Interview | Trendforscher zu "Must have"-Artikeln - "So kann man sich als nachhaltiger Genussmensch präsentieren"
Immer wieder gibt es Artikel, die alle haben wollen. Derzeit sind etwa Thermobecher der Marke Stanley auch in Berlin in aller Munde. Trendanalyst Carl Tillessen erklärt, warum - und verrät, was als Nächstes kommen könnte.
rbb|24: Herr Tillessen, manche modischen Accessoires wollen alle haben. Mal waren es Fjällraven-Rucksäcke, mal Takis, diese scharfen Chips, und immer wieder sind es Sneaker. Jetzt gerade ist ein Riesentrinkbecher der Marke Stanley im Trend. In den USA ist er kaum noch erhältlich. Auch hier in Berlin sind diese "Quencher" immer öfter zu sehen. Warum wollen wir diese Sachen, die alle anderen auch haben?
Carl Tillessen: Trends sind Kommunikationsmittel, mit denen man sich sozial orientiert. Mit ihrer Hilfe kann man sich von bestimmten Gruppen abgrenzen und Zugehörigkeit zu anderen Gruppen signalisieren. Vor allem aber kann man zeigen, dass man auf der Höhe der Zeit ist, dass man Anteil nimmt am Geschehen. Das zeigen zu wollen, ist vollkommen legitim, weil es Menschen auch interessant macht. Modische Kleidungsstücke und Accessoires sind das oberflächliche Signal dafür, dass man auf dem neusten Stand ist. Interessant macht das Menschen vor allem dann, wenn sich das nicht auf die oberflächlichen Dinge beschränkt. Jemand, der die neusten Filme gesehen hat, die neuste Musik hört, ist auf jeden Fall ein interessanterer Gesprächspartner als jemand, der immer nur die Beatles hört und den Film Casablanca in Wiederholungsschleife anschaut.
Wie passiert es, dass bestimmte Produkte trenden? Welche Fakten spielen da eine Rolle – ist es zum Beispiel derzeit auch das Thema Nachhaltigkeit?
Viele oberflächlich wirkende Mode-Trends sind gar nicht so oberflächlich, wie man denken könnte. Denn tatsächlich sind Trends meist tief verankert in unserem Wertesystem und spiegeln unsere Prioritäten. Und wenn diese sich ändern, ändern sich auch die Dinge. Dafür steht der Stanley Cup als Mehrwegbecher. So etwas wird zunächst einmal auch gekauft, weil viele Leute nicht wissen, wohin mit ihren Händen. Deshalb halten sie gerne etwas in der Hand. Dabei zeigt man sich besonders gerne mit Genussmitteln, um sich als Genussmensch zu präsentieren. Früher wäre das vielleicht eine Pfeife oder Zigarette gewesen. Diese sind aber in Ungnade gefallen in den letzten Jahrzehnten, weil wir gesünder leben wollen. In den Nullerjahren gab es kaum ein Promi-Foto ohne einen Coffee-to-go-Becher. Das war der Nachfolger der Zigarette. Der ist aber durch das Bewusstsein dafür, dass Einwegbecher nicht besonders nachhaltig sind, ebenfalls in Ungnade gefallen. Dann gab es eine Phase der Verunsicherung und der Leere, und diese Lücke füllt jetzt der Mehrwegbecher. In dem kann sich jetzt alles Mögliche befinden – unter anderem auch wieder Coffee-to-go. Aber eben in einer zeitgemäßen Variante. So kann man sich als nachhaltiger Genussmensch präsentieren.
Ist es oft so, dass Trends von woanders – beispielsweise den USA – irgendwann zu uns schwappen. Und wenn ja, ist das schon immer so oder erst seit dem Internet?
Das ist so, und das Internet hat da definitiv etwas verändert – vor allem an der Geschwindigkeit. Früher hatte man zwei bis zweieinhalb Jahre Zeit, bis Trends aus den USA hier ankamen. Durch die globale Vernetzung passiert das jetzt in Echtzeit. Aber die kulturelle Übermacht der USA hat gelitten. Der Einfluss asiatischer Kulturen auf unseren Lebensstil hat im Gegenzug extrem zugenommen.
Der aktuelle Trend zum Mehrwegbecher allerdings kann nur aus den USA kommen. Denn die USA scheinen das Land zu sein, wo man am meisten Sorge davor hat, zu dehydrieren. Dort läuft man ständig mit einem Getränk durch die Gegend. Das hat schon seit einigen Jahren einen starken Einfluss auf uns. Die jungen Menschen, die jetzt bei uns modische Impulse setzen, sind da bereits hineingewachsen. Während Getränke früher Kindern vor allem zum Essen gereicht bekamen, werden sie heute bereits in der Kita quasi durchgängig mit Flüssigkeit beträufelt.
Gibt es denn eine Erklärung dafür, dass ansonsten Asien den USA den Rang abgelaufen hat?
Das hat materielle Gründe. Die ökonomische Kraft und vor allem die Kaufkraft in Asien hat stark zugenommen. Asien ist die wichtigste Zielgruppe für Luxusmode geworden. Auch dadurch orientiert man sich an dieser Kultur und beobachtet sie genau. Und unterwirft sich ihr auch an vielen Stellen. Man sieht auf Laufstegen und in Kampagnen, dass es immer mehr asiatische Models gibt. Die asiatischen Influencer sitzen in der ersten Reihe. Die meisten Luxusmarken lancieren inzwischen auch Produkte zum chinesischen Neujahr. Und diese wachsende Aufmerksamkeit für die asiatische Kultur führt dazu, dass auch kulturelle Impulse aus Asien zurückkommen. Das prominenteste Beispiel ist die K-Pop-Welle, die längst bei uns angekommen ist.
Entstehen Trends meist zufällig oder werden sie gesteuert von Unternehmen?
Sie werden zum größten Teil gesteuert. Und zwar von Unternehmen wie dem, für das ich arbeite. Aber nicht von einem allein. Wir sind Teil eines globalen Netzwerkes ähnlicher Trendagenturen. Man setzt sich tatsächlich zwei Mal im Jahr irgendwo auf der Welt an einen Tisch und entscheidet über die Grundrichtung für Trends. Das geschieht übrigens etwa zweieinhalb Jahre im Voraus. Es stehen also beispielsweise schon jetzt die wichtigsten Farben für den Herbst und Winter 2025/2026 fest. Nach diesen Treffen propagieren alle Agenturen die Trends in ihren Heimatländern und nehmen so Einfluss auf die Produktentwicklung. Deshalb werden die am Tisch gefassten Prognosen in gewisser Weise zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Das heißt aber nicht, dass man völlig willkürlich beschließen kann, was man will. Die Trends müssen auch auf Resonanz stoßen bei den Leuten. Das tun sie nur, wenn sie mit dem bestehenden Wertesystem und den Prioritäten der Menschen übereinstimmen. Man kann nichts in den Markt reindrücken, was dem Zeitgeist widerspricht.
Dann können sie uns den nächsten großen Trend jetzt hier verraten?
Dazu gäbe es sehr viel zu sagen. Im Zusammenhang mit dem, worüber wir bisher hier gesprochen haben, nämlich, dass Nachhaltigkeit und Gesundheit in den letzten Jahren eine große Rolle gespielt hat, sehen wir jetzt eine Gegenbewegung auf uns zukommen. Da wird beispielsweise wieder mehr geraucht - und das ganz demonstrativ. Die Modemarke Saint Laurent hat als Einladung zu einer Modenschau gerade einen Clip verschickt, in dem eine Frau in einem Aufzug raucht. Weil ungesunder Lebensstil in den letzten Jahren eher tabuisiert war, wird so etwas jetzt zu einem reizvollen Tabubruch. Das zeigt sich bislang nur in Ansätzen, wird aber in den kommenden Monaten und Jahren an Bedeutung gewinnen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
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