Wahlvorbereitungen in Berlin - Wie zwischen Staub und Zettelbergen Demokratie entsteht
Drei Wochen vor dem Wahltag in Berlin laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg ist ein schummriger Keller zur Schaltzentrale geworden - vollgestopft mit Material, ohne Sonnenlicht - aber mit großen Gefühlen. Von Franziska Hoppen
So viel Verantwortung möchte eigentlich keiner haben. Aber Rolfdieter Bohm macht es freiwillig. Er ist ehrenamtlicher Bezirkswahlleiter für Friedrichshain-Kreuzberg, neben seinem Job als Rechtsamtsleiter. Heißt: Er muss dafür sorgen, dass die Wahlen dieses Mal fehlerfrei laufen.
Das ist schon unter normalen Umständen fast unmöglich, denn Wahlen werden von Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt, nicht von hauptberuflichen Wahlfachleuten. So ist es vorgeschrieben, so muss es sein, denn: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Allerdings passieren, wo Menschen arbeiten, auch menschliche Fehler. Bei der letzten Wahl 2021 so gravierende, dass nun noch einmal alles auf Anfang muss. Aber diesmal haben Bohm und sein Team statt einem Jahr nur drei Monate Zeit, alles - und alles besser - vorzubereiten: mehr Wahlkabinen, mehr Stimmzettel, mehr Wahlhelfer, intensiveres Training, während das Bezirksamt irgendwie weiterlaufen muss. Ein Marathon in viel zu wenig Zeit.
Es geht um alles
Zum Glück ist Bohm ein stoischer Typ. Jurist, ex-Richter, nüchtern. Nur einmal wurde er fast ein bisschen emotional, in der "Logistikzentrale" des Bezirks, wie er sie nennt. Ein Kellerraum ohne Fenster, staubig. Aus den Rohren hört man, wenn irgendwo im Haus die Klospülung geht. An diesem geheimen Ort lagert der Bezirk seine Wahlutensilien: Urnen, Koffer, Hand-Desinfizierer.
Geheim ist er, weil es keine Alarmanlage gibt, um die Sachen zu schützen. "Alarmanlagen sind teuer", sagt Bohm. "Und Wahlen sind nur alle paar Jahre." Wer hier arbeitet, muss Stillschweigen bewahren.
Im schummrigen Licht von Baustrahlern bereiten knapp zehn befristet Beschäftigte alles für die Wahllokale vor, falten Umschläge, zählen Stifte ab. Im Hintergrund läuft das Radio. Einmal pro Stunde fahren alle mit dem Fahrstuhl hoch: Zehn Minuten Sonnenlicht, frische Luft. Dann geht’s wieder runter.
Es ist der größte Raum, den Friedrichshain-Kreuzberg zu bieten hat. Alle anderen werden für den Amtsbetrieb gebraucht, der größte Sitzungssaal derzeit für die Erfassung von Geflüchteten. Also stand Bohm in diesem Keller, hüfttief zwischen Kisten voller Flaggen: Berlin, Deutschland, Europa. Nach Vorschrift eingerollte Stoffpakete für jedes der 163 Präsenzwahllokale. Und hier war plötzlich greifbar, warum er diese anstrengende, fast irrwitzige Arbeit macht, die sein Herz trotz allem höher schlagen lässt: "Für ein Juristenherz ist eine Wahl (...) der entscheidende Vorgang! Die Flaggen symbolisieren: Ohne die Wahl gebe es diese Institutionen gar nicht."
Es ist leicht, sich im Kleinklein der Wahlvorbereitungen zu verlieren, zwischen Umfragen, Straßenwahlkampf und Koalitionsbingo. Aber Bohm bringt es auf den Punkt: ohne Berlinerinnen und Berliner keine Demokratie. Und jede Heftzwecke, die in seinem Keller ausgezählt wird, jede Rolle Tesa-Film und jedes Gummiband sorgen dafür, dass die Bürger wählen können und diese Stadt demnächst ein neues Parlament hat und einen neuen Senat.
Bezahlbarer Wohnraum, saubere Luft, bessere Verwaltung hin oder her: Ohne befristet Beschäftigte, ohne Wahlleiter wie Bohm, könnten die Kreuzchen gar nicht erst gemacht werden.
Kleinteilig und trocken
Oft ist Wahlvorbereitung trocken. Am Anfang steht der Bezirkswahlausschuss. Bohm rief ihn im November ein. Peinlich genau wird überprüft, welche Namen auf die Stimmzettel kommen. Zwar treten bei einer Wiederholungswahl eigentlich 1:1 dieselben Kandidaten an. Doch in Friedrichshain-Kreuzberg war ein Kandidat verstorben, andere weggezogen.
Das Nachrückverfahren ist kompliziert. Bohm und seine Kollegen, die sonst komplexe juristische Fragen beackern, mussten buchstabieren. Passiert ein Fehler, stehen Direktkandidaten auf dem Papier, die es gar nicht gibt. Das alles, während die Schöffenwahl vorbereitet werden will und die IT gewartet wird - wie jeden Mittwoch im Amt.
Rund zehn Prozent der gut 2.000 Beschäftigten sind für Arbeiten wie diese abbestellt, 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Manchmal müssen sie Dinge tun, die nerven. Wenn zum Beispiel die Software beim Drucken der Wahlscheine streikt. Man kann entweder von mehreren Servern über einen Drucker drucken, oder von einem Server über mehrere Drucker, nicht aber so, dass kein unendlich langsames Nadelöhr entsteht. Es dauert - bei 180.000 Wahlberechtigten.
Kalt und schmutzig
Wahlvorbereitung kann auch kaltnass sein. Diesmal hat Berlin die Stimmzettel extra früh bestellt, extra bei einer Druckerei im Rheinland, auf Wahlen spezialisiert, extra mehr als sonst. 140 Prozent - damit bloß nirgendwo die Zettel ausgehen. Über mehrere Tage hinweg wurden in dem Werk die Unterlagen für die Bezirke gedruckt: ein Bezirk pro Tag, nachts wurden die Druckplatten gewechselt, damit keine Verwechslungen passieren.
Pro Tag wurde ein Lkw nach Berlin geschickt, mit idiotensicherem Farbsystem: Die Kartons für Friedrichshain waren hellgrün, die für Kreuzberg dunkelgrün, jeder Bezirk eine andere Farbe. So sollte schon beim Ausladen klar sein, ob die Paletten richtig waren. Der Deal: Alle Bezirke sind bis zum 28. Dezember beliefert. Genug Zeit vor Briefwahlbeginn am 2. Januar, die Stimmzettel doppelt und dreifach zu prüfen.
Bloß kam und kam die Ladung für Friedrichshain-Kreuzberg nicht. Lkw 1: Motorschaden. Lkw 2: Blitzeis. Bohm wartete und wartete. Die Helfer der Druckerei vor Ort, die Helferin des Landeswahlamts und Kollegen von Bohm - der dreifache Boden quasi - bekamen kalte Zehen. Aus 9 Uhr früh wurde 19 Uhr abends. Dann musste bis in die frühe Nacht durch den Matsch gehievt, geschoben und gewuchtet werden.
Danach war keine Kraft mehr fürs Zählen. "Das wollen wir mit frischen grauen Zellen machen", sagte Bohm. Jetzt bloß keine Fehler. Also dann am nächsten Tag, Termine rumschieben, alles öffnen, durch die Finger gleiten lassen: Ist wirklich drin, was draufsteht? 2021 waren Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf in Friedrichshain Wahllokale gelangt und ausgefüllt worden. Diesmal: aufatmen, alles richtig.
Rechenaufgaben
Wahlvorbereitung ist auch Kleinstarbeit. Zum Beispiel gehören in die Wahlkoffer, die im geheimen Keller gepackt werden, jeweils genau zwei Farbstifte, ein Anspitzer, ein Fingerfeuchter sowie "circa zehn Büroklammern". Für Briefwahlbüros kommen "je zehn Brieföffner" dazu. Das alles muss bestellt, gezählt, sortiert werden.
Am Ende von befristet Beschäftigten wie Sabine Dopheide. Die 72-Jährige wollte sich bloß etwas zur Rente dazu verdienen. Jetzt staunt sie. "Ich hätte nie gedacht, was das für ein Aufwand ist", sagt Dopheide. "Was für eine Materialschlacht. Unfassbar."
Ihr gegenüber arbeitet der 44-jährige Clemens Schittko, zuletzt als Autor unterwegs. "Man denkt, eine Wahlkabine ist leicht aufgestellt", sagt er. "Was wir hier wochenlang, monatelang machen, sieht man ja nicht. 100 kleine Materialien, die zusammengetragen werden." An die schummrige Werkbank im Keller hat sich Schittko mittlerweile gewöhnt. "Ganz gemütlich", sagt er. Die "fast kontemplative Ruhe" beim Kleben und Zählen gefällt ihm. Er macht’s bereits zum zweiten Mal - und "für die Demokratie", wie er sagt.
Auf ein drittes Mal Vorbereiten in so kurzer Zeit können dann aber alle verzichten. Als Jurist blickt Bohm mit Neugierde auf das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Als Wahlleiter mit Sorge. Bürger und Abgeordnete haben sich über die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts beschwert, die Wahl in komplett Berlin zu wiederholen. Sie fanden das Urteil nicht substanziell genug.
Und anscheinend waren ihre Argumente gar nicht so schlecht. Noch beraten die Karlsruhe Richter. Nehmen sie die Beschwerde an, müsste die Wahlvorbereitung pausiert werden, wäre wahrscheinlich viel umsonst gewesen, müsste vielleicht nochmal alles auf Anfang gehen.
Aber Bohm, mit dem Juristenherz, bleibt erstmal stoisch.