Dramatischer Sieg in Kiel - Hertha BSC ist ein Fall für die Krankenkasse
Trotz einer zunächst souveränen 2:0-Führung musste Hertha BSC bei Holstein Kiel bis ans Äußerste gehen, um am Ende noch mit 3:2 zu gewinnen. Die Berliner zeigten zwei Gesichter und schwebten zwischen Glück und Verstand. Von Marc Schwitzky
Womöglich ist das wirtschaftliche Vorhaben von Josh Wander, CEO von Hertha-Investor 777-Partners, ja doch gar nicht so übel. "Die Vision für diese Fußballgruppe ist, dass wir eines Tages nicht mehr nur Hot Dogs und Bier an unsere Kunden verkaufen, sondern Versicherungen oder Finanzdienstleistungen oder was auch immer", erklärte der US-Amerikaner im August gegenüber der "Financial Times". Diese durchkapitalisierte Denke zog große Kritik nach sich.
Vielleicht aber hat Wander hier nur eine gesundheitliche Notwendigkeit erkannt - Versicherungen auf den Hertha-Fan zugeschnitten! Das ist nahezu genial. Nicht weiter auffindbare, aber hoch wissenschaftlich durchgeführte Studien (ein Blick in die sozialen Netzwerke) haben ergeben, dass die Fans der "alten Dame" eine sehr gefährdete Gruppe sind: Hohe mentale Risiken, da das Gehirn keuchend versucht, die Erinnerungen an die letzten Saisons zu vergessen; dazu eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, aufgrund irrwitziger Spielverläufe Herzprobleme zu bekommen.
Hier braucht es also individuell aufbereitete Versicherungen, um Hertha-Fans möglichst gut aufzufangen. Josh Wander will kein Geld, er will nur helfen. Herthas dramatischer Auftritt bei Holstein Kiel am Sonntagmittag zeigt: Trotz nun mehrerer Saisonsiege gibt es hier weiterhin einen klaren "Need", wie es in der freien Marktwirtschaft so unschön heißt.
Die Ruhe vor dem Sturm
Dabei begann aus Hertha-Sicht alles angenehm gelassen. Nach dem souveränen 3:0-Heimsieg über Eintracht Braunschweig am vergangenen Wochenende wollten die Berliner in Kiel ihre erste Siegesserie der neuen Spielzeit beginnen. Gegen Braunschweig präsentierte sich Hertha weitaus ausbalancierter als in den vorherigen Auftritten, die Mannschaft schien sich zu finden - diesen Eindruck galt es nun zu bestätigen.
Das taten die Blau-Weißen auch, auch wenn Begegnung mit den "Störchen" weitaus weniger fulminant begann als die vergangenen Auftritte. Erst nach zehn Minuten meldete sich Hertha mit der ersten Großchance in der Partie an, davor und auch in den 15 Minuten danach wollte der Spielfluss nicht wirklich aufkommen. Gegner Kiel verstand es zunächst sehr gut, Herthas Außenverteidiger Jeremy Dudziak und Michal Karbownik defensiv zu binden, sodass diese ihre überaus wichtigen Rollen für den eigenen Spielaufbau kaum einnehmen konnten.
Das Resultat war, dass den Gästen aus der Hauptstadt das verbindende Element in der Spieleröffnung fehlte - auch weil Smail Prevljak zunächst große Mühe hatte, als Ersatz für den verletzten Palko Dardai ins Spiel zu finden. So war es eine Umschaltaktion, die Hertha in Führung brachte. Die Berliner nutzten in Person von Marten Winkler die gravierende Unordnung der aufgerückten Kieler, überbrückten pfeilschnell das Mittelfeld, ehe der flankende Fabian Reese den Kopf von Torschütze Prevljak fand - die Führung aus dem Nichts.
Der Schlüssel zum Erfolg
Auch am zweiten Tor war Startelfdebütant Prevljak direkt beteiligt. Nur fünf Minuten nach dem 1:0 sicherte der bosnische Angreifer technisch gut einen Ball am Kieler Strafraum und zog von der Sechszehnerkante ab. KSV-Keeper Timon Weiner ließ den Ball unglücklich vor sich abprallen, sodass der gut postierte Andreas Bouchalakis kinderleicht zum 2:0 einschieben konnte.
Es war ein Doppelschlag, der sich zuvor nicht angedeutet hatte, aber von einer gewissen Reife zeugte. Gegen einen zunächst gut eingestellten Gegner gelang Hertha noch nicht viel, doch der Bundesliga-Absteiger blieb ruhig, behielt die Geduld und wusste aufgrund der formstarken Offensive, dass die Momente noch kommen werden. Und so kam es. Dass Hertha bis dahin nichts anbrennen gelassen hatte, ist der eigentliche Schlüssel zum Erfolg, denn diese Souveränität bei zunächst komplizierten Spielen ist es, die von Weiterentwicklung zeugt. Diese Geschlossenheit und Stabilität ist ein klarer Fortschritt. Sollte man meinen.
Ein falsches Gefühl von Sicherheit
Es war genau jenes Gefühl von Sicherheit, das sich mit der 2:0-Führung im Rücken als trügerisch herausstellen sollte. Hertha schien regelrecht überrumpelt davon, dass Gastgeber Kiel sich mit der Niederlage noch nicht abgefunden hatte und nochmal angreifen wollte. Mit einer rätselhaften Passivität nahmen die Berliner in der 54. Minute den 2:1-Anschlusstreffer hin, nachdem ein Eckball nur unzureichend verteidigt wurde.
Nur zwei Minuten später verschuldete der sonst so stark aufspielende Kapitän Toni Leistner stümperhaft einen Elfmeter, den Kiel zum 2:2 verwandelte. Die angenehme Zweitoreführung und vermeintliche Souveränität - so schnell dahin. "Eine 2:0-Führung ist ein trojanisches Pferd - das hat dieses Spiel bewiesen. Man denkt, dass man sicher ist, ist es aber gar nicht", bestätigte Fabian Reese nach Abpfiff.
Die Gegentore hatten allerdings auch taktische Gründe. Kiels Dreifachwechsel zur zweiten Halbzeit sorgte für deutlich mehr Dynamik, besonders im Mittelfeldzentrum. Dort hatten Bochalakis und Marton Dardai deutlich Tempodefizite und waren somit heillos überfordert. Immer wieder überspielte Kiel Herthas Mittelfeld, sodass sie öfter in direkte Duelle mit Berlin Abwehrkette kamen - so entstand beispielsweise der Elfmeter.
Hertha fehlte in dieser Phase jeglicher Zugriff, sie rannten nur hinterher, die schnellen zwei Gegentore waren nahezu folgerichtig. Erst der dreifache Wechsel von Trainer Pal Dardai in der 68. Minute sollte deutliche Abhilfe leisten. Es ergab sich eine bessere Ordnung gegen den Ball, mehr Dynamik und so konnte das Zentrum zurückerobert werden. Vor allem Bilal Hussein und Bence Dardai hatten großen Anteil daran.
Filmreife Schlussphase
So ergab sich in den letzten 20 Minuten des Spiels ein offener Schlagabtausch. Hertha verzeichnete nach sehr schwachen 25 Minuten wieder erste Offensivszenen, stand deutlich höher und konnte so den Ball weiter vom eigenen Tor weghalten. Vor allem die vermehrt gewonnenen zweiten Bälle aufgrund einer höheren Grundaggressivität sorgten für mehr Sicherheit und Gefahr - Hertha befreite sich selbstständig aus seinem Loch und wurde wieder widerstandsfähiger.
Und der Lohn dafür sollte kommen. Einer filmreif-dramatischen Schlussphase konnte Hertha gleich zwei Elfmeter für sich herausholen: Den ersten verschoss Haris Tabakovic, doch der Ex-Kieler Reese erzielte vor seiner einst heimischen Kurve den erlösenden 3:2-Siegtreffer. "Hätte man ein Drehbuch zu meinen Gunsten von Hertha und mir schreiben wollen, wäre dieser dramatische Ausgang ganz passend gewesen", so der Siegtorschütze. Hertha musste weitere acht Minuten ausharren, Angriffswelle nach Angriffswelle überstehen, Rudelbildungen auskämpfen und einen Fehlschuss auf das leere Tor verarbeiten, um sich letztendlich als Sieger krönen zu können.
Zwischen Glück und Verstand
Der Sieg, der Hertha wohl endgültig aus der Krise hebt, ist irgendwo zwischen Glück und Verstand einzuordnen. Einerseits muss sich Hertha kritisch fragen, wie es zu diesem Leistungsabfall in den ersten 25 Minuten der zweiten Halbzeit kommen konnte. Andererseits sind die souveräne Vorstellung in der ersten Hälfte und auch das Aufbäumen ab der 70 Minuten zu loben. Auch der Mut, sich nicht an das 2:2 zu klammern, sondern auf den Sieg zu gehen, spricht für die Berliner. Laut Trainer Dardai sei es eine Lehrstunde für seine Mannschaft gewesen, die zu mehr Stabilität führen kann, aber keine Euphorie auslöst.
Sollten auch diese Siege zu einer wachsenden Souveränität beitragen, muss sich Josh Wander womöglich doch nochmal ein anderes Geschäftsmodell suchen. Bis dahin bleibt das Leben eines Hertha-Fans aber wohl weiter gesundheitlich relevant.
Sendung: Abendschau, 24.09.2023, 19:30 Uhr