einer Entscheidung erst nach mehreren Jahren erlebt. Dadurch kommt bei den Menschen das Gefühl auf, es wird endlos debattiert und nichts passiert. Das müssen wir wieder kitten. Es muss wieder ein Stück direkter werden.
Nach aktuellen Umfragen würde ein Drittel der Brandenburger die AfD, eine in Teilen rechtsextreme Partei, ins Parlament wählen. Welche Verantwortung tragen daran die Politiker der anderen Parteien?
Das ist ein Prozess, der über Jahrzehnte entstanden ist. Der hat auch etwas damit zu tun, dass wir eine behäbige Gesellschaft geworden sind, weil es uns glücklicherweise gut geht. Wenn eine neue Partei entsteht und die in kurzer Zeit deutlich bei Wahlen und Umfragen zulegt, muss man sich fragen: Was haben wir falsch gemacht? Nur da, wo eine Marktlücke entsteht, kann sich eine neue politische Kraft entfalten. Dann muss man sich fragen, warum haben wir die Marktlücke entstehen lassen? Was haben wir nicht beachtet? Was haben wir nicht gesehen? Das sind Fragen, denen wir uns stellen müssen.
Wenn Sie "wir" sagen, wen meinen Sie?
Ich meine auch mich damit. Ich war jahrzehntelang mit in der Politik. Dass sich unsere Sprache verändert hat, dass die Demokratie nicht mehr direkt erlebbar ist, das sind Prozesse, die laufen über Jahrzehnte, und die haben wir zugelassen. Und daraus muss man lernen. Menschen haben Anforderungen an uns. Die erste ist, gehört zu werden. Die zweite ist, ernst genommen zu werden. Die dritte ist, in überschaubaren Prozedere ihre Probleme behandelt zu sehen. Und da hat es Lücken gegeben. Wenn es die nicht gegeben hätte, gäbe es die AfD nicht.
Sind diese Weichen für die Entfremdung zur Demokratie schon unter Ihrer Regierung vor gut zehn Jahren gestellt worden?
Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Entwicklung in der gesamten westlichen Welt zu tun. Deshalb kann man nicht sagen, wir lösen das in Potsdam. Wir müssen uns den gesamten Kontext angucken. Und dazu gehört, dass wir in Teilen auch wahrscheinlich einen Tick zu überheblich geworden sind. Wir sind der Meinung gewesen, wir haben ein so gutes System entwickelt, da kann uns nichts mehr passieren. Wir waren übrigens auch 1990 der Meinung, wir, der Westen, sind so gut, dass uns in Kürze die ganze Welt ähnlich sein wird. Heute, 30 Jahre später, stellen wir fest, das war eine große, schöne Hoffnung. Sie hat sich aber überhaupt nicht erfüllt.
Was folgt daraus für diejenigen, die die Demokratie bewahren wollen?
Ich glaube, es bleiben ein paar Grundwahrheiten. Zum Bespiel, sich auf die wesentlichen Punkte zu konzentrieren. Was ist für die Menschen im Moment wirklich wichtig? Die Frage der Arbeitsplätze halte ich in Brandenburg für relativ stabil. Die Frage der gesundheitlichen Versorgung, Pflege und Mobilität sind Kernprobleme, die die Menschen in ihrem alltäglichen Leben wirklich bewegen. Und auf die sollten wir uns konzentrieren. Wir haben die Neigung dazu, abzuschweifen zu Themen, die nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen relevant sind.
Demokratie ist kein Zustand, sondern eine tägliche Aufgabe. Dabei machen wir Fehler und hoffentlich machen wir am Ende mehr richtig als falsch.
Hadern Sie mit Ihrer Fehleinschätzung zu Russland als verlässlichen Partner nah an Europa?
Ja, permanent. Also, ich habe mich Jahrzehnte mit unterschiedlichen Möglichkeiten darum bemüht, dass wir ein gutes Verhältnis zu unserem europäischen Nachbarn haben. Ich habe mich in ehrenamtlichen Funktionen auf drei Länder beschränkt, Israel, Belarus und Russland. Und bei allen Ländern war der innere Antrieb der Gedanke der Versöhnung, weil wir speziell diesen drei Ländern sehr viel angetan haben. Wir haben Städtepartnerschaften, Jugendaustausche und kulturelle Kontakte organisiert. Alles mit dem Willen, mehr Nähe herzustellen, die Gesellschaften zueinander zu bringen.
Wenn Sie dann so etwas erleben wie den Überfall auf die Ukraine, dann bricht in jedem, auch in mir, eine Menge zusammen. Man fragt sich, warum hat man das alles gemacht? War das völlig sinnlos? Da gab es auch eine Krise, in der ich mich eine Weile befunden habe. Keine Frage. Ich glaube trotzdem, wir müssen heute schon versuchen, auch an den Tag nach diesem Krieg zu denken. Wir bleiben Nachbarn, und die Russische Föderation bleibt das flächenmäßig größte Land der Erde mit weit über 140 Millionen Menschen.
Haben Sie Verständnis für Menschen, die den Abbruch von wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Russland kritisieren und sich Russland auch nach wie vor sehr verbunden fühlen?
Die Russische Föderation hat ihr Nachbarland überfallen. Das ist für mich ein unvorstellbarer Vorgang gewesen, bei dem ich im ersten Moment auch fassungslos war. Ich weiß aber trotzdem, dass dieser Krieg eine Vorgeschichte hat. Die Vorgeschichte besteht nicht nur darin, dass hier ein kriegslüsterner Präsident am Werk ist.
Ob die jetzigen Sanktionen gegen Russland sinnvoll waren, weiß ich nicht. Das werden wir vielleicht erst rückblickend beurteilen können. Dass wir der Ukraine helfen müssen, steht für mich außer Frage. Aber ich kritisiere die fehlenden diplomatischen Bemühungen mit Russland. Wir reden sehr viel über Waffenlieferungen. Wir reden kaum über die vielen Möglichkeiten, die die Diplomatie hat. Da sehe ich derzeit eine Fehlstelle.
Das Problem ist doch aber, dass in Russland niemand etwas von diplomatischen Bemühungen des Westens hören möchte.
Der frühere Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gesagt: Für einen Diplomaten gibt es die Pflicht, 100 Türklinken zu fassen. Und wenn das sinnlos war, dann hat man die Pflicht, an die 101. Türklinke zu fassen. Und das fehlt mir im Moment.
Sie sagen, die Ausgrenzung Russlands habe sich lange angebahnt. Sie haben den Übergriff auf die Ukraine aber auch für undenkbar gehalten. Sind Sie da einer Propaganda auf den Leim gegangen?
Ich habe dieses Gefühl, dass wir Russland nicht auf Augenhöhe begegnet sind, nicht erst nach dem Kriegsbeginn entwickelt. Wenn Sie meine Reden und Stellungnahmen lesen aus den vergangenen Jahren, war das immer eines meiner wichtigsten Themen. Ich habe immer davor gewarnt, dass es zu Reaktionen kommen kann, die wir nicht wollen. Ich habe mich immer dem Gedanken von Michail Gorbatschow angeschlossen, einer Sicherheitsarchitektur, wo alle mit einbezogen sind, auf dem Kontinent. Wir sind 1990 als westliche Welt mit dem Sieg über die Sowjetunion nicht klug umgegangen. Wir haben Triumphgefühlen Raum gegeben nach dem Motto, wir haben gewonnen, jetzt müssen sich alle nach uns richten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit Matthias Platzeck führte Katrin Neumann.
Sendung: rbb24-Brandenburg Aktuell, 29.12.2023, 19:30