Tote und neue Wähler:innen - Welche Parteien statistisch von der Wiederholungswahl in Berlin profitieren
Anderthalb Jahre nach der letzten Wahl hat sich nicht nur die politische Landschaft verändert. Inzwischen sind manche Wähler:innen nicht mehr unter uns und andere neu dabei. Für die "Volksparteien" könnte das ein Problem sein. Von Haluka Maier-Borst
Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und CDU-Urgestein, wird nachgesagt, auf dem Sterbebett einen politischen Sinneswandel gehabt zu haben. Seine Getrauten bat er, alles vorzubereiten, um in die SPD einzutreten.
Man tat wie geheißen und war erschüttert. So sehr, dass man sich nicht verkneifen konnte, zu fragen, wieso der Altkanzler jetzt noch seine Partei verlassen müsse. Darauf antwortete Adenauer: "Besser einer von denen stirbt als einer von uns, oder?"
Nun, wieso erzählen wir Ihnen diese wahrscheinlich erfundene Geschichte? Unter anderem, weil bei der nächsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus CDU und SPD viele Wählerinnen und Wähler an den Tod verloren haben werden.
Nach rbb|24-Schätzungen können etwa 18.500 frühere Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz nicht mehr bei den beiden Volksparteien setzen, weil sie seit der Abgeordnetenhaus-Wahl 2021 verstorben sind.
Doch wie kommen wir zu diese Zahlen? Zunächst haben wir uns angeschaut, wie viele Berlinerinnen und Berliner 2020 und 2021 mit deutscher Staatsbürgerschaft in welchem Alter verstorben sind.
Und weiter haben wir uns angeschaut, wie Menschen in all diesen Altersgruppen gewählt haben. Zusammen genommen erlaubt das eine Abschätzung darüber, wie viele Wählerinnen und Wähler der jeweiligen Parteien inzwischen verstorben sind.
Und genau diese Kombination aus Sterbe- und altersbezogener Wahlstatistik zeigt, dass eben vor allem CDU und SPD Teile ihrer Wählerschaft verloren gehen. Mehr als 60 Prozent der Wähler:innen über 70 Jahre gaben ihre Stimme im Herbst 2021 den beiden ehemaligen Volksparteien. Die Politologin Anne Küppers von der Universität Jena sagt dazu: "Diese klare Parteientreue, von der die Volksparteien früher gezehrt haben, die ist eine Sache der älteren Generationen und stirbt tatsächlich nach und nach weg."
Potenzielle Neuwähler:innen
Mit den Daten zum Wahlverhalten nach Alter lässt sich aber auch das Gegenstück zu der Totenrechnung machen. Es lässt sich abschätzen, wie viel die Parteien dazu gewinnen, weil bei der Wahl 2021 Jugendliche noch nicht volljährig waren und wählen durften, die es nun anderthalb Jahre später können.
Was es dazu braucht, ist die letzte Bevölkerungsstatistik aus dem Juli 2022 und eine vereinfachte Abschätzung: Zum einen wird es Leute geben, die im Juli vorigen Jahres 18 Jahre alt waren, aber im September 2021 noch 17. Und zum anderen wird es Leute geben, die zum Zeitpunkt der Statistik 17 waren, aber bis zum Tag der Wahlwiederholung 18 werden.
Das sind schätzungsweise etwa 32.000 Neuwähler:innen. Geht man dann noch stark vereinfacht davon aus, dass diese Neuwählerinnen und Neuwähler genauso wählen würden wie ihre Altersgenossen, die 2021 wählen durften, so profitieren zunächst die Grünen und danach der große Block der "sonstigen" Parteien von der Wiederholungswahl.
Insgesamt würden diese beiden Effekte – verstorbene und neue junge Wähler – alleine dazu führen, dass CDU und SPD verlieren und Grüne und sonstige Parteien dazugewinnen, wenn auch beides in zugegeben geringem Maße.
Die Ergebnisse der beiden Beispielrechnungen spiegeln einen Trend wieder, den auch Politologen seit einer Weile verfolgen. Ina Weigelt vom Deutsches Jugendinstitut bestätigt, dass auch im Bundestrend die Grünen bei den Jungen bislang die Nase vorne hatten. Und das habe auch mit den Themen zu tun. "Natürlich ist der Klimanwandel etwas, das den Jüngeren nahe liegt. Zudem würde ich vermuten, dass die Grünen besser auf Social Media unterwegs sind als die Volksparteien", sagt Weigelt.
Und auch ihre Kollegin Küppers erklärt, dass die Grünen aktuell bei den Jungen punkten – gerade auch nach und trotz der jüngsten Debatte um Lützerath [tagesschau.de], wo der Energiekonzern RWE nun unter dem nordrhein-westfälischen Dorf Kohle abbauen darf. "Ja, es gab Kritik am Verhalten der Grünen, weil sie nicht den Tagebau gestoppt haben. Aber wir sehen jetzt keine Anzeichen dafür, dass der Partei darum in Scharen die Wählerinnen und Wähler weglaufen", sagt Küppers.
Und was ist mit den Zugezogenen?
Die altersbedingten Zuwächse und Verluste bei den Parteien sind aber nicht die einzigen Faktoren. Gerade in Berlin, der Stadt der Zugezogenen, stellt sich auch die Frage, wie viele Leute nach Berlin gezogen sind oder aus Berlin weg. Ordnen wir hier wieder die Wählerschaft gemäß Alter zu, so sind ebenfalls CDU und SPD die Verlierer. Interessant ist aber auch, dass die FDP fast gar keine Wählerinnen und Wähler netto verliert, weil laut dieser Modellrechnung genau so viele junge wahrscheinliche FDP-Wählerinnen und -Wähler neu herziehen wie ältere wegziehen.
Die politische Grenze des Modells
Lässt sich aber nur über das Alter von Zu- und Wegziehenden ihre Parteipräferenz errechnen? Daran kann man durchaus zweifeln und insofern erreicht auch unsere Modellrechnung hier eine Grenze. Denn beim Tod kann man vereinfachend davon ausgehen, dass gleichalte Grünen-, CDU-, AfD- oder sonstige Wähler:innen ähnlich wahrscheinlich im entsprechenden Alter sterben. Auch gleichalte potenzielle junge Neuwähler:innen der SPD werden statistisch nicht langsamer 18 als die der FDP oder der Linken.
Aber wenn es um Zu- und Fortzüge geht, könnte es durchaus sein, dass die Parteipräferenz eine Rolle spielt. Wenn, um mal ein Wahlkampfthema aufzunehmen, durch steigende Mieten das Einkommen bestimmt, wer sich Berlin noch leisten kann, dann ziehen wahrscheinlich bestimmte Wählertypen weg. Oder bestimmte Wählertypen wollen lieber im Speckgürtel wohnen als in der lärmenden Stadt. Entsprechend könnte es sein, dass ein 35-jähriger Linken-Wähler eher wegzieht als eine 35-jährige FDP-Wählerin. Oder umgekehrt.
Und überhaupt geht die Modellrechnung davon aus, dass die letzte Wahl viel darüber aussagt, wie es auch dieses Mal laufen wird. Es kann aber natürlich sein, dass Themen wie Mieten, Klima, Kriminalität und dergleichen bei der Wiederholungswahl dazu führen, dass Wählerinnen und Wähler anders abstimmen als 2021, ebenso wie die Politik der letzten anderhalb Jahre. Auch Weigelt vom Jugendinstitut sagt: "Die treuen Wähler und Wählerinnen, die ein Leben lang nur eine Partei wählen, die gibt es bei den jüngeren Generationen kaum noch." Und vielleicht ist das auch ganz beruhigend für eine Demokratie. Dass mehr als nur Tod und Volljährigkeit über das Wahlergebnis entscheiden.