Interview | Richter zu Silvester-Randale - "Hört auf, in der Politik nach härteren Strafrahmen zu schreien. Die bringen gar nichts."
Die Angriffe auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht in Berlin haben bundesweit für Aufsehen gesorgt. Die Politik will gegen die Randalierer vorgehen. Das hätte sie schon vor Jahrzehnten tun sollen, sagt der Bernauer Richter Andreas Müller.
rbb|24: Herr Müller, erstmal ein kurzer Rückblick auf ihr Buch, das 2013 erschienen ist: "Schluss mit der Sozialromantik! Ein Jugendrichter zieht Bilanz". Welche Bilanz ziehen Sie heute? Was hat sich verändert?
Andreas Müller: Ich mache heute, im Verhältnis zu vor zehn Jahren, nur noch ein Drittel Jugendstrafrecht in meinem Kiez. Es hat sich sehr wohl verbessert. Die jungen Leute sind nicht mehr so straffällig. Es gibt nicht mehr so viel Körperverletzung und so weiter wie man denkt.
Die Statistiken zeigen einen Rückgang. Und das hat natürlich damit zu tun, dass wir inzwischen für viele Menschen - insbesondere junge Menschen - in der Gesellschaft Perspektiven haben. Die Leute haben Arbeitsplätze und Lehrstellen. Es ist schon eine Menge passiert und das ist auch gut so.
Gewalt ist aber weiterhin ein Thema. Das haben wir zuletzt in der Silvesternacht gesehen. Und der Eindruck - zumindest in der Öffentlichkeit - ist, dass die Gewalt ein anderes Ausmaß annimmt. Sehen Sie das auch so?
Nein, die Diskussion ist ja immer die Gleiche. Ich bin jetzt 30 Jahre dabei. Man sieht irgendwas im Fernsehen und das ist dann ganz besonders heftig. Und dann denkt man irgendwie, die gesamte Jugend neigt zu wesentlich mehr Gewalttätigkeit.
In Wirklichkeit ist die Gewalttätigkeit rückläufig - jedenfalls soweit ich es beurteilen kann - und es ist nicht schlimmer geworden. Die Bilder produzieren die Gedanken auch in den Köpfen der Menschen, die jetzt denken, an jeder Ecke würden sie geschlagen. Dem ist nicht so.
Von Seiten der Polizei und Feuerwehr gibt es die Warnung, dass Angriffe auf sie zugenommen hätten oder in so einem Ausmaß noch nicht vorhanden gewesen seien.
Auch das ist eine Geschichte, die wiederholt sich immer wieder, solange ich denken kann. Es hat auch zwischenzeitlich eine Verschärfung des Gesetzes gegeben. Aber natürlich ist jeder Angriff auf Polizeibeamte nicht richtig, auf die Feuerwehr erst recht nicht.
Trotzdem diskutiert die Politik jetzt darüber, wie es zu dieser Gewalt in der Silvesternacht kommen konnte. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey will einen Gipfel gegen Jugendgewalt durchführen. Was halten Sie von dieser Maßnahme?
Ich weiß nicht, was das bringen soll. Bei der ganzen Diskussion, die ich in den letzten Tagen verfolgt habe, habe ich nur mit dem Kopf geschüttelt. Bei den einen - das sind hauptsächlich CDU und AfD - weil das Migranten und nicht Deutsche waren. Und bei anderen, die sich darüber aufregen, das zu wenig gemacht wird: 'Wir brauchen mehr Sozialpolitik!'
Das ist die Diskussion, die ich in den vergangenen 30 Jahren immer wieder gehört habe. Ich weiß nicht, was so ein Gipfel bringen soll.
Der Bezirksbürgermeister von Neukölln, Martin Hikel (SPD), hat sich für ein schnelles Handeln ausgesprochen. Wo hakt es denn?
Es kommt immer wieder dazu, wenn es irgendwelche jugendliche Gewaltausbrüche wie in der Silvesternacht gibt, dass man sagt: 'Wir müssen da irgendwie etwas machen.' Aber de facto wird es nicht umgesetzt. Und diese Äußerungen werden wieder verschwinden, so wie sie in den letzten zehn, zwölf Jahren immer wieder verschwunden sind. Sie könnten etwas machen, machen es aber nicht. Sowohl unter CDU-, als auch unter SPD-Ägide wird es vernachlässigt.
Hier handelt es sich, ohne das ich genaue Kenntnisse habe, um junge Leute, die die Grenzen erheblich überschritten haben. Da muss schnell, effektiv und bisweilen auch hart reagiert werden. Dafür müssen die Strukturen hergestellt werden. Die sind aber nicht da. Nach diesen Strukturen wird seit ewiger Zeit gerufen. Wenn jetzt Politiker hingehen und sagen: 'Ja, wir brauchen schnelle Verfahren', dann sind es in aller Regel Politiker, die seit Jahren an der Macht waren. Denen werfe ich vor, dass sie das vernachlässigt haben.
Sie sagen von sich, Sie seien schnell, konsequent, aber auch sehr autoritär. Wäre das in diesem Fall angebracht?
Ja, natürlich. Erstmal ist Schnelligkeit unheimlich wichtig. Da hat man als Richter aber keinen Einfluss. Es kann auch sein, dass junge Leute, die aus meinem Bezirk kommen, bei mir vor Gericht kommen. Dann würde ich mich freuen, wenn die in drei Wochen vor mir stehen. Was passiert: Die werden rechtstaatlich verurteilt und dann wird im Einzelfall geschaut, ob Härte notwendig ist oder Erziehungsmaßnahmen auf geringerer Basis.
Allein der Umstand, dass junge Leute zeitnah zum Richter kommen, ist schon eine erzieherische Maßnahme. Aber dafür braucht es Strukturen. Frau Giffey sollte sich - statt über runde Tische zu sprechen - mit der Justizsenatorin zusammensetzen, um die Strukturen zu schaffen. Wenn sie all diejenigen, die personell erfasst wurden und gegen die die Beweise reichen, innerhalb von einer oder zwei Wochen zu den zuständigen Jugendrichtern bringen, wäre das der Runde Tisch, der notwendig wäre.
Und das ist auch realisierbar?
Wenn man sich genügend darum bemüht, mit dem Präsidenten der Gerichte darüber redet, dass man den jungen Leuten zeigen möchte, dass wir ein Rechtsstaat sind und das auch schnell geht - dann geht das. Aber dafür muss der politische Wille da sein. Und nicht nur im Wahlkampf versprechen: 'Wir machen dies und jenes.' Ich sage: Gebt der Justiz die personellen Ressourcen, damit die Justiz schnell und effektiv erzieherisch reagieren kann.
Was versprechen Sie sich denn von so schellen Verfahren? Glauben Sie, dass solche Gewaltausbrüche dadurch auch perspektivisch verhindert werden können?
Sie werden immer wieder Ausbrüche von jungen Leuten haben. Das werden sie in fünf Jahren haben oder in zehn Jahren. Aber es geht auch darum, eine gewisse Art der Abschreckung zu schaffen, damit die Ausbrüche nicht zu doll werden.
Die Leute wissen, wenn ich mit einer Schreckschusspistole auf die Polizei schieße, dann komme ich eventuell gleich morgen zum Jugendrichter. Das sind die Signale, die gesetzt werden müssen. Und diese Signale werden hoffentlich in den nächsten Wochen von der Berliner Justiz gesetzt.
Sie fordern schon seit vielen Jahren eine Art Zentralregister für Intensivtäter, sodass die Vernetzung zwischen den einzelnen Behörden besser funktioniert. Was hat sich dahingehend getan?
Relativ wenig. Aber es ist mittlerweile eine bessere Vernetzung da - auch bei der Berliner Staatsanwaltschaft. Die wissen sehr wohl, wie viele Verfahren gegen die Jungs oder die paar Mädchen, die da eine Rolle spielen, anhängig sind.
Aber es muss in die Tat umgesetzt werden. Es muss schneller gehen bei Jugendlichen und Heranwachsenden, aber auch bei Erwachsenen. Und wenn man Beweise hat, dann gibt es Verfahrensmöglichkeiten.
Das Register selber macht es auch nicht. Es ist die Umsetzung des Registers. Wenn man Kenntnisse über diese Leute hat, die da in Erscheinung getreten sind, dann kann man die mit einbringen und schnell reagieren.
Welche Fehler hat die Politik in den vergangenen Jahren gemacht, aus denen sie jetzt lernen sollte?
Sie muss hingehen mit viel, viel Kraft, um Jugendverfahren auf allen Ebenen zu beschleunigen. Die Jugendstaatsanwaltschaften und -gerichte müssen ausgestattet werden und man muss mit der Polizei zusammenarbeiten, was ich seit 15 Jahren immer wieder gepredigt habe.
Die lieben Politiker sollten endlich die Strukturen dafür machen, das Jugendgerichtsgesetz ändern und der Polizei sagen, sie müssen sofort in Sachen Jugend ermitteln. Sagt der Staatsanwaltschaft, sie müsse sofort anklagen, die Instrumente benutzen, die bereits in Gesetzen verankert sind und hört auf, in der Politik nach härteren Strafrahmen zu schreien. Die bringen gar nichts.
Warum bringen die Ihrer Meinung nach nichts?
Weil kein Jugendlicher sich vorher überlegt, ob eine Sachbeschädigung mit einer Woche Jugendarrest oder einem halben Jahr Jugendstrafe verurteilt wird. Die denken nur darüber nach, ob sie vor Gericht kommen oder nicht, wenn sie erwischt werden. Wir haben Strafrahmen, die reichen völlig aus. Wir haben nur keine vernünftigen, effektiven Strukturen bei jungen Männern, die sofort sehen müssen, dass es so nicht geht.
Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Felicitas Montag für rbb|24.
Sendung: Antenne Brandenburg, 05.01.2023, 16:10 Uhr