Viele Zahlen, viele Deutungen - Fachkräftemangel: Ja? Nein? Vielleicht?
Auf dem Bau, in Klassenzimmern – gefühlt fehlen Fachleute überall. Auch Zahlen zeigen, dass Arbeitskräfte mitunter rar sind. Einen grundsätzlichen Fachkräftemangel statistisch zu belegen, ist aber so schwierig wie einen Pudding an die Wand zu nageln. Von Thorsten Gabriel
Zahlen gibt es viele: Die meisten davon sammelt die Bundesagentur für Arbeit und bereitet sie säuberlich Monat für Monat auf. Sie zählt Arbeitslose und Auszubildende, offene Stellen und Ausbildungsplätze und sie rechnet sogar nach, wie lange es in den verschiedenen Branchen dauert, bis offene Stellen wieder besetzt sind. So weist die Statistik für Oktober, durch die Mangelbrille betrachtet, beispielsweise aus, dass es in Berlin vor allem in den Bereichen Altenpflege, Klempnerei/Sanitär/Heizung/Klimatechnik und Energietechnik mehr offene Stellen als Arbeitssuchende gibt. Eine etwas angespanntere Situation ergibt sich im Land Brandenburg. Dort gibt es in weiteren Branchen Lücken.
Trotzdem lässt einen die Statistik etwas ratlos zurück: Und das soll nun der vielbeschworene Fachkräftemangel sein? 768 mehr offene Stellen als Arbeitslose in Berlin und 1533 in Brandenburg? Lücken sind das zweifellos – aber ein flächendeckender Mangel an Fachkräften?
Amtliche Zahlen allein helfen nicht weiter
Die erste Erkenntnis lautet: Eine allgemeingültige Fachkräftemangel-Definition gibt es nicht. Die zweite: Amtliche Zahlen allein helfen nicht weiter. Der Grund dafür ist simpel. Kein Unternehmen ist gezwungen, offene Stellen der Arbeitsagentur zu melden. Während dies vor einigen Jahren allerdings noch als ein Indikator dafür angesehen wurde, dass der Druck in den Unternehmen wohl nicht so groß sein könne, wenn sie bei der Suche nicht alle Register zögen, ist man mittlerweile auch in Arbeitsagentur-Kreisen mit einer solchen Deutung zurückhaltend. "In bestimmten Branchen ist der Glaube, dass man die gesuchten Fachkräfte über die Bundesagentur findet, nicht sehr groß", konstatiert Holger Seibert vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im Gespräch mit rbb|24.
Außerdem seien die Unternehmen insbesondere in größeren Städten weniger geneigt, mittels Arbeitsagentur auf Fachkräftesuche zu gehen, als im ländlichen Raum, sagt Seibert. In den Städten setzten viele Firmen eher auf Online-Jobbörsen oder soziale Netzwerke wie LinkedIn um Personal zu rekrutieren. Mit der Folge, dass in den staatlichen Statistiken zwar die Arbeitslosen und Arbeitssuchenden erscheinen, nicht aber die offenen Stellen in ihrer ganzen Breite. Das wäre im Grunde ohne Belang, gäbe es da eben nicht die Alarmrufe aus der Wirtschaft, der Fachkräftemangel habe die Unternehmen längst erreicht und werde sich in den kommenden Jahren noch dramatisch verschärfen.
Wer ist näher dran an der Wirklichkeit?
Ihre Alarmstimmung untermauern die Wirtschaftsverbände mit eigenen Zahlen. Erst im Frühjahr prognostizierte die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK), der Mangel an Fachkräften werde sich bis zum Jahr 2030 noch einmal nahezu verdoppeln. Der Fachkräftemonitor der IHK [Externer Link] sieht derzeit ein Defizit von etwa 121.000 Fachleuten in Berlin, in zwölf Jahren könnten es 235.000 sein.
Schaut man in die Datentabellen der Arbeitsagentur, findet man dort für Oktober 2018 lediglich 19.079 gemeldete offene Stellen für Facharbeiter und Akademiker. Diesen offenen Stellen standen insgesamt 77.216 arbeitslose Facharbeiter und Akademiker gegenüber. Selbst wenn sämtliche gemeldete offenen Stellen dennoch nicht besetzt werden könnten, wäre der Mangel dieser Statistik zufolge immer noch wesentlich geringer als von der Wirtschaft beziffert – und zwar um satte 100.000 Stellen.
Es stellen sich also zwangsläufig zwei Fragen: Wie kommen die Wirtschaftsverbände und insbesondere hier die IHK auf ihre doch drastisch höheren Zahlen? Und welche Zahlen sind näher dran der Wirklichkeit?
Der IHK-Fachkräftemonitor ist gespeist aus einem Datenquellen-Mix. Es fließen Zahlen der Statistikämter ebenso ein wie die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Vor allem aber sind es auch selbst generierte Daten, die die Kammer regelmäßig bei ihren Mitgliedsunternehmen einholt. Mehrmals im Jahr befragt die IHK die Unternehmen zu ihrer Geschäftssituation und neuerdings auch zu möglichen Besetzungsproblemen bei offenen Stellen. Es würden bei der Berechnung "strukturelle, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen" mit berücksichtigt, heißt es bei der IHK.
Offene Stellen multipliziert mit x
Bekannt ist, dass die Zahl der von der Arbeitsagentur gemeldeten Stellen von Wirtschaftsverbänden um einen nicht näher bekannten Faktor multipliziert wird um auch die nicht gemeldeten Stellen annähernd abzubilden. Die Arbeitsagentur selbst geht davon aus, dass die Zahl der tatsächlich offenen Stellen vermutlich doppelt so hoch wie gemeldet liegt. In Wirtschaftskreisen rechnet man allerdings noch mit ganz anderen Faktoren. Für Schlagzeilen sorgte vor ein paar Jahren ein Streit zwischen dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Verein multiplizierte die Zahl der offiziell gemeldeten offenen Stellen für Ingenieure mit dem Faktor 7,14.
Das ist ein Umstand, der immer mitgedacht werden muss, wenn es um die Bewertung des Alarms geht, der da geschlagen wird. Zwar ist sich die Fachwelt einig, dass der Mangel an Fachkräften in den nächsten Jahren zunehmen wird, allerdings existieren über den Ist-Zustand durchaus gegensätzliche Ansichten. Vor allem Gewerkschaften und gewerkschaftsnahe Organisationen vermuten hinter dem lautstarken Ruf nach fehlenden Fachkräften auch andere Motive. Auch der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Karl Brenke, ist seit Jahren ein vehementer Vertreter der These, dass der Fachkräftemangel, wie er von der Wirtschaft beschworen werde, ein Mythos sei. "Die Wirtschaftsverbände wollen sich wichtigmachen", sagte Brenke rbb|24.
Es sei der Versuch, Arbeitskräfte gewinnen zu wollen ohne entsprechend attraktive Löhne und Gehälter zu zahlen. Bei Berufsgruppen, in denen es wirklichen Mangel gebe, wie etwa bei IT-Spezialisten, werde mittlerweile auch deutlich mehr gezahlt, sagte Brenke der "Wirtschaftswoche".
Keine Zahlen für ein solides Fundament
Gehaltszuwächse sind der einzige wirklich zuverlässige Indikator für einen Mangel an Fachkräften, folgt man der Argumentation Brenkes. Er kritisiert auch die Methodik, die Zahl der offenen Stellen um einen Faktor emporzuschrauben, dessen Höhe sich nur schwer nachvollziehen lasse. Denn gleichzeitig gelte ja auch für die Zahl der Arbeitslosen, dass diese nicht vollends den Bewerberkreis abbilde. Nicht jeder, der Arbeit sucht, meldet sich unbedingt arbeitslos. Dazu komme, dass die Arbeitsagentur nicht zuverlässig sagen könne, ob in ihrer Statistik nicht Stellen doppelt gezählt würden – dann nämlich, wenn Unternehmen einerseits selbst offene Stellen meldeten und gleichzeitig aber auch Personaldienstleistungsunternehmen für dieselbe Stelle auf die Suche gingen.
Die These, dass einzig steigende Löhne den Fachkräftemangel einer Branche zum Ausdruck brächten, teilt der Arbeitsmarkt-Experte Holger Seibert vom IAB der Bundesagentur nur bedingt. Ein Blick nach Brandenburg genüge, um zu zeigen, wie komplex die Situation sei. "Wenn ein Unternehmen in der Süd-Lausitz eine Fachkraft sucht, aber nicht die Löhne zahlt, die in Berlin gezahlt werden, wird es diese Fachkraft nicht bekommen. Aber ob es die entsprechenden Löhne nicht zahlen kann oder nicht zahlen will, lässt sich eben von außen schwer einschätzen", gibt er zu bedenken.
Fest steht: Je eingehender man sich mit den Statistiken beschäftigt, desto mehr versinkt man in ihnen. Da ist keine Zahl, die stabil genug erscheint für ein solides Fundament, von dem aus sich ein allgemeiner, also branchenübergreifender Fachkräftemangel solide belegen oder widerlegen ließe. So sieht Holger Seibert zwar "deutliche Anzeichen" dafür, dass sich die Situation verschärft habe. Wie die Realität aussehe, könne aber auch er nicht sagen. Vermutlich liege die Wirklichkeit "irgendwo zwischen den Zahlen des IHK-Fachkräftemonitors und den bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten offenen Stellen".