Berlin-Wahl | Serie "Endstation Demokratie?" - "Ohne Stimme können wir hier nix verändern"
42 Prozent der Bewohner des Wahlkreises Mitte 6 sind Ausländer - und deswegen von Wahlen weitestgehend ausgeschlossen. Und das, obwohl manche seit Jahrzehnten hier leben. Wie ist das, wenn man zu Hause nicht mitentscheiden darf? Von Haluka Maier-Borst
Berlin hat gewählt. Und trotzdem sind viele Menschen nicht im neuen Abgeordnetenhaus repräsentiert. Weil sie nicht zur Wahl gegangen sind. Weil sie ihre Stimme einer Partei gegeben haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist. Oder weil sie gar nicht wählen durften.
Es gibt viele Faktoren, wieso Menschen aus einem Teil der Stadt unzureichend im Parlament vertreten sind. In der Serie "Endstation Demokratie?" fahren wir in die Extrembeispiele für diese Faktoren und reden mit den Menschen vor Ort. Fragen, wie es dazu kommt, was das mit ihnen macht und was sich aus ihrer Sicht ändern müsste.
3. Folge: Gesundbrunnen. Wenn man zu Hause nur Gast ist.
Dunkelrote Granatäpfel, hellgrüner Kopfsalat und leuchtende Orangen liegen in der Auslage vor einem kleinen Gemüseladen im Ortsteil Gesundbrunnen. Und daneben steht Orhan in seinem verwaschenem blauen Pullover. Sieht, wie heute das Beton-Grau und das Himmel-Grau der letzten Winterwochen aufbricht und die Farben zurück in den Kiez kommen.
Nein, man muss das nicht romantisieren. Es riecht trotzdem nicht nach Frühling, denn am Gesundbrunnen riecht es meist nach Ruß, Straße oder billigem Alk, den irgendwer verkippt hat. Oder nach Dönerresten, um die sich Tauben scharen. Das weiß ich, weil ich hier selbst lebe. Aber ja, die Sonne scheint, Menschen sitzen draußen bei Kaffee und Cay. Oder sie wuseln sich durch die Straßen am Tag vor Ramadan, um die letzten großen Einkäufe zu erledigen.
Seit fast 50 Jahren lebt Orhan an diesem Ort, der für die meisten immer noch "Wedding" ist und eben nicht Gesundbrunnen. Er arbeitet mal hier und da, so wie zum Beispiel gerade jetzt im Gemüseladen von Freunden. Nur eines kann Orhan nach wie vor hier nicht: Wählen. So wie fast die Hälfte aller Einwohner des Abgeordnetenhaus-Wahlkreis Mitte 6, der eben im Ortsteil Gesundbrunnen liegt.
Dabei hätte er einiges, wo er gerne mitreden würde. Er würde mehr Rechte für andere Ausländer haben wollen. Er findet, dass die Mieten und alles andere zu teuer geworden ist und man da dringend etwas machen müsste. "Vor 20 Jahren war das ein entspanntes Leben hier. Aber aktuell ist vieles nicht einfach", sagt er. Und dass die Grünen hier überall sich so sehr für Fahrradstreifen einsetzen? Findet er Quatsch, wie viele hier.
Nur wenige Kilometer entfernt vom "richtigen" Mitte gelegen ist Gesundbrunnen sehr anders als der Kosmos rund um den Rosenthaler Platz. Hier in Mitte 6 gibt es zwei Trennlinien, die sich durch die Bevölkerung ziehen. Die erste ist auf dem Papier die einfacher erklärte, rechtliche, statistische. Nämlich die Tatsache, dass 42 Prozent der Menschen hier Ausländer sind und entsprechend kein Wahlrecht haben oder als EU-Bürger:innen nur bei Kommunalwahlen mitbestimmen dürfen.
Die andere Trennlinie ist, wie sehr sich Menschen hier integriert haben und fühlen. Wie gut sie Deutsch sprechen, wie gut sie sich auskennen mit all den Normalitäten und Absurditäten der deutschen Verwaltung. Und nicht oft liegen beide Trennlinien übereinander.
Denn klar, es gibt hier Menschen, die auf die Frage "Wohnen Sie hier?" nur in gebrochenem Deutsch antworten können. Verzweifelt sich festhalten an einem Notfallkasten an Satzfetzen, der nicht unbedingt als Antwort Sinn macht. "Weiß ich nicht.", "Muss ich mein Chef fragen." oder "Sorry, kein Deutsch" sind eher unbefriedigende Antworten auf die Frage nach dem Wohnort. Aber immer wieder spreche ich auch mit Gruppen, in denen der eine wählen kann und der andere nicht. Obwohl alle nahezu baugleiche Biografien haben.
Und dann gibt es auch Fälle wie Ceyneb und Yasmine, beide 40, die geschäftig in Sneakern und Hoodie über die Badstraße laufen mit jeweils einem Kaffee in der Hand.
Die Zwillinge wohnen seit mehreren Jahren im Bezirk, sind in Braunschweig groß geworden. Ceyneb arbeitet für den Deutschen Bundestag, Yasmine für das Auswärtige Amt. Beide arbeiten also im Herzen der deutschen Demokratie. Wählen dürfen sie aber nicht, weil sie nur die türkische Staatsbürgerschaft haben.
"Wir denken beide nicht viel darüber nach, dass wir nicht wählen können. Weil selbst mit unseren Wahlstimmen könnten wir gefühlt eh nicht viel ändern", sagt Yasmine. Ceyneb sagt: "Klar, ich hab es akzeptiert. Aber natürlich finde ich, dass hier für Sachen Geld ausgegeben wird, die uns nicht wichtig sind." Trotzdem wollen Beide den deutschen Pass nicht beantragen, um wählen zu können.
Und dann geht es wieder um den Sinn und Unsinn von Fahrradstreifen. Gerade die Grünen kommen mit ihren Prioritäten bei den Nicht-Wahlberechtigten eher schlecht weg – und das obwohl ihre Kandidatin Tuba Bozkurt hier das Erstmandat gewonnen hat.
Die Grünen, ja, die Politik im Allgemeinen sollten sich mal mehr um die Kinder kümmern, mehr um die Schulen, sagt auch einige Hundert Meter weiter Deliar. Er ist 18 Jahre alt und ist als Kurde 2015 aus Syrien geflohen. Seit sieben Jahren wohnt er nun hier. Im Gegensatz zu Ceyneb und Yasmine will er aber möglichst bald mitwählen dürfen. Deliar glaubt daran, dass Wahlen etwas ändern. Und er kann auch nicht verstehen, wie jemand nicht zur Wahl geht, obwohl er oder sie es könnte.
Klar, natürlich würden Politiker oft nicht das machen, wofür man sie gewählt hat. Aber: "Ohne Stimme können wir nix verändern. Ohne Stimme keine Mitsprache. So einfach ist das", sagt Deliar. Den deutschen Pass hat er schon beantragt. Er will zu jenen gehören, die künftig mitentscheiden können, hier im Gesundbrunnen.