Berlin-Wahl | Serie "Endstation Demokratie?" - "Durch zähe Bürokratie kann sich echt wenig ändern"
Auf den ersten Blick hat der Wahlkreis Mitte 1 mit 68 Prozent Wahlbeteiligung kein Demokratieproblem. Doch ein "Systemfehler" führt dazu, dass hier jede sechste Stimme verloren geht. Von Haluka Maier-Borst
Berlin hat gewählt. Und trotzdem sind viele Menschen nicht im neuen Abgeordnetenhaus repräsentiert. Weil sie nicht zur Wahl gegangen sind. Weil sie ihre Stimme einer Partei gegeben haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist. Oder weil sie gar nicht wählen durften.
Es gibt viele Faktoren, wieso Menschen aus einem Teil der Stadt unzureichend im Parlament vertreten sind. In der Serie "Endstation Demokratie?" schauen wir auf die Extrembeispiele für diese Faktoren und reden mit den Menschen vor Ort. Fragen, wie es dazu kommt, was das mit ihnen macht und was sich aus ihrer Sicht ändern müsste.
2. Folge: Mitte, wo die Fünf-Prozent-Hürde zuschlägt.
Das Demokratie-Loch dieser Woche beginnt an den Stufen des Reichstagsgebäudes und endet an der Bernauer Straße, wo einst die Mauer verlief. Im Loch steckt viel von dem, was Touristen in Berlin sich gern anschauen: Dom, Pergamon, Naturkundemuseum, Brandenburger Tor. Latte-Macchiato-Flair am Rosenthaler Platz und Großstadtrauschen an der Friedrichstraße. Und in diesem Loch namens "Abgeordnetenhaus-Wahlkreis Mitte 1" steckt die unschöne Wahrheit, das nirgendwo sonst in Berlin so viele Stimmen für die Katz waren wie hier.
Jede sechste Stimme entfiel auf eine Partei, die es am Ende nicht ins Abgeordnetenhaus schaffte. Macht 3.500 Mitte-Bewohnende oder 14 Trams voll mit Menschen, die nicht repräsentiert werden. Aber laufen diese Menschen überhaupt zu Fuß durch ihre Kieze, so dass man sie fragen könnte, was sie von dem Status Quo halten? Der erste Verdacht ist: Nein.
Ich muss mich oft mit "Sorry, I don’t speak German" oder "Ich wohn' hier nicht, ich geh' hier nur was essen" begnügen. Mitte-1-Bewohnende sind scheue Wesen. Und die, die man findet, sind die langweiligen. Also die, deren Partei es ins Parlament geschafft hat. Habe ich mich mit den verlorenen Stimmen verrechnet? Will hier keiner seine Niederlage zugeben? Oder sind die Interessanten genau jene gut gekleideten Menschen, die mit Headset an mir vorbeirennen und mein "Entschuldigen Sie" mit Kopfschütteln quittieren?
Nach einigem Rumgefrage finde ich dann aber doch einen Betroffenen. Paul, 34, ist eine der auskunftsfreudigen Ausnahmen. Er wohnt in Mitte, nimmt sich Zeit fürs Gespräch und fürs Foto. Paul muss aber auch erstmal überlegen, ob seine Partei es denn ins Parlament geschafft hat. Er fragt mich also, wie das denn jetzt mit den Piraten sei. Die haben es nicht ins Parlament geschafft, antworte ich. Findet er nicht so schlimm, steckt die Hände in die graue Weste und lehnt sich ein wenig zurück. "Mir war wichtig, dass ich meine Bürgerpflicht erfülle und das habe ich durchs Wählen ja", sagt er.
Erst auf Nachhaken gibt er zu, dass er schon unzufrieden sei mit dem Status Quo. "Ich will nicht sagen, es ist egal, was man wählt. Aber mein Eindruck ist schon, dass durch die zähe Bürokratie sich echt wenig ändern kann." Neue Impulse durch neue Parteien seien schwierig. Zum einen, weil die Fünf-Prozent-Hürde sie kaum ins Parlament kommen lasse. Und zum anderen, selbst wenn es ihnen gelinge, sie wirklich schwer etwas durchzusetzten. Eben wie bei den Piraten.
Ähnlich sieht es auch ein paar Straßen weiter eine Frau mit Brille, Wintermantel und rot-blonden Locken. Mathilda, 33, spaziert mit Freunden durch ihren Kiez und sagt, sie habe zwar eine Partei gewählt, die es ins Abgeordnetenhaus geschafft hat. Aber nur weil sie eben nicht wollte, dass ihre Stimme verloren gehe. "Hätten die kleinen Parteien auch eine Chance, hätte ich mich auch mehr mit deren Programm auseinandergesetzt und wohl auch eine von denen gewählt."
Wie man das ändern könnte, da könne sich Mathilda vieles vorstellen. Mehr Volksentscheide, zum Beispiel. Ein anderes Wahlsystem mit Ersatzstimme für den Fall, dass die eigentliche Partei der Wahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, wie es zum Beispiel die Partei Volt [voltdeutschland.com] vorschlägt. "Klingt schon kompliziert in der Umsetzung, aber natürlich würde ich mich eher trauen jemanden zu wählen, der es womöglich nicht ins Parlament schafft. Und vielleicht reicht es dann doch", sagt sie.
Und dann bringt Mathilda etwas zur Sprache, das man in Mitte nicht vermuten würde und doch fast alle Befragten sagen. Dass auch sie das Gefühl habe, dass die Politik sich zu wenig um ihre Alltagsprobleme kümmere. "Ich habe Freunde, die gehören klar zur Mittelschicht und haben trotzdem angesichts der Inflation und Kündigungswellen Sorgen davor, in die Armut abzurutschen. Und ich sehe nicht, dass die Politik dagegen etwas macht", sagt sie. Immer wieder kommt der Vorwurf hoch, es ginge um Posten, Prestige und Klientelpolitik. Aber selten um das große Ganze.
Nur, was macht das mit der Mittel- bis Oberschicht, wenn die Politik aus ihrer Sicht nicht abliefert? Vielleicht erklären die möglichen Optionen zwei andere Fünf-Prozent-Verlierer in Mitte.
Da ist Maik, 49, der sagt, er habe schon seit einer Weile mit Berlin – oder wie er es nennt "Takatuka-Land" – abgeschlossen. Die Mieten würden steigen und die Freiräume immer kleiner werden, doch der Senat kümmere sicht nicht um diese Probleme. Gleichzeitig nehme die Bürokratie zu. Entsprechend bleibe ihm nur, möglichst oft dem Ganzen zu entfliehen. "Ich kann mir leisten, das hinter mir zu lassen. Ich habe noch ein Haus im Havelland, da habe ich meine Ruhe. Und ja, natürlich bin ich da sehr priviliegiert", sagt Maik.
Und da ist Karolina, 53. Sie geht den anderen Weg. Auch sie sagt, dass sie von den im Parlament vertretenen Parteien enttäuscht sei. "Die haben aus meiner Sicht schlicht vergessen, wo sie herkommen", sagt sie. Für sie heißt das aber nicht in Konsequenz die Flucht aus der Stadt. Stattdessen engagiert sie sich in der Zionskirche für soziale Projekte. Dort könne sie etwas bewegen, wo die Politik nicht aktiv wird. "Aber die Zeit dafür zu haben, muss man sich auch leisten können", sagt sie.
Am Ende bleibt von Mitte ein anderer Eindruck als von Hellersdorf, natürlich. Die Leute haben sich hier nicht aufgegeben. Aber sie haben teils recht klar die Politik aufgegeben. Leisten können sie sich das, weil sie wohl in der Regel Besserverdiener sind. Man kann sich am Rosenthaler Platz bei Latte Macchiato und Croissants ganz gut von dem abschirmen, was die Politik tut oder eben nicht tut. Man kann sich leisten, selbst Lösungen zu schaffen. Doch irgendwie klingt das alles auch nach Demokratie-Detox in Mitte und nicht nach einer guten Dauerlösung.