Wahlkreise ohne Bundestagsabgeordnete - Wo die Wahlrechtsreform ansetzt - und welche Folgen sie haben kann
Im Bundestag sitzen aktuell 138 Abgeordnete mehr als vorgesehen. Die Wahlrechtsreform soll das ändern. Dafür könnte es künftig weiße Flecken geben: Wahlkreise ohne Vertreter im Bundestag. Auch in Berlin und Brandenburg. Von J. F. Alvarez-Moreno und O. Noffke
Der aktuelle Bundestag ist das größte frei gewählte Parlament der Welt - mit Abstand. 736 Abgeordnete leistet sich Deutschland, samt Personal, Büros und Ruhegeldern. Das sind deutlich mehr als die 598 Abgeordneten, die der Bundestag eigentlich haben sollte. Seine Sollgröße setzt sich zusammen aus den 299 Direktmandaten, die in den Wahlkreisen entschieden werden; und ebenso vielen Abgeordneten, die über die Landeslisten der Parteien einziehen - mit der Zweitstimme.
Dass sich die reale Größe des Bundestags so weit von ihrem Sollzustand entfernt hat, führt zu einigen Problemen. Das offensichtlichste: Er ist deutlich teurer. Das Mehr an Abgeordneten verlangsamt aber auch die demokratischen Prozesse. Ausschüsse werden größer, Debatten komplizierter.
Prinzipiell zeigen sich alle Parteien im Bundestag darin einig, dass das Parlament deutlich verkleinert werden muss. Trotzdem wird quasi seit Jahrzehnten um eine Lösung für das Problem gestritten. Denn je nachdem, über welchen Hebel die Zahl der Sitze verkleinert werden sollte: Immer hatte eine Partei mehr zu verlieren als eine andere.
Stärkung der Listenplätze
Vor Kurzem nun hat sich der Bundestag zu einer Wahlrechtsreform durchgerungen: Demnach sollen künftig 630 Abgeordnete im Parlament sitzen [tagesschau.de]. Das sind immer noch mehr als eigentlich vorgesehen, aber deutlich weniger als aktuell. Erreicht werden soll dies durch das Streichen der Überhang- und Ausgleichsmandate und den Wegfall der Grundmandatsklausel. Diese Änderungen können große Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestags haben.
Die Linke wäre komplett raus, die CSU müsste zittern
Denn: Hätten die neuen Regeln schon bei der Wahl im September 2021 gegolten, wäre die Linke aktuell gar nicht im Bundestag vertreten. Damals erhielt sie lediglich 4,9 Prozent der Zweitstimmen; scheiterte also an der Fünf-Prozent-Hürde. Aber drei Linken-Politiker:innen konnten ein Direktmandat holen: Gregor Gysi (Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick), Gesine Lötzsch (Berlin-Lichtenberg) und Sören Pellmann (Leipzig II). Zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik waren damit die Voraussetzungen für das Greifen der Grundmandatsklausel erfüllt: Die Linke durfte in Fraktionsstärke einziehen. Neben den drei Direktmandaten bedeutete dies 36 weitere Sitze, die über die Landeslisten hinzukamen.
Würde diese Klausel wie beschlossen künftig wegfallen, hätte die Linke - deren Hochburgen auch in Berlin und Brandenburg liegen - wohl viel zu verlieren. Kein Wunder also, dass ihre Vertreter bereits laut über juristische Wege nachdenken. "Wenn die Ampelkoalition keinen verfassungsrechtlichen Streit riskieren will, muss sie die Prozenthürde auf 3 oder 3,5 Prozent senken", sagte Gregor Gysi am vergangenen Samstag dem "Spiegel". Andernfalls sei die im Grundgesetz verankerte Chancengleichheit der Parteien gefährdet.
Stimmenschmelze im Osten und Süden
Potentiell gefährlich ist der Wegfall der Grundmandatsklausel auch für die CSU. Bei der letzten Bundestagswahl hat sie fast alle Direktmandate in Bayern geholt. Lediglich München-Süd ging an die Grünen. Auf der bayerischen Wahlkreiskarte erscheinen die Christsozialen als unangefochtene Vormacht. Der Blick auf das Zweitstimmenergebnis relativiert diesen Eindruck allerdings. 31,7 Prozent erhielt die CSU vor anderthalb Jahren in Bayern. Bundesweit entfielen allerdings nur 5,2 Prozent auf sie. Gefährlich nah an der Fünf-Prozent-Hürde.
Kein Überhang, kein Ausgleich
Was künftig aber die meisten Parlamentssitze einsparen soll, ist die Abschaffung der Überhang- und Ausgleichsmandate. Diese sind ebenfalls eine direkte - beziehungsweise indirekte - Folge von stark unterschiedlichen Anteilen von Erst- und Zweitstimmen für eine Partei.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate in einem Bundesland erringt, als ihr anhand des Zweitstimmenergebnisses zustehen. Bisher dürfen die Parteien diese Sitze behalten, nach den neuen Regeln soll das nicht mehr der Fall sein. Dann könnte ein Kandidat einen Wahlkreis zwar direkt gewinnen – den Bundestagssitz aber trotzdem nicht bekommen
Am stärksten haben bislang die Unionsparteien und die Sozialdemokraten von dieser Regelung profitiert. Bei der letzten Bundestagswahl holte die CDU zwölf Überhangmandate, die CSU elf, die SPD zehn und die AfD eins. Die wären – mit der neuen Regelung - in Zukunft alle weg.
104 zusätzliche Sitze montiert
Ebenso die Ausgleichsmandate: Diese Regelung wurde vor der Bundestagswahl 2013 eingeführt, um das Ungleichgewicht der Überhangmandate abzufangen. Schließlich führen sie dazu, dass Parteien mit mehr Sitzen ins Parlament einziehen können, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dieses Problem wurde durch die Ausgleichsmandate behoben. Allerdings ist dabei der Bundestag enorm aufgebläht.
Die 34 Überhangmandate bei der letzten Bundestagswahl hatten zur Folge, dass 104 Sitze als Ausgleich für die Überhangmandate im Reichstagsgebäude montiert werden mussten. Davon profitierten abgesehen von der CSU alle Parteien, insbesondere aber die SPD (26) und Bündnis 90/Die Grünen (24). Der CDU wurden 18 zugesprochen, der FDP 16, AfD 13 und die Linke erhielt sieben Sitze als Ausgleich - obwohl sie die Fünf-Prozent-Hürde gerissen hatte.
Direktmandate könnten wegfallen und durch Landeslisten-Mandate ersetzt werden
Angewendet auf das Ergebnis der letzten Bundestagswahl stellt das neue Wahlrecht also 177 Sitze infrage. So deutlich soll das Parlament allerdings nicht schrumpfen. Die geplanten 630 Sitze sollen sich zum einen aus den bisherigen 299 Wahlkreisen zusammensetzen, zum anderen aus 331 Sitzen, die über die Landeslisten vergeben werden - es sei denn, es können Direktmandate aufgrund der oben genannten Neuregelungen nicht vergeben werden. Diese Sitze sollen dann anhand der Zweitstimmenergebnisse besetzt werden.
Sollte sich die seit Jahrzehnten anhaltende Schmelze an Zweitstimmen bei der CSU fortsetzen und könnte die Linke auch künftig nur in wenigen Wahlkreisen punkten, könnte irgendwann der Fall eintreten, dass bei einer Bundestagswahl Dutzende Direktmandate nicht vergeben werden könnten. Ihre Sitze würden dann über die Landeslisten stärkerer Parteien gefüllt.
"Ich habe zugestimmt mit großen Bauchschmerzen"
Direktmandate könnten künftig aber auch verloren gehen, obwohl eine Partei die Fünf-Prozent-Hürde überwindet. Eine Berechnung der "Zeit" [Bezahlschranke] zeigt, wo dies der Fall gewesen wäre, wenn das neue Wahlrecht bereits bei der Bundestagswahl 2021 gegolten hätte. In den Berliner Wahlkreisen Treptow-Köpenick und Lichtenberg gäbe es dann keine Büros von Bundestagsabgeordneten, weder von Direktkandidat:innen noch von den Politiker:innen auf Listenplätzen.
In Brandenburg träfe dies auf den Kreis Märkisch Oderland - Barnim II zu. Simona Koß (SPD) ist dort die Direktkandidatin. Sie hat für die Wahlrechtsreform gestimmt. "Ich habe zugestimmt mit großen Bauchschmerzen", sagte sie nach der Abstimmung dem rbb. Auch in den Wahlkreisen Elbe Elster - Oberspreewald - Lausitz II und Oberhavel - Havelland II würde die SPD keine Direktmandate haben.
Bundesrat muss Gesetz annehmen - dann geht es wohl zum Bundesverfassungsgericht
Koß und ihre Parteikollegen aus der Landesgruppe Brandenburg hätten vorher ihre Bedenken klar geäußert. Zu den Gründen sagte sie: "Wir haben einen klaren Wählerauftrag. Dieses Parlament ist zu verkleinern. Dieser Wählerauftrag ist im Koalitionspapier verankert und dieser Aufgabe haben wir uns zu stellen."
"Die verabschiedete Wahlrechtsreform ist für mich eine Zäsur und ein massiver Angriff auf die demokratische Mitbestimmung", kritisierte jedoch Jens Koeppen, der CDU-Bundestagsabgeordnete aus dem Brandenburger Wahlkreis Uckermark - Barnim I, im Gespräch mit dem rbb nach der Abstimmung. Er befürchte, dass sich die Abgeordneten weiter vom Souverän - also den Wählerinnen und Wählern - entfernten. Parteien würden "noch mehr Einfluss auf die Kandidaten ihrer Liste haben". Diese Kandidaten würden sich entsprechend widerspruchslos anpassen müssen. Den Regierungsparteien gehe es nur darum, über ihre Parteistimme regionale Parteien wie die Linke im Osten oder die CSU in Bayern auszublenden, sagte Koeppen.
Ob es bei der nächsten Bundestagswahl tatsächlich Wahlkreise in der Region geben wird, die nicht im Parlament vertreten sind, lässt sich nur schwer vorhersagen. Grundsätzlich ist das möglich. Insbesondere dort, wo eine Partei Direktmandate holt, aber bei den Zweitstimmen enttäuscht. Bevor das neue Wahlrecht tatsächlich angewendet werden kann, muss aber noch der Bundesrat das Gesetz annehmen. Und sehr wahrscheinlich auch des Bundesverfassungsgerichts, neben der Linken hat auch die CSU angekündigt, gegen die Reform klagen zu wollen.