Im Juni 1991 - "Stimmen Sie mit mir für Berlin": Schäubles historische Rede zur Hauptstadtfrage

Mi 27.12.23 | 13:55 Uhr
  21
Wolfgang Schäuble während seiner Rede zur Hauptstadt-Frage im Juni 1991 im Bundestag. Bild: picture alliance / dpa | Michael Jung
Video: rbb|24 | 27.12.2023 | rbb-Archiv | Bild: picture alliance / dpa | Michael Jung

Als die deutsche Wiedervereinigung geschafft war, musste eine Entscheidung über die künftige Hauptstadt fallen. Am Ende machten 18 Stimmen den Unterschied. Wolfgang Schäuble war als Bundesinnenminister eine der wichtigsten Stimmen für Berlin.

Die Frage, ob Berlin oder Bonn die künftige Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands werden sollte, zählte zu einer der besonders viel diskutierten in der Nachkriegspolitik - unter den damaligen Abgeordneten und in der Öffentlichkeit. Bis zur Abstimmung im Bundestag war nicht klar, auf welche Stadt die Entscheidung fallen würde. Die zwölfstündige Debatte am 20. Juni 1991 wird laut "bundestag.de" von Zeitzeugen als eine "rhetorische Sternstunde" bezeichnet. Das Medieninteresse war groß.

Bonn stand für den Neubeginn nach dem Nationalsozialismus, für die demokratische Bundesrepublik. Außerdem wurden von Pragmatikern und alteingesessenen Westdeutschen die Umzugskosten nach Berlin angeführt. Für Berlin sprach wenig Praktisches, aber die mächtige Symbolkraft im Sinne der Wiedervereinigung. Man muss nur an den Mauerfall denken. Die Symbolkraft stellte auch Wolfgang Schäuble in seiner fast zehnminütigen Rede pro Berlin heraus. Schließlich stimmte der Bundestag mit 338 zu 320 Stimmen für Berlin als künftige Hauptstadt Deutschlands ab. Das Transkript der Rede von Wolfgang Schäuble ist hier anlässlich seines Todes in voller Länge zu lesen:

Wir sind von manchem in den letzen Monaten überrascht worden. Dass wir im vergangenen Jahr die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit erreichen würden, hat uns jedenfalls in der zeitlichen Abfolge gewiss überrascht. Und dass wir danach so sehr über den Sitz von Parlament und Regierung würden ringen, hat mich jedenfalls auch überrascht.

Ich glaube, in den 40 Jahren, in denen wir geteilt waren, hätten die allermeisten von uns auf die Frage, wo denn Parlament und Regierung sitzen werden, wenn wir die Wiedervereinigung haben, die Frage nicht verstanden und gesagt: selbstverständlich in Berlin.

Die Debatte, die wir geführt haben und noch führen, hat natürlich auch dazu beigetragen, dass jeder die Argumente und die Betroffenheit der anderen besser verstanden hat. Auch ich bekenne mich dazu, dass ich die Argumente und die Betroffenheit derer, die für Bonn sind, heute besser verstehe als vor einigen Monaten. Ich will das ausdrücklich sagen und auch meinen Respekt dafür bekunden.

Ich glaube auch, dass es deshalb verdienstvoll war, wenn sich viele – ich auch – bemüht haben, als Grundlage einen Konsens zu finden, um vielleicht zu vermeiden, was bei der einen oder anderen Entscheidung damit notwendigerweise an Folgen verbunden ist. Wir haben den Konsens nicht gefunden. Und auf der anderen Seite ist es vielleicht nun auch gut, dass wir heute entscheiden müssen.

Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.

Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht.

Wolfgang Schäuble am 20. Juni 1991 im Bundestag

Mit allem Respekt darf ich einmal sagen: Jeder von uns – ich wohne ja weder in Bonn noch in Berlin; ich wohne auch nicht in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen, sondern ich wohne ganz im Südwesten an der Grenze zu Frankreich – ist nicht nur Abgeordneter seines Wahlkreises und seines Landes, sondern wir sind Abgeordnete für das gesamte deutsche Volk. Jeder von uns muss sich dieser Verantwortung bewusst sein, wenn er heute entscheidet.

Wir haben die Einheit unseres Volkes im vergangenen Jahr wiedergefunden. Das hat viel Mühe gekostet. Nun müssen wir sie erst noch vollenden. Auch das kostet noch viel Mühe.

Viele haben oft davon gesprochen, dass wir, um die Teilung zu überwinden, zu teilen bereit sein müssen. Das ist wahr. Aber wer glaubt, das sei nur mit Steuern und Abgaben oder Tarifverhandlungen und Eingruppierungen zu erledigen, der täuscht sich. Teilen heißt, dass wir gemeinsam bereit sein müssen, die Veränderungen miteinander zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben.

Deswegen kann auch in den sogenannten elf alten Bundesländern - so alt ist Baden-Württemberg übrigens im Vergleich zu Sachsen nicht - nicht alles so bleiben, wie es war, auch nicht in Bonn und nicht im Rheinland.

Wenn wir die Teilung überwinden wollen, wenn wir die Einheit wirklich finden wollen, brauchen wir Vertrauen und müssen wir uns gegenseitig aufeinander verlassen können. Deshalb gewinnt in dieser Entscheidung für mich die Tatsache Bedeutung, dass in 40 Jahren niemand Zweifel hatte, dass Parlament und Regierung nach der Herstellung der Einheit Deutschlands ihren Sitz wieder in Berlin haben werden.

In diesen 40 Jahren - auch das ist wahr - stand das Grundgesetz, stand die alte Bundesrepublik Deutschland mit ihrer provisorischen Hauptstadt Bonn für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Aber sie stand damit immer für das ganze Deutschland.

Und das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin: von der Luftbrücke über den 17. Juni 1953, den Mauerbau im August 1961 bis zum 9. November 1989 und bis zum 3. Oktober im vergangenen Jahr. Die Einbindung in die Einigung Europas und in das Bündnis des freien Westens hat uns Frieden und Freiheit bewahrt und die Einheit ermöglicht. Aber auch diese Solidarität der freien Welt mit der Einheit und Freiheit der Deutschen hat sich doch nirgends stärker als in Berlin ausgedrückt. Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht.

Deutsche Einheit und europäische Einheit bedingen sich gegenseitig. Das haben wir immer gesagt, und das hat sich bewahrheitet. Meine Heimat, ich sagte es, liegt in der Nachbarschaft von Straßburg. Aber Europa ist mehr als Westeuropa.

Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.

Ich sage noch einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.

Deswegen bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie mit mir für Berlin.

Sendung: rbb24, 27.12.2023, 16:45 Uhr

21 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 21.

    Die Verantwortung für die Nicht-Abstimmung entlang des Grundgesetz-Artikels 146 liegt m. E. zur Hälfte bei der Regierung Kohl und zur anderen Hälfte bei der sichtbar gewordenen Mehrheit der Ostdeutschen. Die Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 ergab eine Mehrheit für die "Allianz für Deutschland", die für einen schnellen Beitritt warb und Kohl nahm die ihm gestreckten Hände willig entgegen.

    Aus einer solch unversouveränen Haltung heraus lässt sich nun mal keine wirkliche Einheit bauen. ;-

    Der vollzogene bloße Beitritt war so gesehen allenfalls der erste Schritt hin zu einer Vereinigung, die bis heute im umfassenden Sinne nicht erfolgt ist. Wolfgang Schäuble war zwar mutig genug darauf hinzuweisen, dass Sachsen älter ist als das angeblich "alte Bundesland" Baden-Württemberg, existierend seit 1952, der gravierende Unterschied zw. Beitritt und Vereinigung blieb jedoch auch ihm fremd.

  2. 20.

    Sie schreiben in Bezug „wirtschaftliches Zentrum“ Unsinn. Aber das passt jetzt nicht, für Sie das zu erläutern. Nur soviel: Es gibt da ein Bundesland, dass hat viel aus dem Finanzausgleich gemacht, dass viel mehr und länger zurückgeben kann als erhalten. Und ich kenne Bundesländer die das nie erreichen. Es liegt an den Einstellungen im Kopf. Und das können Sie nicht entkräften, nur abwählen.

  3. 19.

    Dass es überhaupt zu einer Hauptstadtfrage gekommen ist, hat auch damit zu tun, dass die Kohl-Regierung den Willen des ursprünglichen Grundgesetzes schlichtweg ignorierte. Eigentlich hätte nach gesamtdeutschen Wahlen eine Nationalversammlung eine neue Verfassung für Deutschland beschließen müssen (Artikel 146 des Grundgesetzes vor 1990). Stattdessen wurde die Rheinrepublik nach Osten durch Beitritt gemäß Artikel 23, der ursprünglich nur für das Saarland gemeint war, erweitert und in Bonn hoffte man, dass alles so bleiben könne wie vorher. Die formale Wahl der Hauptstadt war so gesehen für Deutschland nur eine Randnotiz; denn faktisch ist das politische Bonn nur nach Berlin umgezogen und hat dabei alle Probleme der alten BRD bewahrt (wie z. B. Föderalismus, Rolle der Kirchen usw.).

    Wir stünden heute besser da, wenn man den Ruß der Adnenauer-Zeit damals entsorgt hätte.

  4. 18.

    "Bei Bonn gibt es einen Flughafen, der wirtschaftlich betrieben werden kann."

    Unsinn! Bonn mit Berlin zu vergleichen ist absurd. Zumal die Standortentscheidung eine politischen Entscheidung der cDU Politiker Diepgen und Wissmann war, entgegen aller Experisen.

    "Und Berlin als Hauptstadt unterscheidet sich von anderen großen Hauptstädten dadurch, dass es kein wirtschaftliches Zentrum ist. Das liegt an den Einstellungen im Kopf."

    Jetzt wird es noch absurder, Berlin WAR wirtschaftliches Zentrum bis 1945. Dann kam die Berlin Blockade und Mauerbau. Das konnte man auch nicht mit der Berlinzulage ausgleichen. Was ist hier alles abgewandert. Siemens, AEG...

    Und womit? Mit dem Länderfinanzausgleich, von dem Bayern am meisten profitieren konnte.

    Nach der "Wende" begann das Spiel von vorn, mit Bundesmitteln wurde u.a. Herlitz nach Brandenburg gelockt.

  5. 17.

    Bei Bonn gibt es einen Flughafen, der wirtschaftlich betrieben werden kann. Und Berlin als Hauptstadt unterscheidet sich von anderen großen Hauptstädten dadurch, dass es kein wirtschaftliches Zentrum ist. Das liegt an den Einstellungen im Kopf. Herr Schäuble hat ein historisches Wissen und Gespür gegen die praktische Vernunft erfolgreich verwendet.

  6. 16.

    Bonn ist doch noch der "heimliche Hauptstadt"

    Ich denke, wenn der Abstimmung anders verlaufen wäre, gab es später mal wieder eine Abstimmung und es wäre doch am Ende Berlin

    Wieviel kleiner wäre Berlin jetzt als nicht-Hauptstadt?

  7. 15.

    Sie vergessen, dass die vier Besatzungszonen nach der Niederwerfung des NS-Regimes flächenmäßig anders waren: Die US-Amerikaner tauschten Thüringen gegen 60 % von Berlin, sodass Berlin, welches komplett von sowjetischen Truppen eingenommen war, unter der GEMEINSAMEN Verwaltung aller vier Allierten stand.

    Das war keine Nebensächlichkeit: Aus der Unteilbarkeit einer Stadt heraus sollte schließlich auch die Unteilbarkeit eines Landes demonstriert werden. Das ging dann spätestens ab 1961 trotzdem schief. Von der Gesetzeslage aber waren die BEIDEN Teile Berlins nie Teil der mit ihnen kooperierenden Staaten, d. h. weder war West-Berlin ein Teil von Bundesdeutschland, noch war Ost-Berlin ein Teil der DDR, auch wenn gerade letzter Umstand durch den erklärten Hauptstadttitel etwas übertüncht werden sollte.

  8. 14.

    Glaub ich nicht, etliche Orte in Berlin hätten sich auch so zum negativen entwickelt.Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Der Frieden ist mehr als in Gefahr, bei dem was auf der Welt los Ist.Freiheit liegt im Auge des Betrachters und wer was hinnehmen muß.Die Musik aus der anderen Bude hat mit Kindern nix zu tun.Über soziale Gerechtigkei lässt sich mehr als streiten.Die wird es nie geben. Ich möchte in den Urlaub fahren und spare, der andere hat das gleiche und möchte das nicht. Ausser auf Spezialschulen die gleichen Bücher wäre klasse.

  9. 13.

    Ehrlich gesagt, ist es mir als gebürtigem Berliner egal, ob Berlin die Hauptstadt ist oder nicht. Es ist einfach die größte Stadt und alle wollen hin. Wenn Bonn Hauptstadt wäre, wäre es auch nicht anders.

  10. 12.

    Das tut mir leid für Sie. Warum haben Sie und seine Mitarbeiter sich das gefallen lassen? Auch Spitzenpolitiker haben die Menschenwürde anderer zu achten.

  11. 11.

    R.I.P.
    ...und mein herzliches Beileid für seine Angehörigen! Herr Schäuble war ein starker Mensch und daneben auch ein großartiger Politiker.

  12. 9.

    Sind Sie sicher, daß der Umzug der Bundesregierung
    Schuld ist, daß sich Berlin zum Negativen entwickelt hat?

  13. 8.

    Das Berlin nicht mehr das ist was es mal,hat bestimmt nichts mit dem Regierungsumzug zu tun.
    Berlin hat sich selbst politisch und sozial runter gewirtschaftet.

  14. 7.

    Die Bundesregierung hätte in Bonn bleiben können. Berlin hat sich durch den Umzug zum negativen Entwickelt und wir Berliner sind doch gar nicht gefragt worden. Berlin ist nicht mehr das Berlin was es mal war..... alles ist super Teuer geworden und das alte wird durch schicki micki ersetzt, was wenige Berliner gefällt.

  15. 6.

    Die Fehler Merkels sind auch die Fehler von Schäuble. Weder in der Corona-Krise noch in der Zuwanderungspolitik hat er eine auch nur haarfein abweichende Haltung vertreten. Insofern wurde er vom Kohl-Minister zu Merkels Vollstrecker. und ob sich die CDU von Merkel erholen kann, ist offen.

  16. 5.

    Sogar ich als geborener West-Berliner bin immer noch zerrissen bei der Frage, ob Berlin es hätte werden sollen … Danke für diese starke Argumente, Herr Schäuble … Danke … Es ist nach wie vor so viel Wahres darin, dass es mich „versöhnt“ … Und es zeigt die Weitsichtigkeit und Besonnenheit dieses Mannes, die damals von unfassbarer Größe war … und ist !

  17. 4.

    Ich habe in der Bundestagsverwaltung gearbeitet und ich kannte diesen Schäuble seine Mitarbeiter wurden von ihm angebrüllt auch wir wurden respektlos behandelt ich weine ihn keine träne nach

  18. 3.

    Ein ganz Großer hat uns für immer verlassen! RIP

  19. 2.

    Respekt für Herrn Schäuble.
    Nur mit der Berlinentscheidung lag er leider falsch. Berlin als Sitz des Bundespräsidenten ja, aber mit dem diesem irrwitzigen Umzug des Moloch Bundestag wurde vieles in Berlin schlimmer.

Nächster Artikel