Berliner Großmarkt - Die Reifeprüfung
Der Großmarkt in Moabit gilt als der "Bauch Berlins", pro Jahr werden hier 225.000 Tonnen Obst und Gemüse aus der ganzen Welt gehandelt. Doch inzwischen kommen weniger Kunden und so schrumpft auch die Familie der Verkäufer. Eine Nacht an der Beusselstraße. Von Sebastian Schneider
Das Tor zum Hof rattert nach oben, heraus brettert Nummer 125. Orangefarben, zerschrammt, die Scheibe stumpf. Am Steuer des Gabelstaplers hockt ein Mann, nur der Scheinwerfer weist ihm den Weg durch die tintenschwarze Nacht. Er kneift die Augen zusammen wie Münzenschlitze. 16 Kisten Sojasprossen und 27 Kisten Zwiebeln hat er an Bord, krachend lädt er sie vor dem Kühlraum ab. Dann ist es wieder still. Sefa Akkuş hat es eilig. Es ist kurz nach halb zwei.
Wenn es stimmt, dass der Großmarkt in Moabit der "Bauch Berlins" ist, dann beginnt er jetzt zu grummeln. Ein Gelände zwischen Bahngleisen, Kanälen und der Stadtautobahn, so groß wie der Berliner Zoo. Graue Hallen reihen sich aneinander. In der einen zerlegen sie Schweinebäuche, in der anderen schnüren sie Chrysanthemen, und hier, im Fruchthof, verkaufen Männer wie Sefa Akkuş Obst und Gemüse aus der ganzen Welt. Seine Schicht beginnt um Mitternacht, sechs Mal die Woche.
Obstkisten wie Bauklötze
Bei Akkuş' Arbeitgeber "Früchte Franz" kann man heute zwischen 22 Sorten Kohl und 15 Sorten Äpfeln wählen. Auf den Paletten türmen sich Kisten mit korallenroten Litschis aus Madagaskar, Mangos aus Thailand, Honigmelonen aus Costa Rica. Von oben sieht der Stand aus, als hätte ein Riese mit Lego gespielt.
Die letzte S-Bahn an der Beusselstraße ist gerade durch, da rufen die ersten Kunden an: Händler vom Wochenmarkt, Saftverkäufer, Restaurantbesitzer, Kantinenchefs. "Evet evet", ruft Sefa Akkuş in den Hörer, "ja ja. Machen wir." Ein kleiner, kräftiger Mann Ende 50, mit Grübchen und Boxernase. Wer was will, muss mit ihm reden, denn Preise stehen nirgends angeschrieben. Beim Telefonieren tippt Akkuş in einen Taschenrechner, so groß wie ein IPad. Meistens spricht er dabei türkisch. Wie fast alle Händler hier.
Highway aus poliertem Beton
Durch die Halle rasen jetzt so viele Gabelstapler, dass man sich einen Zebrastreifen wünscht. Auf diesem Highway aus poliertem Beton bewegen sie 225.000 Tonnen Ernte pro Jahr. Für jeden Berliner wären das 65 Kilo Obst und Gemüse.
Man sieht all die Pracht im Neonlicht, aber riecht sie nicht. In der ungedämmten Halle sind es fünf Grad. Von Oktober bis April tragen die Packer lange Unterhosen unter ihren Blaumännern. "Hast Du Problem, Kollege?", fragt Detlef, geschieden, Schulter und Bandscheiben kaputt. "Problem nur bei der Bank!", antwortet Akkuş. Beide gehen ab. Draußen vor der Rampe tuckern die ersten Laster.
Als der Fruchthof 1965 eröffnete, hatten hier Herrschaften mit Hornbrillen und Hüten das Sagen. Sie rauchten Zigarren, waren stolz auf ihre Bäuche und konnten noch ehrlich über eine Ladung Bananen staunen. Berlin war eingemauert und die alten Markthallen lagen im Ostteil der Stadt. Also schuf der Senat die "Keimzelle für die Ernährung der Westberliner", wie sie der Regierende Bürgermeister Willy Brandt nannte. Damals gab es im Fruchthof 300 Obst- und Gemüsehändler, heute sind es 42. Noch immer gehört das Gelände dem Land, die ganze Halle ist vermietet. Aber das Geschäft hat sich verändert.
Die Discounter haben heute ihre eigenen Lager
Inzwischen kaufen die Deutschen 85 Prozent ihres Obsts und Gemüses im Supermarkt, davon nochmal die Hälfte beim Discounter. Die großen vier, wie sie Aldi, Lidl, Rewe und Edeka hier mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bitterkeit nennen, haben auch Berlin unter sich aufgeteilt – sie brauchen den Großmarkt nicht mehr, sie haben jetzt computergesteuerte Logistikzentren und lassen sich direkt beliefern.
"Die rufen in Spanien an und kaufen einem Produzenten die komplette Ernte ab. Dadurch können sie Preise machen, die andere nie durchhalten würden", sagt Henrik Franz, dessen Großvater die Firma gegründet hat. Eine von zwei, die noch in Familienbesitz sind.
Sefa Akkuş tauchte 1982 an der Beusselstraße auf, ein junger Mann mit schwarzem Schnurrbart, gewöhnt an die trockene Hitze seiner Heimat Denizli. Der klamme Kasten in Moabit war die beste Option, die er hatte. Dort brauchten sie immer Leute, die Nächte machten ihm nichts aus und er liebte den Zusammenhalt, wie er sagt. "In 36 Jahren war ich keine 30 Tage krank", erzählt Akkuş. Seine Frau und seine beiden Kinder kennen ihn nicht anders. Im Dunkeln ist er fort.
Schnell, aber nie gehetzt
Gegen drei Uhr zählt Akkuş ein Bündel labbriger 50-Euro-Scheine und schiebt es der Buchhalterin unter der Scheibe durch. Schon ihre Mutter saß bei Franz an der Kasse. Und davor ihre Großmutter. Auf dem Fruchthof verwalten die Frauen das Geld und die Männer krakeelen.
Sie alle sind vor langer Zeit am Westhafen gestrandet: Kompakte Herren mit fleischigen Händen, die ihre Lesebrille auf der äußersten Nasenspitze zu balancieren wissen. Sie tragen Daunenwesten und Baskenmützen. Ihre Stimmbänder bestehen aus Schmirgelpapier. Zwei dahingeknatterte Sätze, und eine Regalladung Grapefruits hat den Besitzer gewechselt.
"Frau Merkel braucht ja Geld"
Der Hüter der "Oase" zum Beispiel wirkt an einem Pult aus Orangenkisten. "Büro ist wie Knast. Hier bin ich frei", erklärt Ali Yilmaz mit der Gelassenheit von 40 Jahren Nachtschicht. Er hat den milden Spott eines Gastgebers, der sein Gegenüber auf ungewohntem Terrain weiß.
Yilmaz zeigt auf einen Stapel, brummelt "Chile", dann auf den nächsten – "Peru" –, referiert über Süßes und Saures, das in Containerschiffen, Flugzeugen und Lastern den Weg zu ihm fand. "Ich bin international", erklärt er.
Die Idee von Urlaub sei ihm fremd. Und wenn er mal wegfahre, besuche er gern andere Großhändler. Import / Export für immer. "So lange ich fit bin, bleibe ich hier. Frau Merkel braucht ja Geld", sagt Yilmaz. Dann beißt er in eine Käsestange. Es ist 4.30 Uhr. Unter einer Palette flitzt eine Maus hervor.
Die Obsthändler verschwinden
Im Café neben dem Lotto-Kiosk kämpfen zwei Packer gegen die Müdigkeit. Sie stieren durch den Fernseher an der Wand, als wäre er das Fenster zur Sonne. Beşiktaş verliert gegen Bayern.
Um diese Zeit muss hier niemand mehr frierend nach Mandarinen fahnden. Die Obstgeschäfte mit den bunten Markisen, die kleinen türkischen Supermärkte verschwinden allmählich. Eine Gruppe von mehr als 100 Händlern würde den Großmarkt gerne vom Land Berlin übernehmen, um ihn zu modernisieren. Auch Franz ist dafür.
Ein Zentrum für "New Food Economy" haben sie geplant, mit Start-Ups, Mikrobrauereien, Ladestationen für Elektro-Laster, wenigstens schnellem W-Lan. Aber der Senat hat abgelehnt. Der Bauch Berlins gehöre in öffentliche Hand. Nicht dass hier jemand hungern muss.
Wie in der Gerichtsmedizin
Doch die Zukunft hat längst begonnen, den Marktstand betreibt Franz nur noch nebenbei. Der Chef setzt vor allem auf die Gastronomie. 15 Arbeiter mit blauen Haarnetzen schnippeln in einem fensterlosen Raum Gemüse: "Venezia" und "Herkules Royal" heißen die eingeschweißten Salatmischungen, auch der "Florida Mix" ist recht beliebt. Es sieht aus, wie in der Gerichtsmedizin. Alles wegen der Hygiene.
Am Ende wird das Grünzeug in den Mägen von Kita-Kindern und Studenten landen, von Hotelgästen und Heimbewohnern. Weg wirft Franz fast nichts: Entweder spendet er die Sachen der Berliner Tafel, oder sie verfaulen in der Biogas-Anlage.
Feilschen bis aufs Blut
Durch die Dachfenster schleicht das erste Morgenlicht. Man hört das Zwitschern der Spatzen, die unter der Decke hausen und sich ansonsten fett fressen, mit behördlicher Sondergenehmigung. Man hört ein russisches Lied und wird melancholisch. Immer schrillt irgendwo ein Telefon. Im Klo hat wieder einer geraucht.
Sechs Uhr, früher wäre die Luft jetzt erfüllt von Geschrei gewesen. Alle hatten sie ein Lager an der Beusselstraße, mussten eins haben: Kaiser's, Reichelt, Bolle, Butter Beck und Hertie. Wenn man zehn Mark verlangte, bekam man zwei geboten, sagen die Leute hier. Und dann wurde gefeilscht bis aufs Blut.
Sefa Akkuş vermisst diesen Krach. "An einem Freitag wie heute hat man kaum noch einen Salat bekommen", erzählt er, der selbst nie ein Schreihals gewesen ist. Noch um acht Uhr kauft ihm einer 250 spanische Eisbergköpfe auf einen Schlag ab. "Ohne Gewähr", wirft ihm Akkuş als Witz hinterher, aber der Mann reagiert nicht.
Hände schütteln, als wär's für immer
Um 8.36 Uhr geht er zu Henrik auf dem Gabelstapler und gibt ihm die Hand. Klopft dem schwarz gelockten Francesco auf die Schulter, der gerade eine gebrochene Palette Kartoffeln aus dem Weg räumen muss. Der zierlichen Hanh Cong Minh ruft er zu: "Ich liebe Dich!", und lacht.
Dann stapft Sefa Akkuş davon, die Hände in seinen Jackentaschen, dem bleigrauen Morgenhimmel entgegen. Immer wieder muss er stehenbleiben, um sich zu verabschieden. Draußen hat es angefangen zu schneien. Eine ordentliche Nacht in einem schlechten Monat, wird der Chef später sagen, als er die Zahlen sieht.
Akkuş lässt sich auf den Sitz seines Geländewagens plumpsen. "Wir sehen uns", ruft er und fährt davon. Er klang, als würde er zu einer Kreuzfahrt aufbrechen. Aber in knapp 15 Stunden wird er wieder auf dem Parkplatz mit der gleichen Nummer halten. "Sefa" heißt auf Deutsch "Vergnügen".