Neue Hauptgeschäftsstelle in Berlin - Anonyme Alkoholiker unterstützen seit fast 100 Jahren im Kampf gegen die Sucht
Die Anonyme Alkoholiker gelten als die größte Selbsthilfegrupe der Welt und sie blicken auf eine jahrzehntelange Erfahrung im Kampf gegen die Alkoholsucht zurück. Was macht AA so besonders? Ein Meetingbesuch in Berlin. Von Birgit Raddatz und Anja Herr
Henrik geht mittlerweile seit mehr als 15 Jahren regelmäßig zu Meetings - so werden die Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) genannt. Davor trank der heute 56-Jährige übermäßig Alkohol. Später kamen noch andere Drogen dazu, zum Beispiel Kokain. Irgendwann kam dann sein persönlicher Tiefpunkt. "Ich wusste: Entweder es ändert sich jetzt etwas oder ich sterbe", sagt Henrik. "Das ist dann einfach so ein Moment - keine bewusste Entscheidung."
Neue Gesichter in der Runde
Entschieden hat er sich damals dann dafür, sich Unterstützung bei den Anonymen Alkoholikern zu suchen.
Heute versammeln diese sich in der Nähe des Nordbahnhofs in einer Kirche. Rund 20 Menschen stehen abends in den letzten Sonnenstrahlen, ein kleines Schild am Eingang weist darauf hin, dass hier gleich ein Meeting der Anonymen Alkoholiker stattfindet. Die Kirche als Ort ist Zufall, die Raummiete ist günstig und während Corona konnten dort die vorgeschriebenen Abstände zwischen den Teilnehmern gut eingehalten werden. Herzlich begrüßen langjährige Betroffene die neuen Gesichter in der Runde.
Die Anonymität ist einer der höchsten Werte dieser Gemeinschaft. Was im Meeting gesagt wird, bleibt dort, und spielt deshalb auch in diesem Text keine Rolle. Alle nennen nur ihre Vornamen, die meisten sagen, dass sie Alkoholiker sind. Immer wieder lacht jemand - nicht über das Gesagte oder die anderen – es ist ein aufmunterndes Lachen. Jede und jeder soll hier so sein, wie er oder sie ist. Immer geht es um die persönlichen Geschichten, das hilft anderen, sich damit zu identifizieren.
Neue Generation erkennt Krankheit früher
Zu seinem ersten Meeting sei er noch etwas widerwillig gegangen, sagt Henrik. Damals saßen bei den Anonymen Alkoholikern in Deutschland vor allem Männer mittleren Alters um einen Kaffeetisch. Doch die Treffen haben sich verändert. Sie gehen nun gemeinsam beispielsweise das Programm der AA durch, bestärken sich gegenseitig durch Zwischenrufe, gehen nach den Meetings gelegentlich zusammen essen.
Medaillen als Belohnung für eine bestimmte Zeit der Nüchternheit, wie sie in den USA verteilt werden, gibt es in Deutschland nur selten. Heute kämen außerdem mehr Frauen und vor allem Jüngere in die Meetings, sagt Henrik. "Auf manche bin ich fast ein bisschen neidisch, weil sie so früh ein Bewusstsein haben, dass etwas nicht stimmt. Ich musste den Weg bis zum Schluss gehen", sagt Henrik. Seit er zu den Anonymnen Alkoholikern geht, ist Henrik nüchtern. "Ein einziges Mal in dieser Zeit habe er einen Rückfall mit Drogen gehabt", sagt er. In die Meetings geht er weiterhin, auch um sich zu erinnern: "Trinken ist keine Option mehr für mich."
Keine Kooperation mit Ärzten oder der Wissenschaft
Die Meetings, telefonischen Beratungen und Onlineangebote der AA sind kostenlos und offen für alle. Weder gibt es Kooperationen mit Ärzten oder der Wissenschaft noch mit großen Geldgebern. Die AA finanzieren sich ausschließlich aus Spenden von Betroffenen der Gemeinschaft, auch von Nicht-Alkoholikern nehmen sie kein Geld. Das mache die größte Selbsthilfe-Gruppe, die es in Deutschland seit mehr als 70 Jahren gibt, so unabhängig, sagt Jürgen Hoß.
Hoß ist der Vorsitzende der Gemeinschaft, und er ist kein Alkoholiker. Deshalb darf er als einziger offiziell für die AA sprechen und sein Gesicht zeigen, denn für alle anderen gilt das Prinzip der Anonymität. "Ich bin damals über einen Freund, der bei den Anonymen Alkoholikern war, dazu gekommen, mich für die Gruppe zu engagieren.“ Im kommenden Jahr läuft seine Amtszeit aus, eine Nachfolge wird derzeit gesucht, sagt Hoß.
Schritte, Traditionen, Sponsoring
Das AA-Programm besteht zunächst aus den "zwölf Traditionen und Schritten". Der erste erfordert das Bewusstsein, dem Alkohol gegenüber machtlos gewesen zu sein. Es folgt eine so genannte "Inventur" des Selbst. Ungefähr ab der Hälfte des Programms können, wenn möglich, Betroffene eine Wiedergutmachung bei den Menschen leisten, die dadurch verletzt wurden. Im letzten Schritt versuchen die Betroffenen, die Botschaft in Form von sogenanntem "Sponsoring" weiterzugeben.
Henrik hat schon viele Schritte auf dieser Reise gemacht und ist mittlerweile Sponsor für mehrere Menschen, das heißt, er begleitet andere auf ihrem Weg zur Abstinenz. "Ich bin kein Heiliger, ich tue das eigentlich nur, damit ich auch nicht trinke." Mit den Menschen, die er sponsert, liest er zum Beispiel das sogenannte "Blaue Buch", in dem die zwölf Schritte stehen und hilft ihnen, diese umzusetzen.
Meetings ersetzen nicht die Entgiftung oder die Therapie
Rund zwei Millionen Menschen gelten in Deutschland offiziell als alkoholkrank. Die Dunkelziffer ist vermutlich sehr viel höher. Die Anonymen Alkoholiker sprechen bei Alkoholsucht von einer Erkrankung, die sich sowohl körperlich als auch seelisch ausdrückt. Dahinter stecken meist andere Gefühle, bei Henrik war es eine gewisse Unsicherheit, in bestimmten Situationen klarzukommen. Der Alkohol sei lange eine Art Medizin gewesen, erinnert er sich.
Die Meetings der Anonymen Alkoholiker ersetzen keine Entgiftung oder therapeutische Behandlung. Für viele ist es aber die Möglichkeit, sich spirituell mit der Erkrankung auseinanderzusetzen und Wege zur Abstinenz zu finden. Kraft gibt ihnen dabei das Gefühl, nicht allein damit zu sein.
Spirituell, aber nicht religiös
Weil in den zwölf Schritten auch von Gott gesprochen wird, könnten manche Menschen Berührungsängste mit der Gruppe haben, meint Henrik. Er selbst sei nicht religiös.
Jürgen Hoß kennt das hartnäckige Vorurteil, die AA seien eine religiöse Gruppierung. "In Meetings und Diskussionen wird meist von der höheren Macht gesprochen, damit können alle etwas anfangen.“ Für die einen sei das eben Gott, für andere der Glaube an die Gruppe, so Hoß.
Entstanden sind die Anonymen Alkoholiker in den 1930er Jahren in Ohio auf Initiative von William Griffith Wilson, ein New Yorker Börsenmakler und selbstidentifizierter Alkoholiker, und Robert Holbrook Smith, einen lokal ansässigen Arzt. Die Traditionen wurzeln zwar im christlichen Protestantismus, die AA verstehen sich jedoch als überkonfessionell.
Meetings der Anonymen Alkoholiker gibt es nach Angaben der Organisation an rund 2.000 Orten in Deutschland. Etwa 25.000 Menschen besuchen sie mehr oder weniger regelmäßig. Die Zahlen sind Schätzungen, denn die Organisation erhebt keine offiziellen Zahlen.
AA-Treffen an fast 120 Orten in Berlin
Die Meetings haben nach Henriks Ansicht und Erfahrung den wichtigsten therapeutischen Effekt. Im Prinzip sei es möglich, jeden Tag zu einem der Treffen zu gehen. Allein in Berlin geht das nach Angaben der Anonymen Alkoholiker an fast 120 Orten. Am Donnerstag eröffnet in der Stadt auch eine neue Hauptgeschäftsstelle der Organisation.
In Berlin geht das AA-Treffen für heute zu Ende. Zum Schluss wünschen sich alle noch einmal "Gute 24 Stunden". Das Prinzip dahinter: Sie können nur das Heute beeinflussen, aber nicht die Vergangenheit oder die Zukunft.
Sendung: Inforadio, 25.04.2024, 07:45 Uhr