Exklusive Daten | #abgasalarm Leipziger Straße - Luftbelastung durch Tempo 30 nur minimal gesunken
Mit Tempo 30 in der Leipziger Straße will der Berliner Senat Fahrverbote verhindern. Messungen von rbb|24 und TU zeigen aber: Im ersten Monat des Tempolimits sind die Stickstoffdioxid-Werte kaum gefallen. Auch die Verkehrsverwaltung hält es für "unwahrscheinlich", dass der Grenzwert bald eingehalten wird.
Nach der Einführung von Tempo 30 auf der Leipziger Straße ist dort die Luftbelastung mit Stickstoffdioxid nur minimal gesunken. Das zeigen Messdaten von rbb|24 und Technischer Universität Berlin aus dem ersten Monat des Tempolimits. Der Grenzwert, der bereits seit acht Jahren eingehalten werden müsste, wird weiterhin überschritten.
Seit Langem zeigen Messungen der Senatsverwaltung Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, dass nirgendwo in Berlin die Belastung mit Stickstoffdioxid höher ist wie in der Leipziger Straße. Mit 63 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft (µg/m3) lag die mittlere Belastung dort im Jahr 2017 weit über dem Grenzwert. Zulässig sind europaweit 40 µg/m3 im Jahresmittel.
Seit dem 9. April experimentiert die Senatsverwaltung in der Leipziger Straße mit Geschwindigkeitsbegrenzungen: Auf einem 1,2 Kilometer langen Abschnitt zwischen Markgrafenstraße und Potsdamer Platz müssen Autos Tempo 30 fahren. Zum Start der Aktion erklärte Umweltsenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne), Ziel sei die Gesundheit der Bürger zu schützen - "und gleichzeitig Fahrverbote zu vermeiden". Ein Jahr lang soll untersucht werden, wie sich das Tempolimit auf die Luftqualität auswirkt.
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Doch die Zeit drängt: Spätestens im Herbst soll das Berliner Verwaltungsgericht darüber entscheiden, ob das Land ausreichende Maßnahmen gesetzt hat, um den Grenzwert einzuhalten.
rbb|24 und Technische Universität Berlin haben - wie bereits im Herbst 2017 für eine stadtweite #abgasalarm-Messung - die Stickstoffdioxid-Werte (NO2) in der Leipziger Straße gemessen und analysiert. Das Ergebnis: Im ersten Monat nach der Einführung von Tempo 30 in der Leipziger ist die Belastung in der 30er-Zone zurückgegangen - allerdings nur geringfügig.
Bei der neuen #abgasalarm-Messung mit acht Passivsammlern wurden im Schnitt 65,9 Mikrogramm in der 30er-Zone gemessen - mit Ausreißern nach unten (43,8 µg/m3 nahe des Leipziger Platzes) und nach oben (90,7 µg/m3 in der engen Straßenschlucht im Bereich der Leipziger Straße 127). [Karte in eigenem Fenster]
Standort und Ergebnis von insgesamt zehn Messpunkten (acht rbb|24 & TU / zwei Land Berlin):
Die Messungen zeigen allerdings nur eine Momentaufnahme. Die Belastung kann beispielsweise durch Wettereinflüsse oder Staus schwanken, was den Mittelwert bei einem kürzeren Messzeitraum stärker beeinflusst. Auch halten Autofahrer in neuen Tempo-30-Zonen die Geschwindigkeit erfahrungsgemäß erst nach einigen Monaten halbwegs korrekt ein. Fahrzeuge weichen zudem laut Senatsverwaltung schon jetzt auf andere Straße aus - in Richtung Potsdamer Platz im geringen Maß über die Französische Straße und die Straße Unter den Linden.
Wolfgang Frenzel von der TU Berlin betont aber: "Die Messungen sind aussagekräftig." Er sagte rbb|24: "Wir messen mit mehreren Sammlern an einer Messstelle und haben ein relativ dichtes Messstellenetz, so dass wir nicht einen einzelnen Wert herauspicken."
Dass die Stickstoffdioxidwerte in der Tempo-30-Zone der Leipziger Straße bisher kaum gefallen sind, zeigen zudem offizielle Werte: Seit Jahresanfang werden dort Daten mit einem Messbus erhoben; geparkt ist er vor der bulgarischen Botschaft, Leipziger Straße 21. Das Land misst zudem seit mehreren Jahren im Bereich Leipziger Straße 32 mit einem Passivsammler (das ist die Messmethode, die auch TU Berlin und rbb einsetzen).
rbb|24 hat die Messergebnisse des Landes, bisher weitgehend unveröffentlicht, ausgewertet. Auch diese Daten legen nahe: Tempo 30 hat bisher keinen nennenswerten Effekt.
Die exakten stündlichen Messungen durch den Messbus ergeben von Jahresanfang 2018 bis zum 8. April eine Stickstoffdioxid-Belastung von 53,4 Mikrogramm. Im Monat nach der Einführung von Tempo 30 am 9. April 2018 lag die Belastung bei 52,9 Mikrogramm - und damit nur circa ein Prozent niedriger. Nach der Messung des landeseigenen Passivsammlers hat sich die Luftqualität sogar verschlechtert.
Die Senatsverwaltung will die Daten erst nach einem Jahr bewerten. Matthias Tang, Sprecher der Senatsverwaltung Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, kritisiert die #abgasalarm-Messung, sie sei "aus methodischen und messtechnischen Gründen nicht geeignet, den grenzwertrelevanten NO2-Jahresmittelwert oder die Wirksamkeit der Einführung von Tempo-30 an der Leipziger Straße zu beurteilen."
Die vorliegenden Daten werfen allerdings schon jetzt die Frage auf: Ist Tempo 30 wirklich das Mittel der Wahl, um den Grenzwert von 40 µg/m3 an der Leipziger "schnellstmöglich" einzuhalten? Und eine schnelle Einhaltung hat das Bundesverwaltungsgericht im Februar in einer Grundsatzentscheidung verlangt - hier ging es um die schlechte Luft in Düsseldorf und Stuttgart.
Nach den Messungen von rbb|24 und TU bilanzierte Umweltexperte Frenzel bereits: Sollte das Verkehrsaufkommen gleich bleiben und sich die Autofahrer keine Schleichwege suchen - "dann glaube ich nicht, dass man von den über 60 Mikrogramm auf unter 40 kommen wird. Das ist nicht realistisch."
Und sogar die Verkehrsverwaltung hat bereits eingeräumt, dass es an der Leipziger Straße allein mit Tempo 30 wohl nicht getan ist: "Dass an der Leipziger Straße die Verstetigung des Verkehrs dazu führt, den Grenzwert einzuhalten, ist unwahrscheinlich", teilte Pressesprecher Tang mit. Effektiv muss der Wert an dem NO2-Hotspot aber um 23 µg/m³ runtergehen. Die Senatsverkehrsverwaltung erwartet aber nach eigenen Angaben eine Reduzierung von NO2 um rund sechs Mikrogramm - ein Wert, der sich schon in einer Studie der Behörde von 2013 findet.
Große Pläne - aber keine schnelle Lösung
Natürlich könnten auch andere Maßnahmen die Schadstoffwerte drücken - Berlin hat sich dazu bereits einen 10-Punkte-Plan gesetzt: spezielle Filter für Diesel-Busse, Anschaffung von E-Bussen, Umrüstung von Taxen auf Hybrid-Elektro. Dazu kommen Software-Updates bei Diesel-Autos. Langfristig sollen Radwege und der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden.
Doch ein Teil der Maßnahmen, wie die Umstellung auf E-Mobilität, läuft nur schleppend an. Und auf Hilfe vom Bund kann Berlin auch nicht bauen: Flächendeckende Hardware-Nachrüstungen, wie vom Senat gefordert, gibt es bisher nicht. Eine "Blaue Plakette" lehnt die Bundesregierung ab.
Rechnerisch ist es extrem unwahrscheinlich, dass der Grenzwert auf der Leipziger Straße 2018 eingehalten wird: Dafür müssten von jetzt an alle Monatsmittel unter 31 µg/m³ liegen. Allein Fahrverbote würden vermutlich zum Ziel führen. "Mit einer selektiven Straßensperrung für ältere Diesel-Fahrzeuge kann man an einer betroffenen Straße den Grenzwert sehr schnell einhalten", sagte Gernot Liedtke, Verkehrsforscher beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, im Interview mit rbb|24.
Und Berlin dürfte auch: Bundesverwaltungsgericht erlaubte Fahrverbote bereits im Februar, um die 40-Mikrogramm-Schwelle so schnell wie möglich zu erreichen.
Die Senatsverkehrsverwaltung nimmt sich jedoch Zeit. "Der Umbau der Verkehrsinfrastruktur wird (...) einige Zeit in Anspruch nehmen", hieß es. Sollten die geplanten Maßnahmen "bis dahin" nicht dazu führen, dass die Grenzwerte an der Leipziger Straße eingehalten werden, "dann wird es auch in Berlin Fahrverbote geben", so Sprecher Tang. "Wie und wo gilt es in den kommenden Monaten zu prüfen."
Im September wird der Berliner Senat dem hiesigen Verwaltungsgericht plausibel erklären müssen, wie er die EU-Grenzwerte einhalten will. Dann wird die Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen das Land Berlin verhandelt. Die Richter werden sich voraussichtlich genau anschauen, ob die Berliner Maßnahmen wirksam sind - oder ob es sich um Placebos handelt. So war es in Düsseldorf, so war es in München - und in Hamburg ebenso. Der dortige Senat hat inzwischen Fakten geschaffen: Seit Ende Mai gilt dort bereits ein Diesel-Fahrverbot in zwei Straßen.
Sendung: Abendschau, 12.06.2018, 19.30 Uhr
Projektbeteiligte bei rbb|24:
Daten & Recherche: Dominik Wurnig, Robin Avram
Text/Video: Dominik Wurnig, Friederike Steinberg, Robin Avram
Grafik: Martina Springmann, Manuel Reich
Redaktion: Friederike Steinberg