Im Juni 1991 - "Stimmen Sie mit mir für Berlin": Schäubles historische Rede zur Hauptstadtfrage
Als die deutsche Wiedervereinigung geschafft war, musste eine Entscheidung über die künftige Hauptstadt fallen. Am Ende machten 18 Stimmen den Unterschied. Wolfgang Schäuble war als Bundesinnenminister eine der wichtigsten Stimmen für Berlin.
Die Frage, ob Berlin oder Bonn die künftige Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands werden sollte, zählte zu einer der besonders viel diskutierten in der Nachkriegspolitik - unter den damaligen Abgeordneten und in der Öffentlichkeit. Bis zur Abstimmung im Bundestag war nicht klar, auf welche Stadt die Entscheidung fallen würde. Die zwölfstündige Debatte am 20. Juni 1991 wird laut "bundestag.de" von Zeitzeugen als eine "rhetorische Sternstunde" bezeichnet. Das Medieninteresse war groß.
Bonn stand für den Neubeginn nach dem Nationalsozialismus, für die demokratische Bundesrepublik. Außerdem wurden von Pragmatikern und alteingesessenen Westdeutschen die Umzugskosten nach Berlin angeführt. Für Berlin sprach wenig Praktisches, aber die mächtige Symbolkraft im Sinne der Wiedervereinigung. Man muss nur an den Mauerfall denken. Die Symbolkraft stellte auch Wolfgang Schäuble in seiner fast zehnminütigen Rede pro Berlin heraus. Schließlich stimmte der Bundestag mit 338 zu 320 Stimmen für Berlin als künftige Hauptstadt Deutschlands ab. Das Transkript der Rede von Wolfgang Schäuble ist hier anlässlich seines Todes in voller Länge zu lesen:
Wir sind von manchem in den letzen Monaten überrascht worden. Dass wir im vergangenen Jahr die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit erreichen würden, hat uns jedenfalls in der zeitlichen Abfolge gewiss überrascht. Und dass wir danach so sehr über den Sitz von Parlament und Regierung würden ringen, hat mich jedenfalls auch überrascht.
Ich glaube, in den 40 Jahren, in denen wir geteilt waren, hätten die allermeisten von uns auf die Frage, wo denn Parlament und Regierung sitzen werden, wenn wir die Wiedervereinigung haben, die Frage nicht verstanden und gesagt: selbstverständlich in Berlin.
Die Debatte, die wir geführt haben und noch führen, hat natürlich auch dazu beigetragen, dass jeder die Argumente und die Betroffenheit der anderen besser verstanden hat. Auch ich bekenne mich dazu, dass ich die Argumente und die Betroffenheit derer, die für Bonn sind, heute besser verstehe als vor einigen Monaten. Ich will das ausdrücklich sagen und auch meinen Respekt dafür bekunden.
Ich glaube auch, dass es deshalb verdienstvoll war, wenn sich viele – ich auch – bemüht haben, als Grundlage einen Konsens zu finden, um vielleicht zu vermeiden, was bei der einen oder anderen Entscheidung damit notwendigerweise an Folgen verbunden ist. Wir haben den Konsens nicht gefunden. Und auf der anderen Seite ist es vielleicht nun auch gut, dass wir heute entscheiden müssen.
Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.
Mit allem Respekt darf ich einmal sagen: Jeder von uns – ich wohne ja weder in Bonn noch in Berlin; ich wohne auch nicht in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen, sondern ich wohne ganz im Südwesten an der Grenze zu Frankreich – ist nicht nur Abgeordneter seines Wahlkreises und seines Landes, sondern wir sind Abgeordnete für das gesamte deutsche Volk. Jeder von uns muss sich dieser Verantwortung bewusst sein, wenn er heute entscheidet.
Wir haben die Einheit unseres Volkes im vergangenen Jahr wiedergefunden. Das hat viel Mühe gekostet. Nun müssen wir sie erst noch vollenden. Auch das kostet noch viel Mühe.
Viele haben oft davon gesprochen, dass wir, um die Teilung zu überwinden, zu teilen bereit sein müssen. Das ist wahr. Aber wer glaubt, das sei nur mit Steuern und Abgaben oder Tarifverhandlungen und Eingruppierungen zu erledigen, der täuscht sich. Teilen heißt, dass wir gemeinsam bereit sein müssen, die Veränderungen miteinander zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben.
Deswegen kann auch in den sogenannten elf alten Bundesländern - so alt ist Baden-Württemberg übrigens im Vergleich zu Sachsen nicht - nicht alles so bleiben, wie es war, auch nicht in Bonn und nicht im Rheinland.
Wenn wir die Teilung überwinden wollen, wenn wir die Einheit wirklich finden wollen, brauchen wir Vertrauen und müssen wir uns gegenseitig aufeinander verlassen können. Deshalb gewinnt in dieser Entscheidung für mich die Tatsache Bedeutung, dass in 40 Jahren niemand Zweifel hatte, dass Parlament und Regierung nach der Herstellung der Einheit Deutschlands ihren Sitz wieder in Berlin haben werden.
In diesen 40 Jahren - auch das ist wahr - stand das Grundgesetz, stand die alte Bundesrepublik Deutschland mit ihrer provisorischen Hauptstadt Bonn für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat. Aber sie stand damit immer für das ganze Deutschland.
Und das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin: von der Luftbrücke über den 17. Juni 1953, den Mauerbau im August 1961 bis zum 9. November 1989 und bis zum 3. Oktober im vergangenen Jahr. Die Einbindung in die Einigung Europas und in das Bündnis des freien Westens hat uns Frieden und Freiheit bewahrt und die Einheit ermöglicht. Aber auch diese Solidarität der freien Welt mit der Einheit und Freiheit der Deutschen hat sich doch nirgends stärker als in Berlin ausgedrückt. Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht.
Deutsche Einheit und europäische Einheit bedingen sich gegenseitig. Das haben wir immer gesagt, und das hat sich bewahrheitet. Meine Heimat, ich sagte es, liegt in der Nachbarschaft von Straßburg. Aber Europa ist mehr als Westeuropa.
Deutschland, die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.
Ich sage noch einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.
Deswegen bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie mit mir für Berlin.
Sendung: rbb24, 27.12.2023, 16:45 Uhr