Landesverfassungsgericht - Berlin-Wahl muss komplett wiederholt werden
Zum ersten Mal in der Geschichte muss eine Berliner Wahl wiederholt werden. Das hat das Landesverfassungsgericht am Mittwoch entschieden. Grund sind die zahlreichen Pannen bei der Wahl 2021. Nun muss Anfang 2023 erneut gewählt werden.
Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 26. September 2021 muss komplett wiederholt werden. Das hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin am Mittwoch entschieden.
Wie Gerichtspräsidentin Ludgera Selting erklärte, werden die Wahlen im gesamten Stadtgebiet für ungültig erklärt. Betroffen sind ist neben der Abgeordnetenhauswahl auch die Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen, die am selben Tag stattfanden. Nicht betroffen ist der Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co enteignen", über den ebenfalls am Wahltag abgestimmt worden war.
Wie der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler am Nachmittag im Social-Live von rbb|24 bestätigte, wird die Wahl am 12. Februar 2023 wiederholt. Die offizielle Bekanntgabe des Termins erfolge am kommenden Freitag im Amtsblatt. Laut Gesetz hat das Land Berlin nach der Entscheidung vom Mittwoch lediglich 90 Tage Zeit, um die Wahl zu wiederholen.
Fragen und Antworten zur Wiederholungswahl im Video:
Die Entscheidung war so erwartet worden, nachdem Gerichtspräsidentin Selting bei einer mündlichen Verhandlung bereits erklärt hatte, dass angesichts der zahlreichen Wahlpannen eine "vollständige Ungültigkeit" der Wahl in Betracht komme. Laut Verfassungsgerichtshof muss das Urteil nicht durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden, wie zuvor die Senatsinnenverwaltung angeregt hatte. Zur Begründung sagte Selting, das Landesverfassungsgericht sei mit seinem Votum nicht von der bisherigen Rechtsprechung der Karlsruher Richter abgewichen.
Am 26. September 2021 war es zu schweren Wahlpannen gekommen. Neu gewählt wurden an diesem Tag Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksparlamente. Hinzu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Nebenher lief allerdings auch der Berlin-Marathon. Es kam zu massiven Problemen: So wurden falsche Stimmzettel ausgegeben oder es fehlten Stimmzettel, es gab zu wenige Wahlurnen, Wohllokale wurden zeitweise geschlossen oder es gab lange Schlangen davor. Zum Teil stimmten Wähler noch nach 18 Uhr oder etwa auf eilig kopierten Stimmzetteln ab, weil Nachschub ausblieb.
Die Gerichtsentscheidung vom Mittwoch stützte sich nun im Wesentlichen auf Wahlniederschriften der Urnenwahllokale und rund 100 Stellungnahmen von Beteiligten, wie Selting sagte. Alleine die aus diesen Unterlagen hervorgehenden Wahlfehler seien ausreichend, um die Wahl für ungültig zu erklären. Außerdem lasse sich nicht mehr feststellen, wie viele Menschen genau ihre Stimme wegen der Pannen nicht abgeben konnten. Problematisch sei auch gewesen, so das Gericht, dass Menschen teilweise noch nach 18 Uhr wählen konnten, als bereits erste Prognosen bekanntgegeben wurden.
Der Livestream zur Gerichtsentscheidung zum Nachschauen:
Das Gericht sei sich im Klaren über die Tragweite, sagte die Gerichtspräsidentin. Doch die Wahlfehler seien zu zahlreich und zu gravierend gewesen. Nur wenn die Wahl komplett wiederholt werde, könne eine Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen gewährleistet werden, die den rechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen genügt.
Die Wahl nur teilweise zu wiederholen, lehnte das Verfassungsgericht ab. Das gebe einer verhältnismäßig kleinen Gruppe an Wählerinnen und Wählern zu viel Einfluss auf das Gesamtergebnis, hieß es. Die Mandatsrelevanz müsse dabei gar nicht mathematisch belegt sein, so Selting. Die schiere Menge an Fehlern reiche aus, um pauschal festzustellen, dass die Sitzverteilung beeinflusst wurde.
In der Begründung für seine Entscheidung lieferte das Gericht auch Zahlen als Beleg. So hätten zum Beispiel allein bei der Zweitstimme mindestens 20.000 Menschen ihre Stimmen nicht abgeben können. Der AfD hätten bereits 2.000 Stimmen mehr einen weiteren Sitz im Abgeordnetenhaus gebracht, den Grünen fehlten 10.000 Stimmen für einen weiteren Sitz. Der FDP hätte sogar schon eine dreistellige Zahl von Stimmen allein in Charlottenburg-Wilmersdorf geholfen.
Die Schuld gab das Gericht den für die Wahldurchführung zuständigen Verwaltungen. In einigen Wahllokalen seien die Bedingungen unzumutbar gewesen, so Selting. Die demokratischen Grundsätze wie das Recht auf freie und gleiche Wahlen sei von Anfang an gefährdet gewesen. Dabei gehe es nicht nur um die mehr als 5.000 nicht ausgeteilten oder die rund 4.000 falschen Stimmzettel am Wahltag selbst - schon die mangelhafte Vorbereitung der Wahlen sei ein schwerer Fehler gewesen, sagte Selting. So seien nicht genug Wahlkabinen eingeplant worden, auch hätten die zuständigen Stellen zu wenig Zeit für die Stimmabgabe veranschlagt. Demnach waren pro Person drei Minuten Wahlzeit veranschlagt worden - bei sechs Stimmen und fünf Wahlzetteln völlig unrealistisch, so Selting. Den Beweis hätten die Organisatoren der Wahl noch am Wahltag selbst erbracht: Weil sich mancherorts lange Schlangen bildeten, wurden zum Teil eilig weitere Kabinen herangeschafft. Die Erklärung, man habe wegen der Pandemie-Auflagen mit weniger Präsenz- und mehr Briefwählern gerechnet, ließ die Gerichtspräsidentin nicht gelten.
Wie viele Menschen genau wegen der zwischenzeitlich geschlossenen Wahllokale oder fehlenden Stimmzettel nicht gewählt hätten, sei nicht mehr exakt festzustellen . Auch sei unklar, wie viele Menschen unter dem Einfluss erster Hochrechnungen nach 18 Uhr abgestimmt haben. Etwa die Hälfte der Wahllokale sei nach 18 Uhr noch geöffnet gewesen - zu viele, um von vereinzelten Fehlern zu sprechen.
Um Pannen wie bei der vergangenen Wahl zu vermeiden, sollen bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den BVV mehr Wahlhelfer: mindestens 38.000 statt 34.000 im Vorjahr. Sie sollen besser geschult werden und eine deutlich höhere Entschädigung erhalten. In Wahllokalen sollen zudem mehr Wahlurnen stehen als beim letzten Mal.
Auch eine Wiederholung der Wahl zum Bundestag ist nötig - zumindest für einen Teil der Berlinerinnen und Berliner: Der Bundestag beschloss in der vergangenen Woche auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP, dass sie in 431 Berliner Wahlbezirken wiederholt werden muss. Die Parteien im Bundestag gehen aber davon aus, dass der Beschluss vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten wird.
Sendung: rbb24 Inforadio, 16.11.2022, 12 Uhr
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